10

Eine Rebe macht noch keinen Sommer

»Alles über Wein und Sophies Versuche, sich damit auszukennen.« Katrin hielt die Handykamera auf ihre Freundin gerichtet und lachte laut.

Sophie hob abwehrend die Hand und stapfte weiter durch die Weinberge bei Hagnau. »Weshalb nur hab ich mir das angetan? Und jetzt hör endlich mit der Filmerei auf.« Sie war genervt, vor allem davon, dass sie sich nicht merken konnte, was der Weinbauer ihnen erklärte, nichts über die Rebstöcke, wann sie geschnitten und gebunden wurden, nichts über die Rebsorten und die Weine, die daraus gekeltert wurden.

Dass ihre Freundin sie begleitete, war überaus freundlich, wobei Katrin hier gewiss eigene Interessen verfolgte.

Ein Weinseminar? Drei Tage in einem Weingut bei Meersburg? Das ist ja wie Urlaub.

Echt? Du kommst mit? Ich will da ungern allein hin.

Klar komme ich mit. Ich geh mal davon aus, dass da noch mehr Menschen teilnehmen? Auch männliche?

Gewiss, gewiss.

»Jetzt komm schon, das ist lustig. Du bist lustig.« Katrin hielt gnadenlos die Kamera auf Sophie gerichtet, die gerade wieder eine Haarsträhne hinter die Ohren steckte und ihr Hemd erneut hochkrempelte. Es war unerwartet heiß an diesem letzten Aprilwochenende.

»Ich will nicht lustig sein, ich will mir das alles merken können, aber in meinem Kopf herrscht Chaos.«

»Wie gefällt dir denn der Weinbauer?«

»Welcher? Senior oder Junior?«

Katrin verdrehte die Augen. »Du solltest mich ernster nehmen.«

»Weshalb?«

»Vielleicht verliebe ich mich irgendwann mal.«

Sophie musste lächeln. Ihr war durchaus bewusst, wie viel ihre Freundin für sie tat seit dem Tod der Eltern. Bisweilen hatte Sophie ein schlechtes Gewissen, wenn sie Katrin beobachtete, während die etwas voller Elan und Euphorie für sie erledigte. Neben ihr kam Sophie sich immer langsam, behäbig und geradezu antriebslos vor. Manchmal hatten sie und Chrissi gescherzt, dass Katrin der Hamster unter ihnen sei, immer in Bewegung.

»Und Action!«, rief da Katrin gerade und machte Sophie ein Zeichen weiterzugehen.

»Mann, kannst du nerven!«, schimpfte Sophie, machte aber eine Pose für die Kamera, als müsste sie geziert ihre Frisur richten. Sie konnte der Freundin auch nie lange böse sein. Wenn Sophie nur an den Umzug dachte, an den von Frankfurt ins Haus ihrer Eltern, da hatte Katrin diverse Umzugskisten einfach mal so gestemmt und die Stockwerke nach unten und in Konstanz wieder nach oben getragen. Dabei war sie keine eins siebzig.

Sophie hatte während ihrer Affäre mit Markus und anschließend als alleinerziehende Mutter ihre sämtlichen Freundinnen vernachlässigt, sich nur hin und wieder und oft halbherzig gemeldet, wenn sie mal zu Besuch war oder Sorgen hatte, um dann wieder abzutauchen. Katrin wusste das, wusste, dass Sophie gern in ihrem Schneckenhaus verweilte, es aber nicht böse meinte. Vielleicht war das der beste Charakterzug neben vielen anderen an Katrin: Sie bewertete kein Verhalten und zog niemals voreilige Schlüsse. Für sie war Sophie ihre beste alte Freundin, und dabei blieb es. Unerschütterlich. Und so war es möglich, nach all den Jahren wieder dorthin zurückzukehren, wo sie sich über fünfzehn Jahre zuvor getrennt hatten.

Wir bleiben beste Freundinnen.

Für immer.

Für immer.

Komme, was da wolle …

Komme, was da wolle …

»Also, wie gefällt dir der Weinbauer?« Katrin ließ nicht locker.

»Wenn ich dir antworte, hörst du dann auf zu nerven?«

Katrin rollte mit den Augen. »Wer weiß, wer weiß?«

»Der Senior gefällt mir besser. Ich nehme an, das kommt dir gelegen?«

Katrin lachte. »Ach, süße Sophie, was machen wir nur mit dir?«

»Ich weiß, ich bin hoffnungslos. Konzentrieren kann ich mich auch nicht. Was hat er gerade erzählt?«

»818 gab es den ersten Rebstock am Bodensee. Drüben auf der Reichenau. So ein saurer Plunder, den die Pfaffen als Messwein –«

»Pst!« Sophie hob den Zeigefinger an die Lippen und bedeutete der Freundin zu schweigen. Der Weinbauer senior, Heinrich Großberger, war überraschend aus einem Seitengang zu ihnen getreten und stand nun direkt hinter Katrin.

»Abt Heito I., um genau zu sein, meine Damen. Wir sind aber weiter, also in der Führung und auch mit den Weinen. Hier, kostet mal.« Er reichte Sophie einen kleinen Becher. Sie nippte daran und ließ eine unerwartet fruchtige Note durch ihren Mund gleiten. Anschließend reichte sie Katrin den Becher, und die probierte ebenfalls.

»Und?« Großberger lächelte breit. Offenbar nahm er ihnen die Unaufmerksamkeit nicht übel. »Nicht sauer, oder?«

Katrin schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie man es richtig sagt, aber es schmeckt ganz leicht und nach Früchten, aber«, sie hakte sich bei Sophie ein, »sie hier muss so schnell wie möglich Weinkennerin werden, weil sie ja die Weinstube Sonnbach …« Katrin brach ab.

Der alte Weinbauer nickte. »Ja, ich hab’s mitbekommen. Schlimme Sache, Sophie, schlimme Sache. Ich kenne deine Familie, seit ich denken kann. Dein Großvater hatte dich schon dabei, als du kaum laufen konntest.«

»Ach was, das wusste ich gar nicht.« Katrin sah verwundert zu Sophie.

»Ich auch nicht«, sagte Sophie leise.

»Du warst lange weg, Sophie, viel zu lange.« Er schenkte noch einmal nach. »Ein Weißburgunder. Hier am Bodenseeufer wachsen die Reben auf Böden, die die Eiszeit geprägt hat. Moränenschotter liegt auf Süßwassermolasse. Das bedeutet, dass immer eine gewisse Feuchtigkeit herrscht, für die Reben ist das gerade in den trockenen Monaten ideal. Daher besitzen diese Weine eine Leichtigkeit, wie ihr es richtig bemerkt habt, eine fruchtige Note obendrein. Wir würden auch ›Eleganz‹ dazu sagen.«

Katrin trank noch einen Schluck mit geschlossenen Augen. Sophie konnte sehen, dass sie in ihrem Mund nach den Aromen suchte, nach der Geschichte des Weines. Katrin war schon immer sehr sinnlich, sie liebte es, Dinge in ihrem Innersten zu erfahren, leidenschaftlich, bewusst, ganzheitlich. »Schmeckt wunderbar und ist irgendwie erfrischend«, sagte sie. »Und er kribbelt in den Fingerspitzen.«

Großberger lachte. »Schön gesagt. Kommt mit, mein Sohn und die anderen sind schon eine Etage weiter.«

Die nächste »Etage« entstand durch die Hanglage. Der Junior, der Peter hieß, erzählte gerade über die klimatischen Bedingungen am Bodensee, die durch den großen See begünstigt wurden.

Sophie hinkte seinen Erklärungen allerdings hinterher. Sie war mit ihrem Großvater hier gewesen? Weshalb hatte er das nicht gesagt, als sie ihm von dem Weinseminar erzählte? War sie auch mit ihren Eltern hier gewesen?

»Wir haben hier rund tausendvierhundert Sonnenstunden in der Vegetationszeit bis Oktober und dennoch eine gute Niederschlagsmenge. Außerdem haben wir in der Bodenseeregion einen Temperaturdurchschnitt von knapp neun Grad, das ist ein großer Vorteil. Selten nur wird Frost für unsere Rebstöcke ein Problem.«

Katrin hörte aufmerksam zu und nickte immer wieder. Sie will nicht nur einen guten Eindruck bei Peter machen, sondern sich auch deshalb möglichst viel merken, um mich beim Lernen zu unterstützen, dachte Sophie. Sie hatte wirklich großes Glück mit ihrer Freundin.

»Baden ist übrigens das drittgrößte Anbaugebiet für Wein in Deutschland, und mittlerweile genießen die badischen Weine international einen guten Ruf. Darüber hinaus haben wir die höchsten Weinberge Deutschlands drüben auf dem Hegau und auch noch die südlichsten hier bei uns. Bei einem Probiererle unten in unserem Hof könnt ihr euch gern von unseren Weinen überzeugen.«

Applaus der Teilnehmenden. Peter sah direkt herüber zu ihr, erwartungsvoll. Hatte er eine Frage gestellt? Sophie klatschte verlegen. Ihr war heiß, sie hatte das Gefühl, dass alle Informationen nur so durch sie hindurchgeflossen waren. Sie merkte auch die zwei Schlucke Weißwein, und überall kitzelte es an ihren Beinen, als wären dort Ameisen unterwegs, doch wann immer sie hinsah, waren es nur die Grashalme. Unbeholfen kratzte sie sich mit dem Fuß das Bein und wechselte dann die Position. Jetzt winkte Katrin Peter zu. Und der? Winkte zurück und zwinkerte. Weshalb? Sophie hatte offenbar einen Teil der Geschichte schon verpasst.

Für die angekündigte Verkostung landeten sie mit acht weiteren Gästen in dem Innenhof des Weingutes von Peter und seinem Vater, Heinrich Großberger. Sie saßen an Biertischen, auf denen Kerzen sowie Teller mit Brot und Käse verteilt waren. Verschiedene Weine wurden präsentiert, einige Burgundersorten, dann ein Schwarzriesling und ein Chardonnay. Sophie fiel es schwer, die verschiedenen Geschmacksnuancen auseinanderzuhalten, während Katrin schnell zu lernen schien und bei der Beschreibung des Geschmacks immer wieder Anerkennung erntete.

»Du hast wirklich ein gutes Gespür«, sagte Peter.

»Und wie ist es mit dir, Sophie?«, fragte Großberger senior.

Sophie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht so recht. Ich weiß, dass mir etwas schmeckt und dass mir etwas nicht schmeckt, aber ich kann nicht richtig beschreiben, weshalb.«

»Keine Sorge, das lernt man mit der Zeit.«

Das wäre schön, dachte Sophie. Die Runde wurde geselliger, es gab noch mehr Käse und Brot, Dips, Oliven, getrocknete Tomaten und Feigen sowie weitere Weine. Am besten schmeckte Sophie der blaue Spätburgunder.

»Das ist unsere anspruchsvollste Rotweinrebsorte«, sagte Peter. Inzwischen saßen er und Katrin nah beieinander und sahen sich immer wieder an. Sophie verabschiedete sich nach dem zweiten Glas Spätburgunder, der ihre Zunge hatte schwer werden lassen, und fiel wenig später erschöpft in ihr Bett in dem schönen kleinen Hotel neben dem Weingut in Hagnau. Sie hörte vom Hafen die Stimmen jener, die in der lauen Frühlingsnacht noch draußen unterwegs waren. Sollte sie sich nicht auch noch aufraffen? Wenn sie schon einmal ohne ihre Tochter war. Marlene schlief gewiss schon längst, ihre Kuscheldecke in den Armen.

Sophie schloss die Augen und tauchte ein in die Geräusche der Nacht. Die Bewegung des Wassers, der ans Ufer schlagenden Boote, Schritte und Lachen. Die Nacht fühlte sich lebendig und warm an, ein Hauch strich über ihren Körper. Verlockend. Ihre Haut kribbelte. Sie stellte sich vor, sie wäre auf einem Boot, läge dort auf dem Deck und schaukelte sanft hin und her – gehörte da nicht ein Mann in den Traum? Ein Mann, große weiche Hände mit schlanken Fingern, lachenden Augen und geschwungenen Augenbrauen. Den Geschmack von Sonne auf den Lippen des anderen suchen. Gehalten werden, nicht flüchten können, sich ganz auf den anderen …

Sophie lauschte auf die Wellen, die Stimmen, ihr Herz und die tiefe Männerstimme in ihrem Traumbild, die ihr dort auf dem Boot erzählte, wie elegant der Flug der Möwen wieder war. Seine Fingerspitzen strichen ihr über den Nacken und wanderten langsam auf ihrem Rücken die Wirbelsäule nach unten, sie berührten ihre Haut so sacht, dass sie auch Wind sein könnten, nur wärmer und weicher; er erzählte von den Küssen, die sie tauschen sollten, und von den glitzernden Wellenspitzen und dass es gerade so ausgesehen hätte, als wären Delphine neben dem Boot – zack, Wassertropfen auf ihrem Bauch, und dann landeten Küsse dort, und sie würden beide lachen.

Sophie rollte sich auf die Seite und zog die Bettdecke über den Kopf, plötzlich störten sie die fröhlichen Stimmen von draußen, währenddessen verbrachte Katrin die Nacht bei dem jungen Weinbauern, der so charmant lächelte, wenn er von den Rebsorten erzählte und bestimmt zehn Jahre jünger war, aber das hatte Katrin noch nie gestört. Sophie konnte sich das nicht vorstellen, einfach eine Nacht mit einem fremden Mann zu verbringen, sie brauchte Nähe, Vertrauen und eigentlich auch immer Liebe. Nur deshalb hatte sie sich auf Markus eingelassen. Bei Licht betrachtet, ergab sich eine eher nüchterne Analyse: Sie war immer nur die Affäre von Markus gewesen. Er hatte in Sophie weder eine Partnerin auf Augenhöhe noch die Mutter seiner Kinder gesehen. Sie jedoch hatte das erst wahrhaben wollen, als seine Frau schwanger im Büro vor ihr stand.

»Sophie, bist du noch wach?«

Sophie fuhr erschrocken hoch. »Katrin?« Sie stand auf und lief zur Tür. »Was machst du denn hier? Ich dachte, du wärst bei –«

Katrin legte den Finger auf die Lippen. »Nicht so laut. Muss ja nicht jeder mitbekommen. Kann ich rein?«

Sophie trat zur Seite. »Ist ja auch dein Zimmer. Was ist passiert?«

»Nichts.« Katrin legte ihre Kleidung auf den Sessel und stieg in ihre Betthälfte. Sie zog sich die Bettdecke bis zum Hals. »Brr, war das jetzt kalt. Komm, leg dich wieder hin und kuschel dich an mich. Ich bin total durchgefroren.«

Grundsätzlich hatte Sophie nichts dagegen, ihre Freundin in den Arm zu nehmen, aber gerade kam es ihr seltsam vor. »Versteh mich nicht falsch, aber du –«

»Mein Gott, Sophie, das war ein Spaß. Komm einfach ins Bett. Ich bin müde.«

Sophie legte sich wieder auf ihre Bettseite und machte das Licht aus. Minutenlang war es still. Sie hörte wieder die Geräusche der Nacht, spürte, dass die Nachtluft deutlich kühler geworden war, hörte den unruhigen Atem von Katrin.

»Er war total nett, aber sein Geruch …«, flüsterte Katrin in die Dunkelheit.

»War nicht gut?«

»Doch, sehr gut. Zu gut. Er hat mich erinnert.«

Sophie wartete noch einen Moment, dann hörte sie das erste Schluchzen. Sekunden später drehte Katrin sich zu ihr, und Sophie nahm die weinende Freundin in den Arm. Sie hielt sie fest, streichelte ihr über die Haare, flüsterte ihr beruhigende Worte ins Ohr, bis Katrin in Sophies Armen einschlief wie ein kleines Kind.

Sophie lag noch lange wach, lauschte in die Stille der Dunkelheit und auf ihre Freundin und hörte wieder ihr eigenes Herz schlagen. Die Haut des jungen Weinbauers roch also so ähnlich wie jene von Katrins großer Liebe … Während sie den ganzen Tag über Rebsorten und das Terroir am Bodensee und über die verschiedenen Nuancen von Wein gesprochen hatten, hatte diese Erinnerung im Verborgenen vor ihnen gelegen, ohne dass sie das geahnt hätten. Wie oft im Leben war das wohl so?