»Das wird nicht passieren, solange ich lebe!« Der Großvater schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, und Sophie staunte einen Moment, dass dieser alte Mann eine solche Wucht aufbrachte, von der die Gläser erzitterten.
Katrin sah betreten zur Seite. »Ich glaube, ich geh jetzt besser.«
Schnell schüttelte Sophie den Kopf. »Nein, auf keinen Fall«, sagte sie leise.
»Vater, ich bitte dich. Nicht heute«, sagte Barbara. Hans stand auf und nickte zum Abschied. Wortlos verließ er den Raum. Sophie kannte ihn als schweigsamen Mann, der keine großen Worte machte und jedem Streit gern aus dem Weg ging, insofern war sie nicht verwundert über seinen Abgang. Im Grunde musste der Großvater dankbar über diesen Schwiegersohn sein, der den Weinbaubetrieb der Familie Sonnbach übernommen hatte. Gemeinsam mit Barbara, die kinderlos geblieben war, weswegen alles an Sophie und ihrem Bruder hing. Würde ihr Bruder jemals darüber nachdenken, die Weinberge zu übernehmen? Wohl kaum.
»Gerade heute«, polterte der Großvater. »Wir müssen das besprechen. Das Lokal ist jetzt seit Wochen geschlossen. Erst dieser verdammte Urlaub und dann …« Er presste sich die Hand auf den Mund.
Es war schlagartig ruhig. Dieser verdammte Urlaub, dachte Sophie, dieser verdammte Urlaub in Italien, den sich ihre Mutter so sehr gewünscht hatte.
»Ich hätt sie einfach nicht fahren lassen sollen.«
»Jetzt mach aber mal einen Punkt«, wetterte Barbara ungewohnt laut für ihre Verhältnisse. »Die beiden hatten sich einen Urlaub mehr als verdient. Das weißt du so gut wie ich. Keiner kann etwas für diesen Unfall.«
»Er wär nicht passiert, wenn sie hier …« Der Großvater blieb stoisch. »So oder so, wir müssen wieder aufmachen und über die Perspektiven sprechen.« Er richtete sich auf und beugte sich nach vorne auf den Tisch. Dann zeigte er mit dem Finger auf Sophie. »Und du hast eine Verantwortung, wenn schon dein missratener Bruder –«
Sophie blies die Luft hörbar aus. »Großvater, ich verstehe, dass du wütend bist, aber es hilft wirklich nichts und niemandem, wenn du hier deine Wut an uns auslässt.«
Barbara stand auf. »Ich mach uns jetzt noch einmal einen neuen Tee, und wir reden in Ruhe. Wir sind heute alle erschöpft. Vielleicht sollten wir sogar erst morgen reden.« Sie legte ihrem Vater ihre Hände auf die Schultern und drückte ihn sanft, aber bestimmt auf den Stuhl zurück. Dann gab sie ihm einen Kuss auf die Wange. »Du hast deinen Sohn und deine Schwiegertochter verloren, ich meinen Bruder und unsere liebe Sophie ihre Eltern. Wir sind alle traurig und wütend auf das Leben. Aber wir müssen jetzt zusammenhalten.«
Der alte Mann drehte sich nach oben und sah Barbara an. Sein Gesicht wirkte eingefallen, die Falten sammelten sich als tiefe Furchen auf seiner Stirn, die vom Wetter und von den Jahren auf den Feldern gezeichnete Haut war fahl. Es würde Sophie nicht wundern, wenn ihr Großvater am nächsten Tag einfach nicht mehr aufwachen würde. Andererseits lag eine kühne Entschlossenheit in seinem Blick.
»Bitte, Vater, manchmal ist es Zeit, Dinge loszulassen.«
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die Worte Barbaras bei dem alten Mann ankamen, doch plötzlich verbarg er sein Gesicht in den Händen und begann zu weinen.
Sophie schluckte. Die Wut, sie fehlte, war sie doch leichter zu ertragen als die Trauer. Etwas berührte sie an ihrem linken Oberschenkel. Sie sah nach unten: Dort lag die Hand der Freundin, offen, einladend, und Sophie nahm das Angebot an und legte ihre Hand darauf. Mühelos fanden ihre Finger in eine passende und verschworene Haltung dort unter dem Tisch, heimlich. Sie sahen sich an, bekräftigten mit ihren Blicken den alten Schwur: beste Freundinnen, für immer, egal was passiert.
Und so rückten Vergangenheit und Gegenwart erstaunlich nah zusammen, waren Haut an Haut, Finger in Finger.
Das gleiche Gefühl empfand Sophie ein wenig später, als ihr Bruder Sebastian anrief, der schon seit einigen Jahren in Amerika lebte und nur noch gelegentlich zu Besuch kam, nun aber am Telefon zu weinen begann. Er war geflüchtet vor der Familientradition, hatte immer lieber ein Bier als Wein getrunken und kein Interesse daran, in der Altstadt von Konstanz eine Weinstube zu führen. In den wenigen Minuten, in denen sie sich unterhielten, überkam ihn heftige Wehmut ob der gemeinsamen Kindheit. Und durch seine Schilderungen kam es auch Sophie so vor, als wäre es erst wenige Wochen her, dass sie dort im Garten der Weinstube im Sandkasten gesessen hatten, den die Eltern eigens für sie aufgebaut hatten, um ungestört arbeiten zu können. Und eine Schaukel. Auch im Garten der Weinstube hing eine Schaukel.
Der Abend nahm seinen Lauf. Barbara hatte keinen neuen Tee gemacht, sondern eine Flasche Wein mitgebracht. Stumm tranken sie ihr erstes Glas – ein zwischen Wut und Trauer gefangenes Schweigen.
Es wurde nicht leichter, vielmehr wurde die lange verdrängte Last auf Sophies Schultern immer schwerer. Barbara hatte immer geholfen, so gut es ging, auch ihrem Bruder Roland in der Weinstube mit der Buchhaltung, allerdings war die Arbeit rund um die Weinberge ausreichend. Sie war immerhin auch schon fast siebzig Jahre alt und hatte im letzten Jahr außerdem einen Bandscheibenvorfall erlitten. Es war undenkbar, dass sie noch mehr Verantwortung und Aufgaben übernahm. Unausgesprochen und gleichwohl ebenso deutlich stand somit auch die Frage im Raum, was grundsätzlich aus dem Familienerbe der Sonnbachs werden sollte. Zu lange hatte Sophie darauf gebaut, dass zuerst der Großvater sie verlassen würde und sie dieses Gespräch mit ihren toleranten Eltern führen könnte. Nun hatte die Zeit gegen sie gespielt und die vermeintliche Unverwundbarkeit der Eltern aufgehoben. Ein Lkw hatte bei einer Autobahnausfahrt nicht bremsen können und mehrere Menschen aus dem Leben gerissen. Einfach so. In einer Sekunde. Alles anders.
Sophie kämpfte mit zunehmender Verzweiflung gegen die sich ausbreitende Hilflosigkeit.
»Weshalb kannst du nicht die Weinstube übernehmen?«, fragte der Großvater unvermittelt nach dem zweiten Glas Wein mit schon schwerer Zunge.
»Ich habe ein Leben in Frankfurt«, erklärte Sophie, die Hand unter dem Tisch mit der Freundin verbunden.
»Du hast ein abgebrochenes Studium und ein uneheliches Kind ohne Vater in Frankfurt. Was soll das sein? Das große Los?«
»Vater!«, versuchte Barbara einzugreifen, doch es war zu spät.
»Ich habe einen Job und eine Wohnung und …«
Sophie fiel nichts mehr ein. Ihr Großvater hatte den Trumpf des hohen Alters auf seiner Seite und ihre Vergesslichkeit, was sie in Frankfurt wollte. Also schwiegen sie und tranken eine zweite Flasche Rotwein, gewiss ein wenig zu viel, doch es machte die Gegenwart leichter. So redeten sie schließlich in entspannterem Ton über die Eltern, Roland und Conny Sonnbach, und Sophie hing zwischen den Anekdoten ihren eigenen Träumen nach – sie und ihr Bruder mit den Eltern bei einem der seltenen Urlaube am Meer. Ihr Hund, der immer die Wellen fangen wollte und dann bellte, wenn sie verschwanden. Snoopy. Der erste und letzte Hund in ihrem Leben.
Dann sah sie wieder bunte Schirme, einer war rot mit weißen Punkten, ein anderer grün-weiß gestreift. Sophie sah ihren Vater mit einer Traubenrebe in der Hand, stolz hielt er sie hoch in die Kamera. Es war ein Fotoshooting für einen neuen Werbeflyer für das Lokal. Ihre Mutter trug im Sommer immer Kleider, oft mit Blumen. Sie hatte auch mit über sechzig einen Pferdeschwanz gehabt und stets jugendlich ausgesehen. Sophie war so oft stolz auf ihre Mutter gewesen, die sie nie jammern gehört hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, ob sie ihr das jemals gesagt hatte.
Barbara erzählte gerade von einer Weinprobe mit Roland, als dieser alle Weine getrunken und kaum noch nach Hause gefunden hatte. Der Großvater bedauerte zum wiederholten Male, dass Barbara und Hans keine Kinder hatten. Die Wehmut hing im Raum wie eine Rauchwolke, sie war zum Schneiden dick und brannte in den Augen.
»Alles vergeht«, sagte der Großvater und schenkte Wein nach. Er sah Katrin an. »Gut, dass du da bist. Du gehörst für uns zur Familie, das weißt du.«
Katrin nickte. Sophie war in diesem Moment stolz auf ihren Großvater, der nun nicht nur seine Frau Gisela, sondern auch seinen Sohn Roland überlebt hatte. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie es sein musste, das eigene Kind zu verabschieden, egal wie alt das Kind inzwischen war. Gegen drei Uhr kehrte eine matte Stille ein. Sie waren alle erschöpft von der Traurigkeit, dem Abschiednehmen. Der Großvater streckte seine Hände über den Tisch und nahm Sophies in seine. Sophie starrte darauf, kleine Hände in großen. Warm und geborgen, verbindend.
»Bitte, Sophie, überlege es dir, um deiner Eltern willen«, sagte er leise.
Sophie überkam eine Welle der Rührung. Sie wollte diese Gefühle der Unsicherheit nicht mitnehmen in diese Nacht, sie wollte nicht zaudern, nicht hadern, sie wollte nicht tagelang im flehenden Blick ihres Großvaters leben, die Trauer nicht vergrößern. Sie wollte nur raus aus dieser Situation, für die es keine Lösung gab. Außer einer.
»Ich muss nicht überlegen«, sagte sie und merkte, dass ihre Stimme zitterte. Barbara hielt die Luft an, das linke Auge des Großvaters zuckte. Katrin rutschte auf ihrem Stuhl hin und her.
»Ich übernehme die Weinstube Sonnbach.«
Großvater blies die Luft hörbar aus, es war ein Seufzer der Erleichterung, und sofort folgten Tränen, die er sich schnell wegwischte. Katrin ballte unter dem Tisch eine Gewinnerfaust, doch Barbara machte ein erschrockenes Gesicht.
»Du kannst das Kind doch nicht einfach überreden!«
Großvater wischte mit der Hand durch die Luft. »Papperlapapp. Ich hab gesagt, sie soll nachdenken. Jetzt hat sie anscheinend genug nachgedacht.« Er hob das Glas. »Auf die Sonnbachs!«
»Ich freu mich, wenn du zurückkommst«, flüsterte Katrin. Wir stehen das gemeinsam durch, sagte der Blick, den die Freundin ihr zuwarf.
Sophie wusste gar nicht, wie ihr geschah. Sie war noch immer wie in einem Taumel. Seit der Nachricht von dem Unfalltod ihrer Eltern war ihr Leben wie eine Achterbahnfahrt von einem Moment zum nächsten gerast. Trauer und Wut, Verzweiflung und Unverständnis hatten sich abgewechselt, und immer dazwischen das flötengleiche Lachen der kleinen Marlene, die nichts begriff und doch zu allem eine Meinung hatte. Dieser resignierte Blick ihres Großvaters, den sie immer gemocht und gefürchtet hatte, dessen Güte und Strenge, er war einfach zu viel gewesen. Die Weinstube war sein Leben, sie zu verlieren wollte er nicht erleben, wollte er nicht überleben. Was sollte Sophie dem entgegenhalten? Sie war gerade vierzig Jahre alt geworden, und darüber hinaus wusste sie nicht viel über ihr Leben, das sich seit fünfeinhalb Jahren hauptsächlich um ihre Tochter gedreht hatte. Ein Kreisel bin ich, dachte sie. Wo ich mich weiterdrehe, ist gewiss gleichgültig.
Die Schaukel im Garten quietschte und begleitete die Sternenkinder in die Nacht. Ihre Mutter hatte ihr das erzählt, wenn Sophie Angst hatte ob des Geräusches im Dunkeln, das sie immer glauben ließ, jemand säße auf ihrer Schaukel. Unweit der Schaukel hatte der Sandkasten gestanden, in dem ihr Bruder den größten Teil seiner Zeit verbracht hatte – entweder in ihrem Haus im Königsbau, jenem Stadtteil in Konstanz unweit der Universität, oder aber in der Weinstube in der Altstadt.
Komm her, wir bauen eine Burg.
Ich schaukel lieber.
Das ist langweilig.
Gar nicht. Ich träum von einer Burg.
Und dann hatten sie gelacht. Sebastian hatte seine Burg gebaut, Sophie hatte von einer geträumt, einer Burg, die immer weiß war und rote Fensterläden und Zinnen besaß. In ihren Träumen konnte sie reiten wie der Wind auf einem Pferd, dem nachts im Mondschein Flügel wuchsen. Ihr Bruder war ein Edelmann, und ihre Eltern saßen auf Sesseln, die von Weinreben umrankt waren. Sie ernteten die Trauben im Sitzen. Zu ihren Füßen lagen zwei riesige schwarze Hunde. Sophie hatte gern und viel und mitten am Tag geträumt als Kind, von fernen Ländern und einer Heldenwelt, in der sie glücklich vor sich hin schaukelte.
Als Kinder hatten sie gedacht, sie hätten alles eben zweimal: den Baum mit einer Schaukel, einen Sandkasten, ein Zuhause. Wie außergewöhnlich es war, in der Innenstadt von Konstanz ein Haus zu besitzen mit einem Innenhof und Garten, war Sophie erst allmählich klar geworden. Und noch etwas später war ihr bewusst geworden, dass ihr Leben ihnen ein Paradies bot, das nicht selbstverständlich und vor allem der Tatsache geschuldet war, dass ihre Eltern keine eigenen Ziele verfolgt hatten.
Als Sophie nach dem Abitur überlegte, was sie denn gern machen wollte, da war ihr Bruder schon ein Jahr an der FH und studierte Informatik. Die Großeltern machten sich unverhohlen Sorgen um die Nachfolge für die Weinstube Sonnbach.
»Die Kinder müssen die Tradition weiterführen, wo kommen wir denn sonst hin?«, hatte der Großvater gewettert.
»Wenigstens einer von beiden wäre schön«, hatte die Großmutter abgeschwächt.
Sophie hatte mit großen Augen am Abendbrottisch gesessen und das Gespräch der Eltern mit den Großeltern verfolgt. Hatte es das Gespräch ein Jahr zuvor bei Sebastian auch gegeben? Ihre Mutter und auch ihr Vater hatten sich für sie eingesetzt, erklärt, dass Sophie erst einmal herausfinden sollte, was ihr Freude bereite, und dass sie sie nicht in etwas hineindrängen wollten.
»Hineindrängen?« Der Großvater hatte nicht verstanden, was sein Sohn ihm da sagte.
Sophie war gegangen, und doch hatte dieser Flucht von Beginn an innegewohnt, dass es kein endgültiges Entkommen gab – irgendwann würde sie der Frage, was aus dem Familienerbe werden sollte, nicht mehr ausweichen können.
Woran sie sich noch erinnerte, später, als sie in ihrem alten Kinderzimmer leise zu ihrer Tochter ins Bett geklettert war und Katrin es sich auf einer Matratze am Boden bequem gemacht hatte: der Großvater am Kaminsims vor dem Bild ihrer Familie, seine knochigen Finger, die darüberstrichen. Ein Foto von ihrem Vater Roland, der mit Barbara vor der Weinstube saß und in die Kamera prostete. Sophie hatte so lange darauf gestarrt, dass es plötzlich in Bewegung geraten war. Und dieser Geruch von Zwetschgenkompott und Zimt, der weit nach Mitternacht sich im Wohnzimmer ausgebreitet hatte. Aus eigener Ernte. Mit Vanilleeis.
Marlene seufzte wohlig im Schlaf und schmiegte sich an Sophie.
Es regnete wieder, und die Tropfen klangen auf dem Dachfenster wie eine Musik. Sophie wollte nicht weinen, sie wollte sich vorstellen, dass es eine fröhliche Musik war, eine, die sie mit ihren Freundinnen am Strand hören würde, Reggae, sanftes Wiegen, barfuß mit langen Gewändern wie damals in ihrem gemeinsamen Urlaub. Regentropfen müssen nicht traurig klingen, nicht schwermütig, sie können auch Gleichmäßigkeit bedeuten, Sanftheit. Aber es half alles nichts. Die Tränen bahnten sich ihren Weg, und kalt umfasste eine fremde Macht ihr Herz.
»Schön, dass du wieder da bist«, flüsterte Katrin in die Nacht, und ihre Stimme hatte etwas Tröstendes.
»Wieder da«, wiederholte Sophie. »Ich kann es noch nicht begreifen.«
»Alles wird gut.«
»Ich übernehme die Weinstube. Wie soll das gut werden?«