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Trendfarben für Anfänger

Die ersten Wochen waren sie hauptsächlich damit beschäftigt, Routine in die neuen Abläufe zu bekommen und einige Dinge so aufzuräumen, dass nicht jeden Tag ein neues Chaos ausbrach. Marlene schlich um die Kisten in der Garage herum, als hoffte sie, irgendwann zu riechen, wo ihr geliebtes Pferd verpackt war. Wenigstens schimpfte sie nicht mehr jeden Tag.

Gerade als Sophie ernsthaft die Sorge beschlich, in Konstanz keine Wohnung zu finden, war ihnen das Glück dann doch hold: Eine hübsche Drei-Zimmer-Wohnung nahe der Schweizer Grenze wurde frei, weil das Paar ein drittes Kind bekam. Bei der Besichtigung musterte die Frau Sophie und die kleine Marlene und sagte lachend: »Für euch passt das, wir sind rausgewachsen.«

Und so half ihr Katrin bei dem zweiten Umzug innerhalb weniger Wochen – aus ihrem Elternhaus im Königsbau in eine Drei-Zimmer-Wohnung am Emmishofer Zoll. Das Stadtgebiet zählte zur Altstadt, war aber schon erschwinglicher. Hier standen keine prächtigen Fachwerkhäuser, dafür bezahlbare Mehrfamilienhäuser wie im benachbarten Paradies. Sophie hätte sehr gern dort eine Wohnung gefunden, wollte sich nun aber keinesfalls beschweren. Sie konnte überall mit dem Fahrrad hinradeln und war dabei dennoch nicht mittendrin im Trubel der Stadt. Das Stadtviertel rund um den Emmishofer Zoll war etwas in die Jahre gekommen, aber lebendig, und mit einem Lebensmittelmarkt, einem türkischen Gemüseladen, einem Bäcker und etlichen Restaurants sowie Kneipen in einem Radius von dreihundert Metern würde sie gut versorgt sein. Marlenes Kindergarten war fußläufig zu erreichen, dennoch murrte die Fünfjährige. Sie verstand nicht, weshalb sie schon wieder umziehen mussten, hatte aber die große Hoffnung noch nicht aufgegeben, nun endlich das Pferd wiederzufinden, das beim Umzug von Frankfurt nach Konstanz verloren gegangen war. Die Hoffnung teilte Sophie inständig, denn in finsteren Momenten befürchtete sie, das Pferd aus Versehen in Frankfurt in jene Kisten gepackt zu haben, die inzwischen entsorgt worden waren.

»Schön hier«, sagte Katrin zufrieden. Sie waren den ganzen Tag mit einem geliehenen Sprinter hin- und hergefahren, Marlene immer dabei, weil das Fahren in einem Sprinter ein solches Abenteuer war. Katrin zauberte eine Flasche Sekt aus ihrer Tasche und holte zwei Gläser aus der Küche. Der Korken sprang so schnell heraus, dass es schäumte und ein wenig auf den Fußboden tropfte, doch Sophie war zu erschöpft, um den Sekt sofort aufzuwischen.

»Ich gratuliere dir zu deiner neuen Wohnung, liebe Sophie«, sagte Katrin. »Wirst sehen, das wird alles gemütlich, auch wenn der Kamin uns natürlich fehlen wird. Das waren echt schöne Abende bei dir.«

Dreimal hatten sie im Februar gemeinsam am Feuer gesessen, und Katrin hatte von all ihren neuen Projekten erzählt und welchen Mann sie getroffen hatte. Sophie beneidete Katrin um ihre Energie. Jetzt saßen sie auf zwei Umzugskisten, tranken Sekt und blickten sich um.

Katrin zeigte auf eine Wand. »Dort kommt das Sofa hin.«

»Ich besitze kein Sofa«, sagte Sophie grinsend.

»Du wirst ein Sofa besitzen. Wir schauen gleich morgen, was die Kleinanzeigen so hergeben. Noch haben wir den Sprinter.«

»Okay«, sagte Sophie und schenkte sich nach. »So wie ich dich kenne, hast du schon was im Auge.«

Katrin zwinkerte. »Richtig.« Umgehend wirkte sie geschäftig und kramte ihr Handy raus, scrollte durch eine Liste, von der Sophie inzwischen gelernt hatte, dass es Katrins »heilige« Merkliste mit gespeicherten eBay-Kleinanzeigen war, aus der sie für die Freundin bereits so einige Schätzchen organisiert hatte und noch organisieren würde. »Hier, schau mal.« Katrin hielt Sophie das Handy hin.

»Das Sofa ist grün.«

»Das ist mint. Liegt voll im Trend.«

»Soso, im Trend.« Sophie schob das Wort in ihrem Mund hin und her und besah sich geziert ihre Fingernägel. »Dann passt es definitiv nicht zu mir. Trend und ich gehen getrennte Wege.«

»Das sieht doch super aus.«

»Jetzt mal ehrlich, eine helle Farbe und ein Kind? Ist nicht ideal.«

»Ach, komm, deine Tochter ist doch sehr manierlich.«

»Ist oder isst?«, fragte Sophie und lachte.

»Was ist mit mir?« Marlene stand mit ihrer Kuscheldecke im zukünftigen Wohnzimmer.

»Ach herrje, meine Süße, kannst du nicht schlafen?« Sophie breitete die Arme aus.

Marlene stand da, rieb sich die Augen und schien nachzudenken. Schließlich kam sie zu ihnen herüber, umarmte Sophie kurz und rollte sich anschließend auf dem weißen Flokati ein, der am Boden lag. »Ich schlaf hier, okay, Mama?«

Sophie ließ die Hand nach unten hängen und streichelte ihrer Tochter über die Wange. »Klar ist das okay, oder, Katrin?«

Katrin musste nicht mehr antworten, Marlene war bereits wieder eingeschlafen. Sie lächelte im Schlaf.

»Du hast schon Glück.« Katrin betrachtete die schlafende Marlene.

Sophie trank schnell von ihrem Sekt und hielt Katrin ihr Glas hin, damit diese nachschenken konnte. Glück, so hatte Sophie gelernt, war viel öfter eine Frage der Perspektive, als man wahrhaben wollte.

Sie holte tief Luft und ließ ihren Blick durch ihr neues Zuhause wandern: Ein paar Möbel standen bereits an ihrem Platz. Der Küchentisch, den ihr Vater gebaut hatte, vier bunte Stühle, die sie aus Frankfurt mitgebracht hatte und die ein Flohmarktfund waren. Sie war sehr glücklich, dass sie eine Wohnung mit Wohnküche gefunden hatte – ihrem Lieblingsort. Lieblingsort, ein kleiner Tagtraum blätterte vor ihr seine Flügel auf: sie in ihrer neuen Küche und dazu ein Mann, der ihre Küche als seinen Lieblingsort bezeichnete. Weil er selbst eine hochgestylte Designerküche sein Eigen nannte und sich in Sophies Küche mit den bunten Sammelsachen, die sich in all den Jahren mit Flohmarktbesuchen angehäuft hatten, eigentümlich wohlfühlte.

»Was ist?«, fragte Katrin. »Weshalb grinst du so?«

»Nichts. Ich hab nur in meine neue Küche geschaut und gedacht, dass das ein schöner Ort wird.« Sie zwinkerte ihrer Freundin zu. »Mit all den Trendfarben. Schau dir nur die Stühle an!«

Katrin legte eine Hand auf den Arm der Freundin. »So ist es recht. Deine neue Küche! Und ja, du hast verdammtes Glück gehabt mit der Wohnung. Das kann alles sehr gemütlich werden. Als Erstes holen wir morgen das mintfarbene Sofa. Das wird toll!«

Sophie lachte schallend. »Wenn nur die Kisten endlich versorgt wären. Ich kann sie nicht mehr sehen, ehrlich. Ich hab das Gefühl, dass ich seit zwei Monaten nur aus Kisten lebe.«

»Jetzt hast du es erst einmal geschafft. Durchatmen ist angesagt, durchatmen und ankommen.«

Sophie umarmte ihre Freundin. »Ich danke dir. Ohne dich –«

»Papperlapapp, natürlich hättest du das alles auch ohne mich geschafft. Du bist viel stärker, als du denkst.« Katrin deutete auf die schlafende Marlene. »Die hast du ziemlich gut hinbekommen.«

Marlene seufzte im Schlaf.

Katrin stand auf, stellte das Sektglas zur Seite und klatschte in die Hände. »Und jetzt machen wir uns an die Kisten. Der Tag ist noch nicht zu Ende! Hopp, hopp!«

Als bereits in der zweiten Kiste das verloren geglaubte Pferd auftauchte, jubelte Sophie regelrecht vor Erleichterung. Sie trug ihre Tochter in ihr Bett und legte das Stofftier dazu, das würde eine schöne Überraschung am nächsten Morgen werden.

Die Sektflasche war leer, als zehn weitere Kisten ausgeräumt und zusammengefaltet waren. Inzwischen waren sie beim »Unplugged«-Album von Nirvana angekommen. Sie holten sich zwei Flaschen Bier, setzten sich auf die bunten Stühle in der Küche und machten mit den Flaschen in der Hand ein Selfie für Sophies Bruder.

»Cheers«, kam postwendend zurück und ein küssendes Smiley. »Einen guten Start wünsche ich dir, Schwesterherz!«

Gegen Mitternacht fiel Sophie auf ihre Matratze. Nun hatte sie auch diesen Schritt geschafft. Morgen würde vielleicht ein neues Sofa einziehen, und Katrin wäre glücklich. Sie würde das als weiteren Triumph verbuchen. Dann also Mint, eine Trendfarbe. Irgendwie war das auch mutig, dachte sich Sophie und freute sich, wenngleich sie in jegliche mutige Aktion eher stolperte. Immerhin schienen ihr alle in ihrer Umgebung zuzutrauen, dass sie das alles hinbekam und die Weinstube irgendwann eigenverantwortlich führen könnte. Auch mutig. Von den anderen.

Bin ich mutig? Bei aller Angst vor der Rückkehr in die alte Heimat, vor diesem Zuviel an Erinnerung, vor dem Scheitern, gab es eine Sorge, die sie am meisten belastete: nie das Glück zu finden, einen anderen Menschen an ihrer Seite zu haben, für den sie selbst auch die Eine war …