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Umzugskistenchaos

Sophie saß auf einer Umzugskiste und blätterte in dem Weinmagazin vom Bodensee, das ihre Tante ihr gegeben hatte. Sie musste noch sehr viel lernen, wenn sie nicht gleich unangenehm auffallen wollte. Ein paarmal hatte sie Barbara beim Abendgeschäft in der Weinstube begleitet, um die Abläufe kennenzulernen, aber für Weinkunde hatte sie noch keinen Kopf gehabt.

In den vergangenen Jahren war sie nur gelegentlich mit gutem Wein konfrontiert worden, nämlich an jenen Wochenenden, die sie mit Markus in schicken Hotels verbracht hatte, doch die waren nun auch schon wieder eine Weile her. Sophie erinnerte sich zwar an die Weinkarten, für die man nicht nur mehrere Sprachen beherrschen musste, sondern auch ein wenig Ahnung benötigte, doch hatte stets Markus bestellt, als Mann von Welt. Auch wenn Sophie das ungern zugab, er hatte ihr imponiert mit seiner souveränen Ausstrahlung, sie hatte sich sicher an seiner Seite gefühlt und meistens auch wie etwas Besonderes.

Alles hätte gut werden können, wäre da nicht eine Ehefrau gewesen, die Markus zwar angeblich verlassen wollte, die aber offenbar nicht so leicht loszuwerden war. Und je aussichtsloser es wurde, desto stärker begehrte Sophie ihn, desto bemühter ihre Versuche, an jenen Wochenenden in einsam gelegenen Hotels mit teurer Bettwäsche und hochpreisigen Weinen alles richtig zu machen und ihn von sich zu überzeugen. Sophie hatte diesen gemeinsamen Tagen regelrecht entgegengefiebert und alles andere um sich herum vernachlässigt. Und wenn er dann einen Rotwein auswählte und dessen französischen Namen so lässig aussprach, war sie eben beeindruckt und überlegte, ob Markus wohl auch ihrem Vater imponieren würde. Sophie hatte nie herausgefunden, ob Markus wirklich Ahnung hatte oder nur gut bluffen konnte und es schlicht vermieden hatte, den günstigsten Wein von der Karte zu bestellen. Ihr wäre das egal gewesen, Wein schmeckte ihr, wenn er nicht zu holzig und erdig war und natürlich auch nicht zu lieblich. Aber Wein war so viel mehr. Der Weinanbau rund um den Bodensee sei eine spannende Sache, behauptete das Magazin, auch würden die Weine immer besser und über die Region hinaus auch beliebter.

Die Weinstube hatte vorübergehend eingeschränkt geöffnet, Barbara half an einigen Abenden, und Freunde hatten sich ebenfalls angeboten. Sogar der Großvater übernahm Dienste und blühte sichtlich auf. Die Aussicht auf Sophies Rückkehr verlieh ihm neue Kräfte. Sophie hatte ihn einen Abend lang zu den Tischen begleitet, hatte ihn erzählen und lachen gesehen und sich immer wieder sagen müssen: Das ist der Vater meines Vaters.

Plötzlich war sie müde.

Neben ihr auf dem Fußboden lag die Checkliste, was es noch alles zu tun gab, bis das Umzugsunternehmen kam. Sie schielte darauf, aber soweit sie sehen konnte, war alles abgehakt. Ein paar Freunden musste sie noch ihre neuen Kontaktdaten schreiben, doch das hatte Zeit, bis sie in Konstanz war, und einige würde sie so oder so verlieren. Nicht schlimm, wenn sich der Freundeskreis wieder lichtete. Sodann blieb ihr eine Woche, bevor sie als neue Chefin in der Weinstube Sonnbach vorgestellt wurde.

Marlene saß schmollend in einer Ecke. Sie fand ihr Lieblingspferd nicht, das Sophie in eine der letzten Kisten gestopft hatte. Es war nicht leicht, Marlene zu erklären, dass die Kisten vermutlich erst im Laufe der nächsten Tage in Konstanz wieder geöffnet werden konnten.

Am liebsten wäre Sophie mit Marlene direkt in eine neue Wohnung gezogen, aber Konstanz war hoffnungslos überlaufen. Gemeinsam mit Katrin hatte sie Inserate in der Zeitung und bei eBay-Kleinanzeigen gewälzt. An den Wochenenden hatte Katrin ihr bei der Auflösung der Wohnung in Frankfurt geholfen, unter der Woche hatte sie in Konstanz Wohnungen angesehen und versucht, ihre »Kontakte spielen zu lassen«, um dann Ende Januar doch einzusehen, dass sie ihre Freundin samt Kind vorübergehend im Elternhaus einquartieren musste, wobei sie schon am zweiten Tag nach dieser Entscheidung drängte, jetzt nicht in Bequemlichkeit zu verfallen – sie kannte Sophie nur zu gut –, sondern sich mit Nachdruck etwas Eigenes zu suchen. Hierzubleiben wäre Selbstmord, glaub mir, glaub einer alten weisen Frau …

Endlich klingelte es, und Sophie legte das Magazin zur Seite. In der letzten halben Stunde hatte sie ohnehin keine der Informationen mehr behalten, sie war viel zu aufgeregt. Zurück nach Konstanz, alte Heimat, alte Wunden und völlig neue Aufgaben.

Die Umzugsleute trugen die Kisten nach unten, ein Glas fiel zu Boden und zerbrach. Im Treppenhaus schepperte etwas. Sophie wusste nicht, wohin mit sich, und stand unschlüssig in ihrer Küche. Marlene beobachtete indessen sehr genau und ebenso misstrauisch die Handgriffe der Männer. Sie wollte sichergehen, dass auch alle Kisten in den Wagen kamen. Sie machte sich große Sorgen um ihr Pferd.

Natürlich würde Sophie weiter nach einer Wohnung für sich und Marlene suchen, nach einem neuen, eigenen Zuhause. Sie sammelte die Scherben ein und schnitt sich dabei. Ein Blutstropfen landete auf ihrer Bluse. Sie kramte in ihrer Handtasche und fand ein Pflaster. Wenig später hatte sie eine lachende Biene Maja auf ihrem Zeigefinger. Sie musste nicht überredet werden, nach einer eigenen Wohnung zu suchen, das hatte sie auch Katrin schon gesagt. Ihre Angst, mit all den Erinnerungen unter einem Dach zu leben, war viel zu groß.

Gemeinsam mit Marlene und den Meerschweinchen fuhr sie dem Wagen des Umzugsunternehmens hinterher. Marlenes Laune besserte sich, sie sang frühe Osterlieder, und die Meerschweinchen knabberten an Karottenstückchen. Als sie die Ausfahrt nach Konstanz nahmen, war es bereits dunkel. Die Januartage begannen spät und endeten dafür umso früher. Gerecht war das nicht.

Mit einem Kloß im Hals landete Sophie also an einem kalten Tag im Januar abends in der Auffahrt vor dem Haus im Königsbau. Barbara nahm Marlene in Empfang und brachte sie ins Bett, und Sophie wies die Leute vom Umzugsunternehmen an, die Kisten und wenigen Möbel, die sie mitgenommen hatte, in der freigeräumten Garage zu lagern.

Ihr Großvater und auch Barbara waren zwar traurig, dass Sophie nicht »richtig« bei ihnen einziehen wollte, freuten sich gleichwohl überschwänglich, dass sie wenigstens vorübergehend bei ihnen war. Vermutlich dachte der Großvater, dass Sophie ohnehin nicht so schnell eine passende Alternative finden würde. Manche Probleme lösten sich bekanntlich von selbst, und Sophie galt ja ohnehin nicht als sehr entscheidungsfreudig.

Marlene war sehr erschöpft von dem Tag und schlief schnell ein. Auch Barbara, Hans und der Großvater verabschiedeten sich bald, sodass Sophie irgendwann allein im Wohnzimmer stand und überlegte, was sie tun sollte. Sie war zu aufgedreht zum Schlafen, also setzte sie sich mit einem Glas Rotwein vor den Kamin. Das schwere Eichenholz knisterte und krachte bisweilen und verbreitete einen angenehmen Duft. Im Hintergrund lief leise Klaviermusik. Das Feuer und der Rotwein hatten sie gewärmt, aber auch ein Gefühl der Schwere erzeugt.

Sophie betrachtete ihren Vater auf dem Foto auf dem Kaminsims. Er hatte immer gern mit Holz gearbeitet. Ihren Schreibtisch hatte er gebaut, auch einen Tisch für die Küche der Eltern im ersten Stock. Und einen Stuhl. Das Schreinern war sein Hobby gewesen. Und ihre Mutter hatte gern gemalt. Waren das die geheimen Träume der Eltern gewesen? Sophie prostete dem Bild ihrer Eltern zu und sah ihren Vater in einer Schreinerei und ihre Mutter in einem Atelier, dann bei einer Ausstellung der eigenen Bilder. Ja, das hätte ihrer Mutter gut gefallen.

Und was würde ihr selbst gefallen?

Sophie stellte sich vor, einen Mann zu treffen, der sie vom ersten Moment richtig ansah und ernst nahm, der sie zum Lachen brachte, ohne albern zu sein, der seine Blicke nicht von ihr lassen konnte, ohne anzüglich zu sein, einen Mann, der ihre Neugier weckte, ohne verschwiegen zu sein, dessen Mund zum Küssen einlud, dessen Hände aussahen, als könnten sie Klavier spielen und ebenso sanft über ihre Haut streichen. Sophie spürte ein Kribbeln über ihren Körper jagen. Hatte sie nicht vor Kurzem noch bei Markus gelegen? War es so sehr Abschied gewesen, dass es ihre Sehnsucht nicht zu stillen vermocht hatte? Sie vermisste es, Haut an Haut mit einem Mann auf einem Bett zu liegen, im Sommer, wenn die Fenster offen standen und der Wind über eng umschlungene Körper strich …

Träumen ist wie Wünschen, Mama, nur besser.

Wieso ist Träumen besser?

Beim Träumen hat man alles, was man sich wünscht.

Aber dann wacht man auf.

Das macht nichts. Man muss Dinge ja nicht ewig haben, damit sie gut sind …

Nein, man musste Dinge nicht ewig haben, Glück hing nicht an der Dauer, sondern an der Absolutheit des Augenblicks. Auch das hatte sie sich immer wieder gesagt, damals bei Markus, als ihre Liebe groß und seine Zeit begrenzt war.

Sophie schenkte sich noch einmal nach. Sebastian meldete sich aus Amerika, und weil Sophie ohnehin noch nicht schlafen wollte, telefonierte sie mit ihrem Bruder über eine Stunde. Beide flüchteten sie sich in eine tröstende Vergangenheit, in ihre Kindheit und Jugendzeiten. Sie lachten sogar.

Irgendwann sagte ihr Bruder mit ernster Stimme: »Ich bewundere dich dafür.«

Sophie war so überrascht, dass sie nichts sagen konnte.

»Ehrlich, Sophie, ich hätte das nicht geschafft, ich wäre einfach abgehauen, aber du bist zurückgekommen.«

Noch lange hallten die Worte in Sophie nach, auch als sie längst im Bett lag und in die Dunkelheit starrte. Ihr Bruder war stolz auf sie.