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Smarties im Schnee

Die Schaukel im Garten schwang verlassen hin und her. Sophie kannte das Quietschen, ohne dass sie es hören musste. Die Zweige des Mirabellenbaumes tanzten im Wind, Blätter regneten herab. Jedes Jahr im August hatte sie den Baum verflucht – reife Früchte waren ihr beim Schaukeln auf den Kopf gefallen, und sie hatte helfen müssen, die kleinen gelben Kugeln einzusammeln und sie später von ihrem Kern zu befreien. In einem Jahr hatten sie eine regelrechte Mirabellenschwemme, da musste die Mutter sehr einfallsreich sein. Es gab nicht nur Marmelade, sondern auch Schnaps und eingelegte Früchte, die dann niemand aß, und einen Mischmasch, den die Erwachsenen Chutney nannten, der aber in der Geschmackswelt eines Kindes außerordentlich schrecklich anmutete.

Sophie blinzelte. Für einen Moment meinte sie, den Geschmack von Mirabellen und Chili auf der Zunge zu spüren.

»Sophie, kommst du? Wir müssen los.«

Tante Barbara, die Schwester ihres Vaters, stand in einem schwarzen Mantel mit einem Regenschirm im Ausgang zur Diele. »Dein Großvater ist schon draußen«, fügte sie hinzu und versuchte ein Lächeln. »Es war klar, dass es heute in Strömen regnen würde. Oder?«

Sophie sah überrascht nach draußen. Regnete es? Wo war sie nur mit ihren Gedanken gewesen? Mirabellen. Sommer. Die Schaukel. »Ich muss Marlene –«

»Sitzt schon im Auto. Komm jetzt, wir müssen wirklich los.«

War es eilig, zu einer Beerdigung zu kommen? Sophie lief über den nassen Weg, und schon auf halber Strecke wurde ihr klar, dass ihre Schuhe nicht wasserdicht waren. Auf ihrem Kopf trommelte es bedrohlich. Erleichtert sank sie in den Autositz. Kaltes Wasser lief ihr vom Hut in den Kragen. Sie legte ihre Hand offen auf ihr Bein und wartete, bis ihre Tochter ihre kleine Hand darauflegte. Schön, die ganze Kinderhand in der eigenen verborgen. Sophie seufzte.

»Dass dein Bruder nicht kommt, werde ich ihm nicht verzeihen.« Der Großvater bremste scharf an einer roten Ampel, beschleunigte dann ruckartig, um gleich wieder bremsen zu müssen.

Tante Barbara legte ihm eine Hand auf den Arm. »Er sitzt in Amerika fest, das weißt du doch. Quarantäne. Was hätte er denn machen sollen? Er kommt, sobald er kann.«

»Onkel kommt geflogen, Onkel kommt geflogen!«, rief Marlene begeistert und klatschte in die Hände. Sophie sah auf ihre nun leere Hand, die auf ihrem linken Bein ruhte. Sofort war ihr kalt. Kinderhände, oft noch warm, auch wenn Mütter längst dachten, sie müssten eiskalt sein. Manchmal, so schien es Sophie, hielt eher sie sich an ihrer Tochter fest als umgekehrt. Es war die Sicherheit, für einen anderen Menschen das Wichtigste und Größte zu sein, auch wenn man sich selbst ganz unbedeutend und klein vorkam.

Der Großvater blickte in den Innenspiegel und sah grimmig aus. »Ich weiß nicht, ob das gut ist, sie mitzunehmen«, sagte er und behielt Sophie im Blick. »So ein kleines Kind gehört nicht auf eine Beerdigung.«

»Bitte, Vater, beruhige dich.« Barbara legte wieder die Hand auf seinen Arm. »Das ist Sophies Entscheidung. Marlene ist fünf. Sie wird das verkraften. Und es gehört zum Leben.«

»Ich bin halb sechs schon«, krähte Marlene von der Rückbank. Sie hatte vergessen, weshalb es ein trauriger Tag war.

»Pah«, schimpfte er und bog in die Wollmatinger Straße ein, um den Konstanzer Hauptfriedhof vom Haupteingang aus zu erreichen. »Zum Leben gehört, dass Menschen alt werden. Nicht so etwas.« Er wischte durch die Luft, als müsste er einen Schwarm Mücken vertreiben.

Alt. Auch Sophies Eltern waren nicht mehr jung gewesen. Sogar Sophie hatte das Gefühl, nicht mehr so richtig jung zu sein. Aber aus der Sicht eines Neunzigjährigen waren sie natürlich alle jung.

Nach nur wenigen Minuten Fahrzeit bogen sie auf den Parkplatz des Friedhofes ein.

»Wir hätten laufen sollen«, brummte der Großvater und rangierte den Wagen bedrohlich nahe an einem parkenden Auto vorbei.

»Doch nicht bei dem Regen«, sagte Barbara seufzend.

Sophie hatte den Verdacht, dass Barbara nicht zum ersten Mal die Launen ihres Vaters beschwichtigen musste. »Du musst mit über neunzig auch nicht mehr durch die Gegend stiefeln.«

Der Konstanzer Hauptfriedhof war ein besonderer Ort. Allein der 1919 errichtete Bau für die Trauerhalle verlieh mit seinen rund angeordneten Säulen am Aufgang und der darüber thronenden Kuppel dem Ort als Ganzem eine stille Erhabenheit. Links und rechts führten die Wege hin zu den Gräbern, zum israelitischen Teil des Friedhofs, zum neuen und alten Bereich, zu jenem Teil, der den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus gewidmet war, und zu den Gräbern der Soldaten sowie zu einem Grabfeld für Muslime. Dazwischen säumten alte Bäume die Wege, verwunschen und heldenhaft ragten sie als trotziges Dennoch zu all der Trauer zwischen den Grabsteinen in den Himmel und ließen die Wege zu Alleen werden.

Sophie war mit ihren Eltern ein paarmal auf dem Friedhof gewesen, eine Freundin ihrer Mutter lag dort, außerdem hatte ihre Mutter die Bäume fotografiert und zu Hause gemalt. Ein Baum sah aus wie eine Statue, ein sich nach oben reckender Körper. An der Hand der Mutter war Sophie als kleines Mädchen durch die Alleen gelaufen und hatte ehrfürchtig auf die vielen Grabsteine geschaut, die groß und pompös über den Tod hinaus bewiesen, dass man Stil nicht kaufen konnte. Andere indessen waren so liebevoll, bescheiden und schön, dass Sophie eine andächtige Traurigkeit befiel. Besonders wehmütig stimmten sie die Kindergräber, wenn die Verstorbenen jünger als sie selbst waren und der Tod bildhaft in greifbare Nähe rückte und sowohl die Hoffnung als auch die Selbstsicherheit mit Lügen strafte. Nichts war sicher, und der Glaube versetzte auch keine Berge.

Die Andacht in der Friedhofskapelle war zu Ende. Gemeinsam liefen die Trauergäste zu dem offenen Grab. Die Bäume bewegten sich lebhaft hin und her. Trotz des Regens konnte Sophie für einen Moment den Brunnen hören, das hätte ihren Eltern gefallen – plätscherndes Wasser. Schon bald jedoch wurde dieses Geräusch verschluckt von dem stärker werdenden Regen. Die Schirme bogen sich im Wind, und die Worte des Pfarrers am Grab schwammen buchstäblich davon.

»… Roland und Conny der Erde zu übergeben … Was bleibt, ist die Liebe, die uns über den Tod hinaus …«, hörte Sophie aus weiter Ferne.

Barbara weinte und hatte sich bei ihrem Vater eingehakt. Seine Miene war wie versteinert, wütend sah er aus, wütend und müde. Barbaras Mann Hans, Sophies Onkel, stand unbeholfen daneben.

Sophie vermutete, dass rund achtzig Freunde und Bekannte gekommen waren, um sich zu verabschieden. Das waren mehr, als man bei diesem Wetter hätte erwarten können. Drei Freunde, die auch oft in der Weinstube zu Gast gewesen waren, spielten, geschützt von einem kleinen Zelt, auf ihren Blasinstrumenten gegen den Regen und die Trauer an.

Sophie schwebte in die Höhe, von wo aus sie alles beobachten konnte. Auch sich, wie sie dort auf dem Friedhof stand, ein kleines Mädchen an der Hand, das neugierig, aber auch eingeschüchtert um sich blickte.

Unfreiwillig farbenfroh war die Gruppe durch die Schirme geraten und würde von oben betrachtet wie eine Ansammlung bunter Punkte aussehen. Wie Smarties, würde Marlene sagen. Ein hübsches Bild, eines, das Sophie sich vor ihrem inneren Auge ausmalen konnte, eine willkommene Ablenkung. Dass die Menschen doch so viele Schirme in Farbe hatten, erstaunte sie. Sie selbst besaß einen einzigen, und der war sogar geklaut, unabsichtlich natürlich, aus einem Hotel, das den Gästen Schirme verlieh. Dunkelblau, klassisch, der Hotelname stand darauf. Kein besonders cleverer Diebstahl, wenn man es bei Licht betrachtete.

Aber November und Licht war ja ein Widerspruch in sich. Gerade in Konstanz gehörte dieser Monat zu den jährlichen Tiefpunkten. Der Nebel holte Anlauf und saugte das Leben aus der Stadt, erinnerte die Menschen an Einsamkeit und Tod. Der Nebel erinnerte aber auch an den kleinsten Kreis, der Geborgenheit bedeutete, jenes Haus mit dem Mirabellenbaum im Garten und der Schaukel daran, die immer quietschte, weil sie an einer Kette um einen starken Ast befestigt war. Irgendwann hatte der Vater ein Band um die Kette gewickelt, in der Hoffnung, so das Quietschen zu verhindern. Es gelang für kurze Zeit, dann war es durchgescheuert und wurde ersetzt und war wieder durchgescheuert und wurde wieder ersetzt. Das Quietschen hatte gewonnen.

Eine ganze Flut von Erinnerungen überlief sie. Mirabellen mit Chili, Schmerzen auf der Zunge. Harte Früchte auf dem Kopf, Snoopy. Sebastian, der Burgen baute. Smarties im Schnee.

In das Quietschen dieser Erinnerungswellen mischte sich ein Quaken. Wildgänse. Sie flogen über den Friedhof, drehten eine Runde und flogen dann weiter in Richtung See. Das Klima wurde immer milder in dieser Ecke Deutschlands, die Tiere mussten nicht mehr in den Süden fliegen, viele blieben einfach in den Vogelschutzgebieten und überwinterten am Bodensee. Sophie stellte sich vor, dass sie bald klimatisch zu den südlichen Ländern zählten, dass sich Wüsten bildeten und Kakteen den Wald ersetzten. Schon saß sie zwischen den beiden Höckern eines Kamels, hatte kurzes braunes Fell in der Hand, und die Welt begann zu schaukeln.

Ein Ziehen an ihrer Hand holte sie aus ihrer Träumerei. »Fliegen da Oma und Opa?« Marlene zeigte mit dem Finger nach oben zu den Wildgänsen, die eine Runde über den Friedhof flogen. Sie meinte es ernst und doch frei jeder Ernsthaftigkeit.

Schluchzen im Hintergrund, der mürrische Blick des Großvaters, der kundtat: Hab ich es dir nicht gesagt? Barbara, die sich eine Hand auf den Mund presste. Sie hatte ihren Bruder Roland sehr geliebt, das wusste Sophie.

Sie hob Marlene hoch und drückte sie an sich. »Ja«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Dort oben fliegen jetzt Oma und Opa.« Sie streckte kurz die Hand aus und winkte, und ihre kleine Tochter machte es ihr nach und rief: »Gute Reise, Oma und Opa, kommt bald wieder.«

Als die Trauergemeinde sich eine Viertelstunde später auflöste, teils um nach Hause zu gehen und trockene Kleidung anzuziehen, teils um zu ihnen in die Weinstube zu fahren und dort ein gemeinsames Essen einzunehmen, das Barbara bei einem Caterer in der Stadt bestellt hatte, stand Sophie noch allein am Grab. Marlene war bereits mit Barbara und Hans gegangen. Der Regen hatte aufgehört, doch noch immer tropfte es von der Hutkrempe vor ihrem Gesicht. Hinter den Tropfen erkannte sie schemenhaft eine Gestalt bei den Bäumen. Als sie über die nassen Wege lief, trat die Gestalt aus dem Schutz der Bäume hervor.

»Katrin. Wie lang bist du schon …?«

»Von Anfang an.« Ihre Freundin zitterte und schlang die Arme fester um ihren Körper. »Wie geht’s dir?«

Sophie hob die Schultern. »Ich weiß nicht. Ich weiß im Moment gar nichts.«

»Versteh ich gut.« Katrin verzog den Mund und deutete mit einem Nicken auf Sophies Kopf. »Du mit Hut?«

Sophie schielte nach oben. »Von meinem Vater. Ich dachte wohl, das sei passend.« Ein dicker Regentropfen platschte von der Hutkrempe auf ihre Nasenspitze. »Warum bist du nicht rübergekommen zu uns? Du gehörst doch quasi zur Familie.«

»Ist lange her, nicht wahr?«, sagte Katrin. »Außerdem sind Beerdigungen nicht so meins.«

»Beerdigungen sind für niemanden etwas.«

Sophie breitete die Arme aus, und Katrin trat einen Schritt auf sie zu. Es roch nach Regen auf der Haut, nach salziger Luft von all den Tränen. Sophie kannte den Duft der Freundin, die blumige Note im Winter, die die Sonne aus dem Sommer ersetzen sollte und doch nie deren goldwarmes Aroma erreichte. Katrin kam den letzten noch fehlenden Schritt auf sie zu, und dann fielen sie sich in die Arme und weinten, während gerade wieder die Sonne zum Vorschein kam. Und gewiss lachten irgendwo Menschen und freuten sich auf das Wochenende. Gewiss quietschten irgendwo Kinderschaukeln, und Menschen planten die Weihnachtsfeiern. Sie beide aber standen dort zu zweit allein in einer Welt, die für Sophie nie wieder so sein würde wie zuvor.