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Ein bitterkalter Januar

Der November und die ersten Adventswochen gingen vorbei. Viel blieb von dieser trüben Zeit nicht übrig außer dem Quietschen der Schaukel im Regen und eine graue Aussicht vor den Fenstern. Sophie konnte sich nicht erinnern, jemals so oft aus dem Fenster gesehen zu haben, ob sie nun in ihrem Elternhaus in Konstanz war oder in ihrer kleinen Wohnung in Frankfurt, die sie bereits gekündigt hatte. Angesichts der besonderen Umstände und der Tatsache, dass die Bewerberschlange für die Wohnung groß wäre, entließ ihr Vermieter sie mit einer zweimonatigen Kündigungsfrist, Ende Januar sollte sie die Wohnung geräumt haben.

Katrin versprach zu helfen, wobei auch immer. Kisten packen, Möbel schleppen, Wände anmalen – sie sei noch immer die Frau für alles. Katrin konnte man mitten in der Nacht anrufen und um Hilfe bitten, sie wäre fünf Minuten später auf dem Weg. Ihr Zimmer war für Sophie immer das reinste Wunderkabinett gewesen. Bunte Möbelknäufe auf rosafarbenen antiken Kommoden, mit Stoff bezogene Regale, getöpferte Schalen und selbst gemalte Bilder an der Wand. Katrin hatte in ihrer Schulzeit Fahrradreifen geflickt, Autoreifen gewechselt, Radios repariert und Möbel aufbereitet. Sie war die Do-it-yourself-Frau, der man den Satz »Geht nicht, gibt’s nicht« sofort abkaufte.

Alle Mädchen hatten die selbstbewusste Katrin bewundert, einschließlich Sophie, und oft hatte sie die Freundin gebeten, ihr alles Mögliche beizubringen, etwa, wie man eine Hose mit einem Stoffeinsatz zu einer Schlaghose umnähte. Mit diesen Hosen hatten sie dann bei Rock am See Chrissi kennengelernt, die begeistert war von den Hosen und sofort vorschlug, gemeinsam in Produktion zu gehen. An diesem Abend hatten sie sich nicht nur ewige Freundschaft geschworen, sondern zudem, wenn auch nur für kurze Zeit, ein eigenes Modelabel gegründet. Ganze zehn Hosen hatten sie in dieser Zeit genäht und verkauft, nur an beste Freundinnen. Doch dann war die Idee verpufft, Sophie konnte sich nicht erinnern, weshalb. Es war eine von vielen Ideen, die Sophie in ihrem Leben und für ihr Leben hatte und die dann plötzlich verschwunden waren.

Zieh doch einmal etwas durch. Ihr Bruder Sebastian.

Ich hoffe, du findest das, was dich erfüllt. Die Mutter.

An Weihnachten kam ihr Bruder für zehn Tage aus Amerika zu Besuch, ließ sich von dem Großvater beschimpfen und von Sophie das Grab der Eltern zeigen. Hand in Hand gehend, wussten sie beide, dass sie zuletzt am Grab von Snoopy so gestanden hatten.

»Tut mir leid, dass ich nicht da war.«

»Ich weiß.« Sophie konnte die Verzweiflung in seiner Stimme hören.

»Es war leichter, als ich in Amerika war, weißt du? Das war so unwirklich. Ich konnte mir die letzten Wochen immer einreden, dass sie noch da sind.«

»Ich weiß«, sagte Sophie wieder.

Er drehte sich zur Seite und umarmte sie so unerwartet heftig, dass sie zurücktaumelte, doch ihr großer Bruder hielt sie ebenso stark fest, wie er sie aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.

Jetzt sind nur noch wir, dachte sie, wir und unsere Kinder und Barbara und Hans und Großvater und Katrin und Chrissi und Sebastians Freunde in Amerika und … »Wir sind nicht allein«, flüsterte sie ihrem Bruder ins Ohr, während ihre Haare neben ihrem Hals nass von seinen Tränen wurden. Es war ein Tag vor Weihnachten.

»Das Leben ist so beschissen unfair. Sie wollten mich besuchen kommen, endlich. Im Januar. Wusstest du das?«

Sophie schüttelte den Kopf.

»Ich hatte die Flüge schon gebucht. Alles war besprochen. Vater hat sich so gefreut. Endlich einmal raus aus dieser verschissenen …« Sebastian presste sich die Hand auf den Mund.

Sophie sah auf das Holzkreuz, für das sie noch keinen angemessenen Ersatz gefunden hatten. Ein laminiertes Foto ihrer Eltern war dort befestigt. Roland und Conny, wie sie ihre Eltern so oft gesehen hatte: Sie an seine Schulter geschmiegt, er hatte den Arm um sie gelegt, sie lachten beide, der Wind spielte in ihren Haaren.

»Einfach nicht fair«, sagte ihr Bruder und rannte davon. Sophie blieb allein zurück, dachte an Ungerechtigkeit und daran, dass seit sechs Wochen ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt wurde.

Während sie auf dem Friedhof gewesen waren, hatte Barbara mit den Kindern und Sebastians Frau Judith vorweihnachtlich gewütet. Sophie betrat das Haus und roch die frisch gebackenen Kekse. Im Wohnzimmer sah sie die Kisten mit dem Weihnachtsschmuck aus dem Keller und mitten in dem Chaos ihren Großvater in dem großen, senfgelben Ohrensessel sitzen, vom Sideboard erklangen Weihnachtslieder von einer Kinderschallplatte, die sie schon mit ihrem Bruder gehört hatte. So viel Tradition im Raum, dass es wehtat. Barbara schmückte mit den strahlenden Kindern den Baum. Sebastian war noch nicht zurück, seine Frau Judith bereitete in der Küche das Essen vor. Unschlüssig stand Sophie in der Diele. Von hier konnte sie über den Flur in die Küche oder direkt ins Wohnzimmer oder aber über die Treppen nach oben in ihr Zimmer flüchten. Sie zögerte einen Moment zu lange.

»Mama, endlich. Komm!« Marlene hatte sie entdeckt und kam auf sie zugerannt. Aufgeregt zog sie an ihrem Arm. »Der Baum, Mama, den musst du dir anschauen, der ist größer als alle Fusselwüffs zusammen.«

»Dieses Wort, Marlene, Schätzchen, könnten wir –«

»Fusselwüff, Fusselwüff.« Marlene hopste herum. »Ich liebe dieses Wort. Es klingt einfach ulkig, bitte, Mama, komm doch mit. Der ist einfach galaktisch!«

Galaktisch, dachte Sophie. Das war auch neu. Sie folgte ihrer aufgedrehten Fünfjährigen und hängte ein paar Kugeln an den Baum. Schließlich ließ sie sich aufs Sofa fallen. Das Kinderlachen entfernte sich ebenso wie die Musik. Ihr Blick wanderte hinüber zum Kamin, in dem so herrlich warm das Feuer loderte, und dann hinauf zum Kaminsims, wo die Fotos der Familie standen, sie und ihr Bruder mit den Eltern beim Picknick auf der Mainau. Familienausflug am Muttertag. Ein anderes Bild zeigte sie in der Marienschlucht, die mittlerweile gesperrt war. Die Mutter hatte Angst gehabt, dass sie auf den moosigen Stufen ausrutschten und hinabstürzten. Vielleicht gar nicht so unbegründet. Der Vater und Sebastian hatten gelacht.

Sophie ließ den Blick weiterwandern. Zum Fenster. Dahinter noch immer Regen. Der Blick aus dem Fenster war wie eine Flucht aus der Gegenwart. Plötzlich schob sich ein Kopf in ihre Aussicht. Sebastian tauchte dort im Regen auf, sah sie an. Das Wasser lief ihm in Bächen über das Gesicht. Wenn es doch endlich Schnee wäre. Er hob die Hand zum Gruß, und Sophie hob ebenfalls die Hand. Übereinkunft, diesen Weihnachtsabend für die Kinder zu bewältigen.

Noch vor dem Jahreswechsel kehrte Sebastian mit seiner Familie nach Amerika und Sophie mit Marlene wieder nach Frankfurt zurück.

Als sie am Bahnhof von Konstanz stand und ihrer Tochter erklärte, dass der Turm des Bahnhofs so aussah wie der Turm eines Palastes in Italien, wurde ihr bewusst, dass ihre nächste Fahrt nach Konstanz eine Heimkehr sein würde. Und sie jetzt ein letztes Mal nach Frankfurt reiste.

Als der Zug Konstanz verließ, sah sie gemeinsam mit ihrer Tochter zu den Pappeln auf der Reichenau und zum See, den Marlene so unglaublich groß fand, dass sie immer wieder fragte, ob das auch sicher nicht das Meer war.

»Ist das Meer wirklich noch größer?«

»Ach«, Sophie strich ihrer Tochter über die Haare. »Weißt du, es gibt tatsächlich eine Stelle, von der aus der Bodensee wie ein Meer aussieht«, erzählte sie. »Aber dafür müssten wir nach Bregenz ans Ostufer des Sees reisen und von dort nach Westen in Richtung Konstanz blicken. Dann sieht der See aus wie ein Meer.«

»Wie geht denn das?«

»Durch die Erdkrümmung wölbt sich der See in dieser Blickrichtung um rund achtzig Meter, und dadurch sieht der See endlos aus. Das ist unser ›Schwäbisches Meer‹.«

Marlene klatschte begeistert. »Wir wohnen also doch bald am Meer.«

»Ja, meine Süße.«

Marlene setzte sich Kopfhörer auf und hörte ihre Lieblings-Lillifee-CD, Sophie hätte jedes Lied mitsingen können. Gerade als das Einhorn gegen die Kälte und Einsamkeit ansang, setzte sich ein Paar zu ihnen an den Tisch.

»Süß, die Kleine«, sagte die Frau und lächelte. Die beiden waren vielleicht Mitte sechzig, also ungefähr in dem Alter von Sophies Eltern. Sie wirkten freundlich, er zurückhaltend, sie mit der sichtbaren Lust, sich auszutauschen, und so hoffte Sophie, dass die beiden bald aussteigen würden.

»Waren Sie auch im Urlaub am See? Ist ja nicht gerade eine typische Jahreszeit dafür.« Die Frau lachte und legte ihren Schal neben sich auf den Sitz. »Schatz, soll ich dir aus dem Mantel helfen?«

Er zeigte nach draußen. »Schau lieber raus, Gertrud, sonst verpasst du die Hälfte.«

Sie winkte ab. »Ich hab so viel gesehen. Konstanz ist wirklich eine wunderbare Stadt. Wir kommen immer im Winter, da ist weniger los. Und so richtig Winter wird es hier ja nicht. Außerdem haben wir Freunde am See. Also in Dettingen-Wallhausen, aber da machen wir natürlich …« Sie legte sich eine Hand auf den Mund. »Entschuldigen Sie, ich wollte nicht so lossprudeln. Sie sind bestimmt froh, wenn Ihre Kleine gerade zufrieden ist.«

Ihr Mann ließ den linken Zeigefinger neben seinem Kopf kreisen und verdrehte die Augen. »Sie sprudelt immer. Gut, dass ich bald taub bin«, sagte er mit brummiger, aber liebevoller Stimme, dann legte er seine Hand geöffnet auf ihr Bein, und sie legte ihre darauf.

Blinzelnd schob Sophie die hochschwappenden Erinnerungsbilder beiseite.

»Und?«, fragte Gertrud. »Urlaub?«

»Nein«, sagte Sophie und hörte selbst, dass sie unsicher klang. »Ich komme aus Konstanz.«

»Ach, wie schön!«, jubelte Gertrud. »Heinz, stell dir vor, wir lernen eine Ureinwohnerin kennen.« Sie freute sich überschwänglich.

»Schatz, beruhige dich, die Leute gucken schon«, sagte er beschwichtigend. »Meine Frau ist ein wenig aufgekratzt.«

Gertrud beugte sich vor und hielt eine Hand neben ihren Mund, als wolle sie Sophie etwas zuflüstern. »Hören Sie nicht auf ihn, aber bitte, erzählen Sie, wenn Sie mögen. Konstanz ist für mich wie ein Sehnsuchtsort. Ich wollte hier … Ach, lassen wir das. Bitte, erzählen Sie ein wenig.«

Die Frau sah Sophie so sehnsüchtig an, dass Sophie lachen musste. »Es gibt da gar nicht so viel. Ich bin hier geboren und in Konstanz aufgewachsen, ich war hier an der Schule.« Sie hob verlegen die Schultern. »Ich glaub, man vergisst einfach, dass man an einem Ort lebt, an dem andere Urlaub machen.«

Gertrud nickte wissend. »Das kann gut sein. Wissen Sie, für mich hatte Konstanz immer eine ganz eigene Energie. Die Stadt hat dem Krieg getrotzt, sie blieb so gut erhalten wie keine andere.«

»Ja, den Schweizern sei Dank«, sagte Sophie.

»Stimmt, den Schweizern sei Dank. Konstanz pulsiert vor Lebendigkeit. Ich hab hier immer das Gefühl, man wird ein wenig vitaler als in seinem anderen, gewöhnlichen Leben.« Sie sah zur Seite, lächelte. »Ich weiß, mein Mann hält mich für verrückt, aber mir geht es nun einmal so.«

»Meine Eltern haben eine Weinstube in der Innenstadt, in der Niederburg. Vielleicht kennen Sie sie ja.« Sophie hatte einfach draufloserzählt, ohne nachzudenken.

»Eine Weinstube in der Niederburg? Die kennen wir bestimmt, oder, Heinz? Was meinst du? Weinstuben haben wir sicher alle schon besucht. Ist es die Weinstube Sonnbach? Die mögen wir besonders gern. Nur leider war sie dieses Mal geschlossen.«

»Ja, genau«, antwortete Sophie und spürte, wie sich ihr Nacken versteifte.

Sie sprachen eine Weile über die Altstadt, die Geschäfte und Restaurants, die beste Reisezeit, als Gertrud plötzlich sagte: »Es muss sehr schwer gewesen sein, Konstanz zu verlassen.«

Sophie legte den Kopf leicht schief und versuchte, sich zu erinnern.

»Weshalb sind Sie eigentlich weg?«

Sophie sah auf ihre Schuhspitze. Sie hatte wie immer das linke Bein über das rechte gelegt. Jetzt wippte sie mit dem linken Fuß, schwarze Boots, darauf ein wenig Sand. Marlene hatte gespielt, Sophie danebengestanden, dann war einer der Kuchen vom Rand des Sandkastens gefallen. Jungs bauten Sandburgen, Mädchen backten Kuchen. Sophie hatte am liebsten geschaukelt. Im Gegensatz zu ihrem Bruder hatte sie nicht gewusst, was sie machen wollte nach dem Abitur. Sie hatte Deutsch und Englisch auf Lehramt studiert, doch nicht aus Leidenschaft, weder für das Studium an sich noch für die beiden Fächer. Und dann war eine dumme Sache passiert, und Sophie wollte einfach nur weg und war in Frankfurt gelandet.

»Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten«, sagte Gertrud in die Pause hinein.

»Nicht schlimm«, sagte Sophie und wischte beiläufig den Sand von ihrem Schuh, doch es blieb ein Fleck. »Ich bin beruflich nach Frankfurt.« Sie lächelte, fuhr noch einmal über den Fleck, dann räusperte sie sich. »Aber ich fahr heute nach Frankfurt, um dort meine Koffer zu packen. Ich komme zurück.«

Gertrud legte verträumt den Kopf zur Seite.

Sophies Atem beschleunigte sich. »Nach Hause«, fügte sie etwas leiser hinzu.