13

Auf die Zwischentöne kommt es an

»Mama, bist du schon wach?«

»Nein.« Sophie schielte auf den Wecker, der gerade mal sechs Uhr dreizehn anzeigte.

»Wenn du sprechen kannst, dann bist du doch auch wach, oder?« Marlene stand vor ihrem Bett und zog an der Decke.

Sophie hielt dagegen. »Nicht, Süße, es ist zu früh. Ich muss noch schlafen.«

»Aber wenn du doch wach bist, wär es schon besser, wenn du auch aufstehst.«

»Wieso?«

»Ich wollte Kaffee machen.«

»Oh.« Sophie war hellwach und setzte sich auf. »Was ist passiert?« Etwas schwerfällig stand sie auf, das war doch ungewohnt viel Bier am Vorabend gewesen, und folgte der munteren Marlene in die Küche. Dort sah sie die Bescherung: Marlene hatte in bester Absicht ein Filterpapier in die Kaffeemaschine gestopft, Wasser in den Tank gefüllt, wobei offenbar die Hälfte danebengegangen war, und sich das Kaffeepulver aus dem oberen Regal geangelt. Beim Runtersteigen von dem Küchenstuhl musste ihr die Packung aus der Hand gefallen sein, denn das Kaffeepulver lag pulvrig fein über Ablage und Boden verteilt. »Oje!«, seufzte Sophie. »Du sollst doch nicht allein auf Stühle klettern.«

»Ich wollte dir einen Kaffee bringen«, sagte Marlene schmollend.

Sophie umarmte ihre Tochter. »Das ist sehr lieb von dir. Jetzt machen wir das weg, und dann suchen wir einen praktischeren Platz für den Kaffee, damit du besser rankommst, okay?«

Marlenes Gesicht hellte sich auf. »Super, Mama. Und ich hol jetzt gleich mal ein Buch, dann kannst du vorlesen, während du deinen Kaffee trinkst, okay?«

Und so kam es, dass Sophie an einem Samstagmorgen um sieben Uhr an ihrem Küchentisch saß, Kaffee trank, aus »Ronja Räubertochter« vorlas und sich vorstellte, ein Mann würde aus ihrem Schlafzimmer kommen, sich an den Türrahmen der Küche lehnen und sie lächelnd und bewundernd beobachten. Bewunderung? Dafür, dass sie eine aufopferungsvolle Mutter war, dass sie ihre Tochter über alles liebte? Weshalb wünschte sich Sophie das so sehr, dass ihr jetzt ein kleiner Schauer über den Körper jagte? Obwohl, es war eher Anerkennung als Bewunderung, die sie sich wünschte. Und ganz plötzlich stand dort nicht irgendein Mann, sondern einer, der jenem Mann glich, den sie gestern erst am Kuhhorn gesehen hatte, jener Mann, der einen Hund namens Zottel besaß. Sophie stolperte durch die nächsten Zeilen.

»Also Mama, so kann das nicht heißen, guck noch mal. Da ging es um Pferde, nicht um einen Hund.«

»Oh ja, entschuldige.« Sophie räusperte sich, trank schnell einen Schluck Kaffee, der bereits nur noch lauwarm war. Konzentrier dich auf Ronja! Dieser Mann mit Hund hat nur einmal nett gelächelt, mehr nicht. Vielleicht sehen wir uns nie mehr wieder.

Um elf Uhr zog sie sich an und half auch Marlene bei der schwierigen Kleiderfrage. Bunt war immer beliebt, aber nicht immer den Jahreszeiten angemessen. Weshalb musste es an diesem Tag die pinke Winterjacke sein? Es musste. Also schlug Sophie des lieben Friedens willen vor, wenigstens eine etwas dünnere Strickjacke in Gelb mitzunehmen, um gegebenenfalls zu wechseln. Marlene dachte kurz nach und entschied glücklicherweise, dass dies kein schlechter Vorschlag war.

»Was machen wir heute in der Weinstube?«

»Dasselbe wie immer.«

»Auf Gäste warten?«

»Genau. Wir warten auf Gäste, dekorieren die Tische neu, und wenn dann Gäste da sind, bringen wir ihnen zu essen und zu trinken.«

»Soll ich singen?«

»Bis die Gäste kommen, gern.«

»Aber Mama, das hat doch keinen Sinn, dann hört es ja niemand.«

»Bin ich niemand?« Sophie machte ein trauriges Gesicht.

»Ach Mama, du bist mein liebster Niemand, also kein Niemand, aber auch kein richtiger Zuhörer.«

»Wieso das denn?«

»Du musst mir ja zuhören, das ist also nicht so, als wenn ich Publikum hätte.«

Sophie seufzte. Sie führte diese Diskussion nicht zum ersten Mal und würde sie vermutlich auch noch viele weitere Male führen, aber die Vorstellung, dass ihre kleine Tochter den Gesang eröffnete, während Gäste im Lokal waren, war eher suboptimal. Marlene sang laut und euphorisch und leider oft falsch, wenngleich es besser wurde, da sie gern und viel übte. Wie jetzt. Sie trällerte ein Filly-Liedchen, oder nein, es war der Regenbogenfisch, auch schön. Ging schlimmer, und je länger Sophie zuhörte und sich dabei frisierte, desto größer wurde ihr Staunen: Marlene war tatsächlich besser geworden.

»Und?«

»Toll, mein Schatz«, sagte Sophie und gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn.

Marlene strahlte. »Wieso gibt es eigentlich keine Musik bei uns in der Weinstube? Das wär doch super.«

In der Tat hatte Sophie auch schon darüber nachgedacht. Musik und Wein passten gut zusammen. Die Idee reihte sich ein zu einigen anderen, die sie in letzter Zeit gehabt hatte, wenn sie allein an ihrem Platz am Tresen in der Weinstube gestanden hatte. Was man alles neu machen könnte, wie sich Gäste mit Musik und Lesungen und regelmäßigen Weinproben gewinnen ließen.

Vor allem aber würde sie gern etwas an der Küche ändern. Die ewig gleichen, langweiligen Gerichte. Ja, manchmal überraschte sich Sophie selbst mit ihren Ideen, die sie auf dem Wochenmarkt oder abends auf dem Sofa beflügelten. Dann stellte sie sich vor, selbst in der Küche zu stehen und für Gäste zu kochen. Sie, allein. Eine große Verantwortung. Und dann würde sie zu den Gästen gehen und fragen, ob sie die feine Zitronennote in den Nudeln bemerkt hatten, und sie würde natürlich gelobt werden, und es gäbe jemanden, der sich in ihrer Küche zeigen lassen wollte, wie sie etwas zubereitet hatte …

Aber es war wie mit der einen Wand in ihrer Wohnung in Frankfurt. Zehn Jahre hatte sie überlegt, sie grün zu streichen. Doch es war nie so weit gekommen. Pläne schmieden war die eine Sache, etwas umzusetzen eine ganz andere.

Am Nachmittag saßen Barbara und Onkel Hans im Garten und tranken einen kühlen Müller-Thurgau. Barbara machte ein ungewohnt ernstes Gesicht, doch Sophie war gedanklich noch bei dem Gefühl vom Vormittag: ihre Sehnsucht nach Anerkennung für die Aufgabe, ein Kind großzuziehen. Etwas in ihr krampfte sich zusammen, faustgroß verdrängte es den Stolz, alles allein zu schaffen.

Sophie setzte sich zu ihrer Tante und hörte mit einem Ohr zu, wie die Bilanzen sich entwickelten, welche Weine in diesem Jahr aus der Ernte hervorgehen würden, beobachtete ihre Tochter im Sandkasten, wo der Kuchenberg immer größer wurde, und zwischendurch bediente sie einige wenige Gäste. Es würde sicher erst gegen Abend voller werden, wenn die Menschen vom See zurückkamen. Plötzlich erklang ein spitzer Kinderschrei. Sophie sah überrascht auf und folgte Marlenes Blick. Dort am Eingang zum Garten stand ein ihr wohlbekannter Mann, neben sich ein grauer Vierbeiner, der sich neugierig umsah.

»Ein Hund, Mama, schau doch, ein Hund!« Marlene ließ ihre Sandkastensachen liegen und lief zu dem neuen Gast. »Der ist aber süß, darf ich ihn streicheln?«

»Marlene, langsam.« Sophie eilte herbei und bremste ihre Tochter sanft, aber bestimmt. »Lass unseren Gast doch erst einmal –«

»Hallo. Ich bin übrigens Anton.«

»Wie schön, dass du wieder hergefunden hast.« Sie musste ganz leicht nach oben sehen, er war vielleicht einen Kopf größer als sie, lässig gekleidet mit Jeans und einem schwarzen Hemd.

»Hab ich doch gesagt. Die Weinstube hab ich mir gemerkt. Und ich muss ja auch noch wissen, wann der Flohmarkt ist.« Er legte den Kopf leicht schief, und sein Lächeln hinterließ ein Grübchen an der linken Wange knapp neben dem Bartansatz. Es wäre schade, wenn es komplett darunter verschwände.

Marlene sah verwirrt von ihrer Mutter zu Anton und zupfte Sophie am Rock. »Kennst du den Mann?«

»Er war schon einmal hier«, erklärte Sophie.

»Und wie heißt du?«, fragte Anton.

»Ich bin Marlene. Drei viertel sechs Jahre alt, und meine Lieblingstiere sind ein Pferd und Meerschweinchen und Hunde.«

Anton lachte und fragte: »Und hat deine Mama auch einen Namen?«

Marlene kicherte. »Außer ›Mama‹?« Sie fand das ungeheuer lustig. »Sophie heißt sie. Und sie ist älter, als sie aussieht.«

»Marlene, jetzt ist aber gut.« Sophie hielt Marlene eine Hand auf den Mund. »Möchtest du hier draußen sitzen, Anton?«

»Wenn es geht, Sophie. Du kannst den Hund gern streicheln, Marlene. Das ist Zottel, er ist sehr lieb. Nicht wahr, Sophie?«

»Den Hund kennst du auch schon? Wieso hast du das nicht erzählt?«

»Also, kennen ist jetzt zu viel gesagt … Wir gehen jetzt erst einmal zu dem Tisch dort drüben, und du«, Sophie schob Marlene vor sich her, »lässt den Hund mit seinem Besitzer erst einmal ankommen, verstanden?«

Marlene verdrehte die Augen. »Mama, du bist wieder anstrengend, weißt du?«

Sophie sah Anton an, sah, dass er sich ein Lachen verkniff, und hatte das Gefühl, in ihrem Magen sei ein ganzes Brausestäbchen gelandet. Wie gern hätte sie sich jetzt zu ihm gesetzt. Es war lange her, dass sie solch ein euphorisches Rauschen empfunden hatte.

Doch zunächst musste Sophie mit Barbara die nächste Woche besprechen. Dabei schielte sie immer wieder zu Marlene, die bei Anton am Tisch saß und den Hund kraulte. Sie war putzmunter und erzählte gestenreich.

Sophie war ein wenig in Sorge ob der Erzähllaune ihrer Tochter und versuchte, so oft wie möglich in die Nähe zu kommen, um wenigstens Gesprächsfetzen aufzuschnappen, doch ausgerechnet an diesem Nachmittag kamen tatsächlich mehr Gäste als normal, und das auch noch früher als gewöhnlich. Sophie war ständig gefordert, und noch immer kam sie sich fremd vor, wenn sie ihr Weinwissen bemühte, doch immer öfter gelang es ihr. Zu ihrem eigenen Erstaunen. Gerade erzählte sie über das samtig-weiche Aroma des blauen Spätburgunders, als Marlene zu ihr sah, etwas zu Anton sagte und sich dann die Hand vor den Mund hielt und laut prustete. Na toll, dachte Sophie, sie machen sich lustig, und gewiss fielen der Tochter jede Menge Anekdoten ein.

Einmal fragte Tante Barbara nach dem Mann bei Marlene, und Sophie antwortete schlicht, dass Anton schon einmal in der Weinstube gewesen sei. Die Tante kommentierte das mit einem süffisanten »Soso, ein Gast«, und Sophie errötete.

Ich bin wie ein Teenager, schalt sie sich, während sich um die Augen der Tante die Lachfältchen kräuselten. Sophie wusste, dass sich Barbara für sie freuen würde. Im selben Moment erklärte sich Sophie für verrückt, welches Hoffen sich da in ihr Gehirn – oder Herz? – mogelte.

Barbara und sie waren einander nähergekommen in den letzten Monaten, vielleicht weil Tante Barbara und Onkel Hans versuchten, das zu ersetzen, was Sophie verloren hatte – ihre Eltern, Geborgenheit, Sicherheit. Hans war nach wie vor der stille Begleiter, legte ihr ohne große Worte seine Hand auf die Schulter. Barbara war die Gesprächige von den beiden, sie fragte, wie es Sophie ging, und wenn die Antwort zu lange auf sich warten ließ, begann sie selbst zu sprechen. Dabei erzählte sie über die schmerzende Stille hinweg, hangelte sich von einem Satz zum nächsten, um nicht in die Trauer abzustürzen, so kam es Sophie vor, und manchmal hätte sie gern der Tante einen Finger sanft auf den Mund gelegt und ihr gesagt: »Hör mal, das ist der Klang der Stille. Wir müssen lernen, ihn zu ertragen.« Aber das tat Sophie nicht. Sie schwieg, hörte zu und wusste, dass der Trost der Tante für sie beide reichen sollte.

Gut, dass es Marlene gab. Himmel, Marlene saß immer noch bei Anton, der gern mit seinem Vater auf Flohmärkte ging, und streichelte den Hund, und jetzt lachte sie wieder ihr glockenhelles Lachen und schüttelte ihre strubbeligen blonden Haare.

Anton war inzwischen von Wasser auf einen leichten Weißwein umgestiegen. Sophie hatte den Moment genutzt und ihm auch eine Zucchiniquiche gebracht, die heutige Spezialität des Hauses.

Hoffentlich plauderte ihre Tochter nicht allzu viele private Details aus, das konnte durchaus passieren und peinlich werden. Dass die Mama ganz fürchterlich falsch in der Dusche sang, gehörte noch zu den harmlosen Dingen.

Es gab wesentlich Schlimmeres als falschen Gesang, Jogginghosen etwa, die schon Löcher hatten, aber innen so herrlich kuschlig waren. Der Alltag mit Kind hatte Sophie ein wenig schludrig werden lassen, es störte sie nicht, wenn Lego im Wohnzimmer verstreut lag oder ein Ponyhof aufgebaut blieb und man tagelang drübersteigen musste. Es störte sie auch nicht, dass sich die Kleiderauswahl einschränkte, bis sie wieder Lust hatte, eine Waschmaschine zu füllen. Und wenn es viermal die Woche Spaghetti gab, dann war das für Sophie auch völlig in Ordnung. Sie war nicht eitel, nicht überordentlich und vor allem nicht sehr akkurat. Sie verkaufte das meist als entspannte Flexibilität, wusste aber insgeheim, dass es Bequemlichkeit war. Katrin war da anders.

Sophie hetzte von einem Tisch zum nächsten, stöhnte ob der Hitze, wenn sie in die Nähe der Küche kam, freute sich über die Kühle im Weinkeller. Im Vorbeigehen hörte sie an einem Frauentisch einige Gesprächsfetzen. »Das wäre schade, wenn die Sonnbachs …«, und »Noch ein Lokal, das wegfallen würde«, doch Sophie hatte kaum Zeit, darüber nachzudenken, und war sich auch nicht sicher, ob sie das richtig verstanden hatte. Weshalb sollten die Sonnbachs schließen müssen? So schnell sie die Sätze aufgeschnappt hatte, so schnell waren sie auch wieder vergessen, stattdessen bemühte sich Sophie, im Garten eine gute Figur zu machen, und ärgerte sich über ihre wenig ambitionierte Kleiderwahl. Sie wünschte sich, ein wenig mehr wie Katrin zu sein, die immer auf ihr Äußeres achtete, weil jeden Tag ein interessanter Mann auftauchen könnte. Sophie hatte sich einfach schnell einen Rock mit Blumenmuster angezogen und eine Bluse darüber, von der sie gerade nicht einmal wusste, ob sie überhaupt zu dem Rock passte. Ein Pferdeschwanz und flache Sandalen. Kein Make-up, kein Schmuck.

»Hallo, Mama«, flötete Marlene. Ihre Tochter war ihr in das Innere der Weinstube gefolgt.

»Oh, wieder da?«, fragte Sophie und sah suchend in den Garten.

»Er ist weg«, sagte Marlene und machte einen Schmollmund.

»Ach.« Sophie konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen.

»Der Mann mit dem Hund musste gehen. Er hat aber bezahlt bei Kim.«

»Okay. Kommt er denn mal wieder?«, fragte Sophie und kam sich augenblicklich albern vor, doch Marlenes Gesicht begann zu strahlen.

»Ja, Mama, das hat er versprochen. Er hat auch gefragt, wann du Feierabend hast.« Sie grinste breit wie ein Honigkuchenpferd.

Sophies Herz machte einen kleinen Sprung, landete aber unsanft, als Marlene hinzufügte: »Aber ich hab’s ihm nicht verraten. Ich soll ja nicht so viel Privates erzählen, nicht wahr?«