4

Ein ozeanisches Gefühl

Als Sophie klein war, dachte sie, die Erde drehe sich, weil sie sie mit ihren kleinen Schritten antrieb. So lief sie fröhlich und immer schneller über die Wiese, schleuderte ihre kleinen Füße nach vorne – und bewegte die Welt. Wenn sie sich dann auf die Wiese legte und in den Himmel sah, eilten dort die Wolken vorbei, und Sophie spürte die Ruhe der Welt unter sich, die nun stillstand und ihr Zeit schenkte, die Wolken zu beobachten, wie sie zu Tieren wurden und miteinander spielten. Die Welt war wunderbar und voller großartiger Verlockungen. Es gab nichts, was sie aufhalten konnte, nicht einmal der Bruder Sebastian, der sie oft ärgerte, aber genauso oft der geliebte große Bruder war, der schützend seine Hand über sie hielt.

Es war schön und kostbar gewesen, diese feste Überzeugung, dass sie die Welt bewegte und nicht die Welt sie.

Sophie konnte sich gut an einen Ausflug mit ihren Eltern erinnern. Sie waren rüber nach Überlingen gefahren und von dort weiter zum Affenberg. Die possierlichen Tiere hatten sich an die Menschenmassen gewöhnt, die in Entzückungsschreie ausbrachen, wenn die Affen sich auf einem Holzgeländer näherten, um Futter zu erhaschen. Bewegten sie auch die Welt? Aber wie entschied die Welt, in welche Richtung sie sich drehen sollte? Und liefen die anderen dann rückwärts oder fielen gar um? Sophie kamen erste Zweifel. Auch an der Tatsache, dass die Affen sich über den menschlichen Besuch freuten. Zwar wollte sie wie die meisten anderen Kinder einen Affen mit nach Hause nehmen, doch nicht, um ein Kuscheltier zu gewinnen, sondern eher, um einen Affen zu retten. Und was war nun mit der Welt?

Vieles zerbrach, wenn man erwachsen wurde, wenn man Zusammenhänge begriff, wenn man lernte, dass alles irgendwann aufhörte. Nur nicht die Welt, die würde sich immer weiterdrehen. Als Sophie das begriff, wusste sie nicht, worüber sie trauriger war – dass sie nichts bewegte oder dass alles weiterging, auch wenn sie gar nicht mehr da wäre.

Als eine ihrer Katzen, die kleine schwarze Lucy, irgendwann nicht mehr nach Hause kam, hatte Sophie plötzlich Angst zu verschwinden. Einen ganzen Sommer lang ging das so. Verrückt. Die Großmutter hatte versucht, sie zu trösten:

»Schlimme Dinge passieren nicht in schönen Jahreszeiten. Sie passieren im Winter.«

Na dann. Ein schwacher Trost, fand die kleine Sophie, die voller Sorge die Blätter auf den Bäumen beobachtete, ob sie schon erste Farben des Herbstes zeigten. Dann löste sich die Angst zu verschwinden plötzlich in Luft auf und wurde von einer anderen, wesentlich größeren Angst abgelöst: Es war die Angst vor der Dauer des Fortseins.

Müssen wir alle sterben?

Ja, Sophie, das müssen wir.

Wie lange sind wir dann tot?

Für immer.

Für immer? Wie soll das gehen? Irgendwer muss doch zurückkommen, sonst ist ja irgendwann niemand mehr da.

Es kommen doch immer neue Menschen.

Wir sind dann für immer fort? Aber wo ist denn so viel Platz? Wo ist denn »fort«?

Tagelang hatte Sophie sich schlecht gefühlt nach dieser Erkenntnis, in welcher der Begriff »Endlichkeit« erstmals ihre kindliche Wahrnehmung gekreuzt hatte. Tagelang war sie im Garten herumgeirrt, hatte lustlos die Brombeeren geerntet und Kastanien gesammelt und voller Sorge den Winter erwartet. Für immer fort.

Sophie meldete sich am nächsten Tag im Büro ab, sodass sie bereits am Mittwoch nach Konstanz fahren konnten. Nadja, die Kollegen, vor allem auch Markus reagierten verständnisvoll. Er wiederholte sein Angebot zu einem privaten Treffen, gerade jetzt, falls sie jemanden zum Reden … Eine Umarmung wäre schön, Halt, Zuversicht, dachte sie und erklärte, dass sie einfach nur nach Konstanz, nach Hause wolle, und war doch innerlich zerrissen.

Wozu die Eile?

Verdrängen.

Die Wahrheit verschwindet nicht, nur weil du sie später zulässt.

Wahrheit ist relativ.

Marlene hatte noch nicht begriffen, was passiert war. Sie war viel zu aufgeregt, dass sie mit den Meerschweinchen auf Reisen gingen. Sophie selbst fühlte sich wie unter einer Watteschicht. Dumpf all die Geräusche um sie herum, der Espressokocher, der blubberte, der Wasserkocher, der zischte, die Kühlschranktür, die seit Wochen quietschte. All das war irgendwo, nur nicht in Sophies Leben. Sie packte eine kleine Reisetasche für sich und einen Kinderkoffer für Marlene, einen Pinguinkoffer mit einem quiekenden Schnabel.

»Pingi muss auch mit!«, rief Marlene.

»Ich packe ihn gerade.«

Ihre Tochter stand vor ihr und rollte mit den Augen. »Was du packst, ist Pingu. Der Rucksack heißt Pingi. Der muss auch mit. Ich packe da Stofftiere rein.«

»Gut, pack Pingi und stell ihn an die Tür, okay?«

»Okay.«

Schweigen. Sophie stand da und brach in Tränen aus. Sie wusste nicht, wohin mit sich. Marlene kam und schlang ihre Arme um sie.

»Nicht weinen, Mama«, flüsterte sie.

Sophie hob ihre Tochter hoch und drückte sie fest an sich.

Ein paar Stunden später fuhren sie auf Konstanz zu und zurück in ein Leben, das Sophie nicht ohne ihre Eltern kannte.

Es war nicht die schönste Art und Weise, nach Konstanz zu reisen, von der Autobahn Stuttgart kommend durch die vielen Baustellen und das Industriegebiet. Die schönste Anreise hatte man definitiv über die Fähre von Meersburg, wenn man sich den Duft des Bodensees mit dem Fahrtwind um die Nase wehen lassen konnte, ein paar Möwen im Blick. Statt der Möwen sah Sophie einen Wald aus Hinweisschildern und Ampeln, gleichwohl spürte sie ein ungewohntes Ziehen in ihrer Brust, als sie an der Reichenau vorbeifuhr.

Sie erreichten den Stadtteil Königsbau. Ihre Eltern hatten bis zuletzt gehofft, dass sie irgendwann mit Marlene zurückkehren würde, wo doch der Sohn schon so unendlich weit entfernt in den USA lebte. Sie fuhr langsamer, hinter ihr hupte ein Fahrer. Zeit bringen zwischen sich und die Gegenwart. Konnte man die Zeit verlangsamen?

Einfach nicht mehr weiterlaufen, dann bleibt doch auch die Welt stehen, oder?

Marlene fütterte auf der Rückbank die Meerschweinchen Nils, Krümel und Gustav, hatte schon wieder vergessen, wer Krümel und wer Gustav war, und sich auch zweimal versprochen wegen der Großeltern.

Oma und Opa werden staunen, wenn wir … Oh, entschuldige, Mama.

Es fällt mir auch schwer zu begreifen, dass sie nicht mehr da sein werden.

Sophie schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals und die Tränen an, die wie letzte Nacht mächtiger waren als sie. Marlene war in ihren Armen eingeschlafen, und immer wenn Sophie gedacht hatte, auch endlich einschlafen zu können, hatten Erinnerungsfetzen sie wachgerüttelt. Einmal hatte sie geglaubt, ihre Mutter säße bei ihr am Bett.

Zwei Straßen noch, dann wäre sie bei ihrem Elternhaus im Königsbau, wo sie mit ihrem großen Bruder im Garten geschaukelt und mit Katrin einige unheimliche Nächte im Zelt verbracht hatte. Nach einem Seenachtsfest hatten sie eine Zigarette geraucht, und beiden war ihnen schlecht geworden. Grillabende mit den Eltern und Großeltern. Mit Tante Barbara und Onkel Hans. Die Großeltern. Die Oma war schon seit fünfzehn Jahren tot. Jetzt auch die Eltern. Als Nächstes würde der Großvater …

Nicht denken, Sophie, nicht denken.

Nein, sie konnte noch nicht nach Hause.

Die Oktobersonne zeigte sich großzügig. Sophie bog in Richtung Raiteberg ab und parkte kurzerhand. Sie stieg aus, befreite Marlene aus ihrem Kindersitz und lief in Richtung der Weinberge.

»Was machen wir, Mama?«

»Wir besteigen jetzt einen Berg und besuchen den Bismarckturm. Das habe ich mit meinen Eltern oft gemacht. Am Abend zum Picknick.«

»Aha.« Marlene sah den Anstieg nach oben. »Das sieht weit aus.«

»Ach, Quatsch. Komm, Süße, das schaffen wir locker. Es sind nur ein paar Höhenmeter, und von oben hat man einen ganz tollen Blick über Konstanz, wirst sehen. Der Turm ist auch toll.«

»Na gut«, seufzte Marlene und ließ sich überreden.

Nach einem kurzen Anstieg erreichten sie den Platz vor dem zu Ehren des Reichsgründers errichteten Turm.

»Ui«, sagte Marlene beeindruckt, als sie vor den vier Säulen an der Eingangsseite standen und sie die zweiundzwanzig Meter nach oben blickte. »Wohnt der Bismarck da noch drin? Heißen so nicht die Fische vom Großvater?«

Sophie musste lachen. »Stimmt. Aber die sind nicht der Namensgeber, das war ein Staatsmann.«

»Was ist ein Staatsmann?«

»Ein Politiker.«

»Ach so«, antwortete Marlene wichtig und kräuselte ihre Nase. »Können wir rein?«

»Leider nicht«, sagte Sophie und wollte sich mit Marlene auf die Mauer setzen, doch ihre Tochter hatte das rote Wippetier entdeckt und zerrte jetzt an ihrer Hand.

»Darf ich, Mama?«

»Na klar«, sagte Sophie und ließ die kleine Hand los, die eine feuchtwarme Erinnerungsspur in ihrer Hand hinterließ. Sophie setzte sich auf die Mauer, sodass sie sich anlehnen konnte, und stellte ein Bein nach oben. Tief atmete sie ein und aus, ließ den Blick über die Stadt gleiten, suchte nach den Ecken ihrer Kindheit und Jugend.

Das vierzehnstöckige Telekom-Hochhaus am Zähringerplatz trat gewohnt mächtig ins Bild, und auch wenn das Gebäude inzwischen zu Wohnraum umgebaut worden war, schön war das nicht. Dafür war die Fernsicht gut, die Berge waren klar zu erkennen, an vielen Stellen schon von Schnee bedeckt. Davor lagen die Hügellandschaft der anderen Landseite und der See. Allmählich wurde Sophie ruhiger. Von Marlene drang ein zufriedenes Summen an ihr Ohr. Ein Lied kam ihr in den Sinn, eines, das sie oft schon gehört hatte, weil sie die Stimme des Sängers so liebte, das nun aber eine völlig neue Bedeutung für sie bekam. Henning May von AnnenMayKantereit, der über das »ozeanische Gefühl« sang. Ihr war, als klängen diese Zeilen über den Betonsockel des Turmes hinweg, weit in die Ferne, fort von dieser Anhöhe über der kleinen Stadt am Bodensee. Ein ozeanisches Gefühl, eines, das alles andere zu überdecken vermochte, das Weite und ein breites Rauschen schenkte.

Es war da.

In ihr.

»Mama, Mama, Mama.« Marlene hatte sich angeschlichen und schlang ihr jetzt die Arme um die Schultern. »Willst du auch mal schaukeln?«

»Nein, Süße, ich glaub, das würde dem Tier nicht gefallen.«

»Och«, meinte Marlene enttäuscht und drückte ihrer Mutter einen feuchten Kinderkuss auf die Wange. Sie sah über die Stadt hinweg. »Wie hoch sind wir hier?«

»Nicht so hoch. Vielleicht vierhundertfünfzig Meter.«

Marlene machte große Augen. »Nur? Ich fand den Berg ganz schön lang.« Sie ließ ihre Augen über die Stadt wandern. »Von hier ist der See gar kein Meer.«

Sophie lachte. »Nein, kein Meer.«

»Von hier oben ist er nur ein Seelein.« Marlene kicherte. »Und wenn man fliegt, dann ist der See nur noch eine Pfütze, nicht wahr?«

»Alles ist dann ganz klein. Du bist dann nur noch eine Ameise.« Sophie tippte ihrer Tochter auf die Nasenspitze. »Komm, lass uns …« Sie schluckte den Rest des Satzes herunter. »Nach Hause gehen, zu den Eltern«, hatte sie sagen wollen und war über die Realität gestolpert.

An den Rebstöcken, durch die der Weg vom Raiteberg hinab ins Wohngebiet führte, hingen noch vereinzelt ein paar Trauben. Je weiter sie sich vom Bismarckturm entfernten, desto schwerer fielen Sophie die Schritte, die sie unweigerlich in die Gegenwart führen sollten, gleichwohl fand sie keinen Grund mehr, die Heimkehr aufzuschieben. Tante Barbara und der Großvater erwarteten sie.

Auf halber Höhe kam ihnen ein Mann entgegen, der einen Hund an der Leine führte und einen Hut trug. Auch Sophies Vater hatte gern Hüte getragen. Ein Mann mit Hut und Hund inmitten der verlassenen Weinberge an einem zur Neige gehenden Tag. Als ihre Wege sich kreuzten, lächelte er Sophie an und fragte dann Marlene mit einem Blick zum Turm: »Lohnt es sich denn?«

Marlene machte große Augen und drückte Sophies Hand ein wenig fester. »Total«, sagte sie dann und fügte hinzu: »Vor allem das Wippetier, aber Mama meinte, sie wär zu schwer dafür.«

Sophie verdrehte die Augen. Ihre Tochter konnte nie eine einfache Antwort geben. Aber der Mann lachte. Ein Lachen, das sich so nahtlos zu seinem braun gebrannten Gesicht und dem Sonnenhut fügte, dass Sophie warm ums Herz wurde. Ein paar Sekunden sahen sie einander an, und eine Stimme in Sophie flüsterte: Los, sag was. Sag was, schlau oder lustig, egal, sag was. Doch Sophie sagte nichts. Sie hatte nur Augen für den Hut und die vielen anderen Bilder, die sich vor ihr auftürmten wie der Bismarckturm in ihrem Rücken.

»Na, dann mache ich mich mal auf den Weg«, sagte der Mann und zog an der Leine. Ein zotteliger grauer Hund trabte müde weiter.

Sophie sah dem Mann nach, spürte noch seinen Blick auf sich ruhen, verfolgte seinen aufrechten und doch weichen Gang. Er wirkte federleicht, sein Gang, als wäre er im Urlaub und hätte alle Zeit der Welt. Und keine Trauer, die ihn niederdrückte. Sie blies die Luft aus, die sie angehalten hatte.

»Viel Spaß!«, rief ihre Tochter.

Er sah kurz zurück und winkte.

Unschlüssig hob Sophie die Hand, dann zog sie Marlene schnell weiter. Sie war aufgewühlt, spürte, dass ihr Gang ganz und gar nicht federleicht aussehen würde für einen Beobachter, eher kam es ihr so vor, als wäre jeder Schritt eine Anstrengung, als liefe sie auf Treibsand und sänke mit jedem Schritt ein wenig tiefer ein.

»Hab dich lieb, Mama«, sagte Marlene leise. Ganz still lief sie neben ihrer Mutter her und fügte hinzu: »Ich geh nie und nimmer von dir weg.« Und dann drückte die kleine Kinderhand ganz fest die Hand der Mutter.

Und ließ sie auch nicht los, als sie den Weg zum Haus liefen, schweigend den Großvater, Tante Barbara und deren Mann Hans umarmten und die Jacken im Flur an die Garderobe neben die Jacken der Eltern hängten. Auch Schuhe standen im Flur, die nie wieder gebraucht wurden. Sophie hatte das Gefühl, das Haarshampoo ihrer Mutter zu riechen, ein frühlingshafter Duft mit einem Hauch von Flieder. So standen sie alle im Flur, hilflos schweigend, und Marlene hielt die Hand ihrer Mutter, um nicht verloren zu gehen in so viel leerem Raum.

»Ich mach uns Tee«, sagte Barbara und klatschte in die Hände. Das Zeichen zur Auflösung der starren Gruppe. »Setzt euch, setzt euch. Ich hab auch Kuchen gebacken. Komm, Marlene, du kannst mitkommen«, ihr Blick fiel auf das Kind, das noch ein wenig näher an Sophie heranrückte. »Oder du bleibst erst einmal bei deiner Mama.«

Marlene nickte mit großen Augen. Selten hatte Sophie ihre Tochter so kleinlaut erlebt. Nachdenklich sah sie aus, die Stirn in Falten gelegt, den Reisekäfig mit den Meerschweinchen an sich gedrückt.

Hans lächelte ihr freundlich zu und nahm ihr den Käfig ab. »Der ist doch sicher schwer. Ich bring die drei mal in ihr Ferienhaus.« Er nahm den Käfig und ließ ihn ein wenig in die Tiefe sinken. »Ui, sehr schwer sogar. Du fütterst die sicher gut.«

Marlene nickte stolz und drückte wieder Sophies Hand.

Der Großvater lief ins Esszimmer, das unmittelbar ins Wohnzimmer überging, wo Feuer in einem großen Kamin einladend loderte und zur anderen Seite eine Fensterfront den Blick in den Garten freigab. Gemütlichkeit und Weitsicht, Bilder an der Wand, ein Ölgemälde und mehrere Aquarelle von Künstlern aus der Region, Blumen auf dem Tisch und dem Couchtisch, bunte Bücher in den Regalen, schöne Deko auf Beistelltischen und der Fensterbank – und dennoch wirkte der Raum wie ausgestorben, als wäre er seit Jahren unbewohnt, was nicht stimmte. Sophie roch den Duft der Lilien und das alte Holz der Dielen und sah, dass die Pflanzen am Fenster durstig waren. Der große Benjamin ließ die kleinen Zweige hängen, und am Boden lagen schon zahlreiche gelb verwelkte Blätter. Sophie sah sich suchend nach der kleinen roten Gießkanne ihrer Mutter um und entdeckte einige Staubflusen. Die Zeit hatte tief eingeatmet und das Leben aus diesem Zimmer gesogen. Sophie ging mit Marlene an der Hand zu einem der Fenster und riss es auf.

»Entschuldigt, ich brauche …«

Barbara kam mit einem großen Tablett zurück. In der Mitte des Tisches landete ein üppig belegter Pflaumenkuchen. Hans half ihr beim Verteilen der Tassen und Teller, und das Scheppern durchschnitt wohltuend die Stille. Im Hintergrund waren die Meerschweinchen zu hören, und auch dieses Geräusch war angenehm.

»Das sind Pflaumen von unseren Bäumen«, sagte Barbara und reichte Marlene die Schüssel mit der Sahne.

»Gute Ernte«, sagte Hans und nahm schnell ein großes Stück in den Mund. Er sprach nicht gern, aber er wollte Barbara zu Hilfe eilen, das war offenkundig. Wie zuvor schon mit den Meerschweinchen. Gerade war ein hohes Pfeifen zu hören. Er grinste. »Karotten gefunden«, sagte er zu Marlene.

»Ja, das war eine gute Ernte.« Barbara hielt Sophie die Schüssel mit Sahne hin. »Komm, Sophie, nimm auch ein wenig, du bist so blass.«

»Sie braucht einen Schnaps«, bestimmte der Großvater und stand auf. Wenig später brachte er einen Birnenschnaps und schenkte vier Gläser voll.

Sophie trank, ohne darüber nachzudenken. Sofort breitete sich eine ungewohnte Hitze in ihrem Magen aus.

»Puh.« Barbara schüttelte sich nach der Hälfte des Glases. Hans atmete hörbar aus.

»Auch eigene Ernte«, sagte der Großvater.

Alle sahen ihn an. Und da mussten Sophie und Barbara plötzlich lachen. Der Großvater schenkte nach und hielt das Glas hoch. »Auf die Ernte.«

»Und auf die Schweine«, flötete Marlene, ermutigt von dem Stimmungswandel. »Also die kleinen, die aus dem Wasser, die …« Sie zog ihre Stirn in Falten.

»Meerschweinchen«, half Sophie und trank das zweite Glas Schnaps, nachdem sie kurz in die Runde geprostet hatte.

»Meerschweinchen, genau. Die hat Mama geerntet. Aus der Mülltonne.« Marlene strahlte in die Runde. »Meine Mama ist nämlich eine Heldin. Wenn sie nicht gewesen wäre, dann wären die drei schon tot. Gute Ernte, Mama, eine wahrlich gute Ernte!«

Und mitten in dem der elterlichen Gegenwart beraubten Haus war plötzlich so viel Glück, dass es Sophie beinahe den Atem raubte.