Die Wochen vergingen, und bald schon war aus der einschneidenden Veränderung wieder Gewohnheit geworden. Marlene zum Kindergarten bringen, Barbara treffen wegen der Einkäufe, Hans die Weinbestellungen durchgeben, Großvater anrufen, mit Katrin Kleinanzeigen studieren. Sie hatten sich einen Sport daraus gemacht, Sophies Wohnung hübscher zu gestalten. Und es war ausgesprochen hübsch geworden, aber manchmal saß Sophie abends auf ihrem Sofa – ein zartrosafarbenes war es geworden, das Marlene wahre Verzückungsrufe entlockt hatte – und fühlte sich merkwürdig fremd, mehr noch, sie hatte das Gefühl, Gast in ihrem eigenen Leben zu sein.
Der Großvater besuchte sie regelmäßig in der Weinstube, und immer wenn er sich an den kleinen runden Tisch in der Nähe der Theke setzte, wurde sie nervös. Meist saß er einfach dort vor seinem Glas und beobachtete sie, durchaus wohlwollend, bisweilen womöglich belustigt. Ihr war klar, dass sie nicht immer souverän und professionell war, und so gab sie sich besondere Mühe, wenn er da war – und behielt ihn ihrerseits im Auge. Zur Sicherheit. Seine Augenbrauen waren mit den Jahren über der Nase zusammengerückt, sodass er mürrischer wirkte, als er es vielleicht war. Auch sein Kopf schien ihr jedes Mal ein wenig weiter nach vorne gebeugt, die Schultern etwas höher gewandert, als wolle er sich verstecken in seiner eigenen Gestalt.
Irgendwann fällt sein Kopf einfach auf das Glas vor ihm, dachte Sophie. Wie wäre sie mit über neunzig? Ein halbes Jahrhundert später, die eigene Tochter bereits über fünfzig – worüber würde sie grübeln? Es war schwer, sich das Alter vorzustellen, die eigene Angst vor der abnehmenden Zeit, die Endlichkeit vor Augen. Stets hob der Großvater irgendwann die Hand und deutete auf sein Glas, dann brachte Sophie ihm entweder einen Müller-Thurgau oder einen Riesling, je nachdem, was er für diesen Tag gewählt hatte, und immer trank er nur diese zwei Gläser. Sophie war noch nicht hinter sein Geheimnis der Auswahl gekommen – gerade und ungerade Tage? Der Großvater besah sich den Wein im Licht, wiegte ihn im Glas hin und her und probierte dann, als könnte der Geschmack sich von Woche zu Woche ändern. Nach ein paar Wiederholungen beschlich Sophie der Verdacht, dass es kein Probieren war, vielmehr ein Festhalten an einem Ritual. Rituale gaben Sicherheit. Sie wusste das.
»Du machst das ganz gut«, sagte er an einem sonnigen Dienstag im Mai, als sie ihm einen Flammkuchen brachte. Es kam so beiläufig wie unerwartet, dass Sophie zunächst dachte, sie hätte sich verhört. Sein Gesichtsausdruck hatte sich kaum verändert.
Eine Woche später, sie hatte gerade ein Pärchen beraten, sagte ihr Großvater: »Wie viel du gelernt hast. Das hätte ich nicht gedacht.«
Als sich ihre Blicke trafen und eine prüfende Weile aneinander hängen blieben, begriff sie: Dort lag neben der Anerkennung noch etwas anderes. Er war nicht hier, um sie zu kontrollieren. Er war auch nicht hier, um sein Weinritual zu pflegen. Er war hier, um in ihrer Arbeit die letzte Spur seines Sohnes zu sehen. Und auch das war inzwischen zu einem Ritual geworden, das ihm Sicherheit gab.
Auch Sophie hatte ein neues Ritual: der Wochenmarkt auf dem St.-Stephans-Platz am Dienstag und am Freitag. Gleich frühmorgens, wenn sie Marlene in den Kindergarten gebracht hatte, schlenderte sie dort über den Platz und kaufte für sich ein. Und jedes Mal hatte sie neue Ideen, was sie kochen könnte. Sie kochte gern, vor allem, wenn Katrin zu Besuch kam, denn die war experimentierfreudiger als Marlene. Ihre Tochter hatte nämlich die hinreichend bekannte Grün-Allergie.
»Mama, wenn ich grünes Essen seh, dann muss ich niesen. Ehrlich. Haaaatschi. Siehste?«
Und Rosinen waren auch gefährlich, die sahen nämlich aus wie Kaulquappen, und die sollte man nicht essen, sonst quakte es im Bauch irgendwann.
Kindergarten – Weinstube – Wochenmarkt – Großvater – Katrin. Nur zu Besuch. Übergangsstationen. Wohin? Ihr kam das Leben vor wie eine Insel, auf der sie gestrandet war. Auf einer Insel konnte man nur schwer flüchten. Lediglich im Kreis rennen. Einfach immer weiter, bis manche Probleme sich von selbst auflösten. So dachten vermutlich auch die ganzen Hamster in ihren Rädern, während kreischende Kinder vor ihren Käfigen saßen und sich freuten. Ob man die ganze Energie nicht einfach in Strom umwandeln könnte? Und wie viele Hamster man wohl benötigte, um eine Kaffeemaschine zum Laufen zu bekommen?
Sophie seufzte. Seit einigen Tagen war es ungewohnt ruhig in der Weinstube. Das war nicht gut, zu viel Zeit zum Nachdenken. Markus hatte geschrieben. Er wollte sie besuchen in ihrem neuen Zuhause, sie treffen, schöne Hotels für sie beide hatte er schon recherchiert. Sophie wusste, worauf das hinausliefe.
Sie rutschte auf dem Barhocker hin und her und schielte auf die Haarsträhne, die ihr ins Gesicht hing. Im Gegenlicht konnte sie einen Schimmer entdecken. Ein graues Haar. Sie widerstand dem Impuls, es auszureißen.
»Du weißt schon, dass das Quatsch ist«, hatte Katrin unlängst zu ihr gesagt. »Wenn du eines ausreißt, kommen drei zur Beerdigung.«
Pah, dachte Sophie, ihre Freundinnen hatten gut reden. Katrin und Chrissi waren beide hellblond. Bis man da graue Haare sehen würde, spielten sie in einer anderen Altersklasse.
»Mama, kommst du in den Garten?«
Marlene war wie jeden Nachmittag in der Weinstube. An schönen Tagen saß sie in ihrem Sandkasten. Sie war nun nicht mehr nur »halb sechs«, sie war jetzt schon »drei viertel sechs« Jahre alt, wie sie kürzlich erklärt hatte. Sie war ebenfalls blond, und Sophie grämte sich bisweilen, dass sie nur von blonden Menschen umgeben zu sein schien. Einer blonden Tochter, die man immer den Freundinnen zuordnete, blonden Freundinnen, die keine grauen Haare bekamen, obwohl auch sie über vierzig Jahre alt waren. Chrissi war sogar schon fünfzig, aber das sollte keiner wissen, also waren sie alle vierzig geworden im letzten Jahr.
»Maaamaa!«
Der Ton wurde energischer, und Sophie richtete sich auf.
»Was denn, Schatz?«
»Spielen. Sandkasten. Kuchen. Backen.« Militant konnte Marlene schon ganz gut.
»Ich kann nicht, ich muss arbeiten«, flötete Sophie zurück und sah in die leere Weinstube.
»Hier ist doch niemand!«
Sophie zuckte zusammen. Marlene stand unmittelbar vor dem Tresen, die Hände empört in die Seite gestemmt.
»Es kommt bestimmt gleich jemand«, sagte Sophie so freundlich wie möglich. »Und schleich dich nicht immer an!« Sie war erschöpft vom Tag, obwohl sie wenig getan hatte. Es war anstrengend, auf Besuch zu sein, anstrengend, sich angemessen zu verhalten, in Rollen zu schlüpfen, vor allem wenn man innerlich daran festhielt, dass alles nur vorübergehend sein würde.
Marlene drehte sich demonstrativ um und starrte zur Tür. Sophie war kurz davor, die Daumen zu drücken, damit bitte Gäste erscheinen mochten. Auch wenn sie die Zeit mit ihrer Tochter genoss, die ihr morgens um fünf Uhr gern erklärte, dass es viel besser sei, früh aufzustehen, weil man sich dann länger lieb haben konnte. Dennoch, sie hatte einfach keine Lust, Sand in kleine Förmchen zu pressen und »Kuchen« zu backen.
Die Tür ging auf, und Marlene drehte sich erstaunt um. »Da kommt jemand, Mama«, sagte sie, und ihr Mund blieb offen.
Sophie freute sich über die Abwechslung. »Guten Tag. Möchten Sie vielleicht draußen auf der Terrasse –«
»Wir wollten nur fragen, wie wir zum Münster kommen. Das ist doch hier in der Ecke, oder?«
Das Münster. Touristen. Altstadt. Sophie schluckte die Enttäuschung hinunter und lächelte immerzu.
»Mama, warum grinst du so? War was lustig?«
»Ach, die ist ja süß. Ihr Kind?« Die Dame war vielleicht Anfang sechzig und sehr elegant gekleidet. Sie erinnerte Sophie an die Frau im Zug, als sie Konstanz im Januar verlassen hatte, um ein letztes Mal nach Frankfurt zu reisen. Ihr Dialekt verriet, dass sie nicht aus der Gegend war. Sophie tippte auf den hessischen Sprachraum. War Gertrud damals nicht auch aus Hessen gewesen? Sophie wusste es nicht mehr.
»Ja, das ist meine Tochter. Marlene, geh doch schon mal in den Garten.«
»Sie haben hier einen Garten? Hier in der Innenstadt von Konstanz? Das ist aber schön.«
»Ja, falls Sie Ihren Münster-Besuch verschieben möchten, könnten Sie auch einen unserer Weine versuchen. Mein Onkel ist Weinbauer. Wir präsentieren hier neben unseren eigenen Weinen ausschließlich Weine aus der Region.«
Marlene stellte sich artig auf. »Der Onkel macht sehr guten Wein. Ich darf den immer probieren.«
»So«, sagte die Dame und sah sich in dem Weinlokal um. »Darfst du?« Sie lachte.
»Den Saft, Marlene, den Saft darfst du probieren.«
Marlene machte große Augen. »Gar nicht den Wein?«
»Nein, der ist mit Alkohol.«
»Aber dann sind alle immer lustig. Wieso darf ich den nicht …?«
Die Dame drehte sich zu ihrem Mann, der ein wenig unbeteiligt neben ihr gestanden hatte. »Und? Was meinst du, sollen wir unseren Stadtrundgang für heute beenden und hierbleiben?«
Er schob die Mundwinkel von links nach rechts. Auf der Stirn hatte er einen leichten Sonnenbrand. »Hm«, brummte er.
»Na komm, Schatz, lass uns flexibel sein. Das Münster rennt nicht weg. Da gehen wir einfach morgen hin.«
Sophie führte das Ehepaar an einen der Tische in dem kleinen Garten, der neben dem Weinlokal lag. In der Mitte stand eine große alte Kastanie, die im Sommer ausreichend Schattenplätze bot, gleichwohl schimmerten überall Sonnenstrahlen durch das Blätterdach. Wie auch jetzt am frühen Abend. Es war außerdem noch sehr mild. Der Mai verwöhnte sie mit frühsommerlichen Temperaturen.
Sophie brachte den beiden einen Ruländer Rosé, frische und spritzige Leichtigkeit hatte sie versprochen und die Aromen Birne und Honig. Das Vokabular hatte sie inzwischen gelernt, aber noch lange nicht verinnerlicht. Weine schmeckten filigran, samtig, seidig, fruchtig, vollmundig, feinwürzig, mineralisch, temperamentvoll, feurig, und immer wenn Sophie eines dieser Adjektive verwendete, musste sie schlucken – als wollte sie die Tatsache vertuschen, dass sie nichts von alldem wirklich empfand.
Katrin hingegen hatte sich schnell in diese Welt eingefunden und war begeistert davon, endlich mehr über Weine zu wissen. Sie hatte freiwillig ein weiteres Seminar besucht. Der dortige Weinbauer sei zwar nicht so gut aussehend gewesen wie Peter, aber er habe auch nicht einen solch vertrauten Geruch verströmt.
Jetzt wartete Sophie gespannt am Tisch des älteren Ehepaares und hoffte inständig, die beiden würden sowohl die Birne als auch den Honig herausschmecken. Der Mann lächelte. »Wunderbar«, sagte er. »Da haben Sie uns einen sehr guten Wein empfohlen, vielen Dank.«
Die Frau zwinkerte Sophie zu. »Das schafft man nicht so leicht.«
Innerhalb der nächsten Stunde füllte sich das Weinlokal, der Koch nahm seinen Dienst auf, und die beiden Frauen, die in der Küche und beim Bedienen halfen, waren im Einsatz. Um halb acht kam Tante Barbara vorbei und holte Marlene ab, die wie immer nicht gehen, sondern lieber an dem letzten freien Tisch sitzen und malen und Menschen beobachten wollte. Das tat sie mit Begeisterung. Hin und wieder, wenn Sophie das nicht rechtzeitig verhindern konnte, lief Marlene auch an einen Tisch und stellte unvermittelt Fragen zum Gespräch, das sie in Bruchstücken verfolgt, aber meistens natürlich nicht verstanden hatte. Sophie fühlte sich oft an ihre eigene Kindheit erinnert, als wäre sie in ein Zeitloch gefallen. Manchmal freute sie sich, über Marlene und diese Erinnerungsschnipsel, doch gab es Momente, da waren es Stiche ins Herz.
Drei, vier Sätze brauchte Tante Barbara in der Regel, um Marlene zum Gehen zu überreden. Die Tante würde sie ins Bett bringen und warten, bis Sophie nachts die Weinstube schloss.
Ein neuer Gast betrat die Weinstube, sah sich um und setzte sich an den letzten freien Tisch gleich neben dem Eingang. Er hob die Hand zum Gruß.
Sophie nickte ihm nur kurz zu, war aber mitten in einem Gespräch mit Gästen, die sie über die Jahrgänge verschiedener Weißweine ausfragten. Sophie war schon längst am Ende mit ihrem Wissen und suchte händeringend nach einer Möglichkeit, sich aus dem Gespräch auszuklinken. Schließlich sah sie demonstrativ zu dem neuen Gast.
»Oh, ich glaube, ich muss Sie jetzt verlassen«, sagte sie so freundlich bedauernd wie möglich. »Da ist gerade noch ein Gast gekommen.«
»Gehen Sie nur, Frau Sonnbach, und bringen Sie uns einfach beide Jahrgänge. Wir testen das mal.«
Der neue Gast kam ihr eigentümlich bekannt vor. Zunächst dachte sie an Frankfurt, vielleicht ein Kunde in der Firma. Er war ungefähr Mitte vierzig und hatte dunkle, leicht gewellte Haare. Ihre linke Augenbraue hüpfte leicht nach oben, ein Impuls, den sie nicht unterdrücken konnte, den ihre beiden besten Freundinnen aber zu deuten wussten. Ein interessanter Mann ohne weibliche Begleitung hatte Seltenheitswert in der Weinstube. Er winkte ihr zu und lächelte. Wieder ein Déjà-vu. Sie kannte ihn, wusste aber nicht, woher. Leicht federnd und elegant – wie ein Wein, schoss es ihr durch den Kopf – suchte sie ihren Weg durch die besetzten Tischreihen, was leider misslang. Sie fädelte bereits am zweiten Stuhlbein ein und kam ins Straucheln.
Stühlerücken, betretenes Räuspern, rote Wangen bei Sophie. Und die ganze Zeit beobachtete er sie und grinste. Unverhohlen. Sophie war sich sicher, dass er ihr Bemühen erkannt hatte. Betont langsam ging sie weiter. Weshalb auch musste ausgerechnet an diesem Tag das Lokal so voll sein? Zum Kuckuck, und weshalb nur war sie derart unsouverän? Katrin wäre gestolpert und hätte sich anschließend mit einem Lachen verbeugt. Sie konnte aus jedem Missgeschick einen Auftritt machen. Endlich stand Sophie an seinem Tisch.
»Ist aber auch ein gefährlicher Weg so querdurch.«
»Bitte?«
Er deutete auf die Tische. »Na, alles voll besetzt und Sie mittendurch. Da kann schon ganz schön was schiefgehen.«
Sie blinzelte. »Gewiss.« Sie war nervös, was sie ärgerte, denn es gab keinen Grund dafür. Oder lag es an dem angenehmen Geruch? Seine Augen funkelten hinter einer schwarz umrandeten Brille. Seine Haare sahen weich aus.
»Jetzt bin ich ja da.« Entschlossen atmete Sophie gegen das kribbelnde Gefühl in ihrem Bauch an. »Was kann ich Ihnen bringen? Möchten Sie die Speisekarte oder die Weinkarte?«
»Gern beides«, sagte er. »Aber ich weiß nicht, ob ich Sie noch einmal auf den Weg schicken sollte.«
Sophie musste lachen und irgendwie an Delphine denken, Delphine auf einem Boot und eine Stimme, die in ihrem Traum …
»Ich schicke einfach eine Angestellte«, sagte sie und dachte im nächsten Atemzug: Wie praktisch, jetzt weiß er, dass es meine Weinstube ist.
»Das wäre aber schade.«
Auch seine Stimme wirkte vertraut, angenehm tief und weich klang sie. Sophie holte tief Luft, ihr war warm geworden. Eine Haarsträhne kitzelte sie an der linken Wange. Beiläufig fuhr sie darüber – und war immer in seinem Blick. Für einen Moment stellte sie sich vor, er würde aufstehen und ihr die Strähne aus dem Gesicht streichen. Und nicht aufhören zu reden mit dieser warmen Stimme, die wie ein Mantel ihre Gedanken einhüllte. Ach! Nicht seufzen! Nur nicht seufzen!
Jetzt durfte er bloß nichts Falsches sagen, nichts Dummes, nichts, was diesen Moment …
»Dann bestell ich lieber gleich«, sagte er da. »Ich nehme eine Weinschorle. Süßsauer bitte.«