»Hier hab ich was Interessantes.« Katrin hielt Sophie das Bodenseemagazin hin. Sophie starrte darauf, während sie den Teig knetete für die Quiche am Abend. Sie hatte eigenmächtig entschieden, eine kleine Tafel aufzustellen mit einer Handvoll Gerichten. Aus Trotz. Der Großvater hatte kein Recht, so über sie zu urteilen.
»Was ist das?«, fragte sie und wischte sich mit dem Handrücken eine Strähne aus dem Gesicht.
»Die Jungs sind Weintherapeuten. Die machen einen unterhaltsamen Abend.«
»Aha, und weiter?« Sophie warf den Teig immer wieder in die Schüssel.
»Ich dachte, du möchtest den alten Kasten hier ein wenig aufmöbeln.« Katrin sah auf den Teig in Sophies Hand. »Ich glaube, er ist jetzt weich geklopft genug. Das macht mir sonst echt Angst.«
Sophie folgte ihrem Blick. »Oh, ja doch. Ich bin echt sauer.«
»Auf deinen Großvater oder auf Anton?«
Sophie starrte ihre Freundin an. Das Gespräch mit dem Großvater steckte ihr noch in den Knochen, aber Katrin hatte nicht ganz unrecht. »Im Moment weiß ich gar nicht, wie lange ich hier noch planen muss.«
Katrin wedelte durch die Luft. »Quatsch. Dein Großvater kann erst einmal das Haus beleihen. Ich finde ohnehin, dass du da überreagiert hast. Das Haus würde in ein paar Jahren dir und deinem Bruder gehören – aber will einer von euch darin wohnen?«
Sophie zuckte die Schultern. »Es war schon sehr schön, dort aufzuwachsen.«
»Es ist zu groß, Sophie. Oder hast du mit Anton noch drei, vier Kinder geplant?«
Sophie verdrehte die Augen. »Sehr witzig. Immer rein in die Wunde. Der hat sich immer noch nicht gemeldet.«
»Komisch.«
»Ich verstehe es auch nicht. Ich hab wirklich gedacht, er mag mich. Aber dann verschwindet er einfach.« Sie deckte den Teig ab und stellte ihn in den Kühlschrank, seufzend ließ sie sich zu ihrer Freundin auf den Stuhl fallen. »Also, lass sehen, was ist das mit den Weintherapeuten?«
Katrin sah sie an und lächelte. »Weißt du, Sophie, vielleicht ist es einfach mal Zeit, eigene Pläne zu machen und umzusetzen, ohne die ganze Zeit darauf zu warten, dass andere die Pläne für dich machen.« Sie legte ihre Hand auf die von Sophie. »Auch Marlene wird älter. Wenn sie dieses Jahr in die Schule kommt, wird das auch ein Abschnitt. Du kannst sie nicht immer als Ausrede benutzen.«
Sophie blieb der Mund offen stehen. So deutlich hatte ihre Freundin noch nie mit ihr gesprochen.
»Marlene ist keine Ausrede«, sagte sie mürrisch. »Wie kommst du dazu, so etwas –«
»Sophie, das ist nicht böse gemeint, aber ich höre mir seit Jahren deine Sorgen an, deinen Kummer, dass irgendjemand deine Pläne durchkreuzt, aber weißt du, wer am allermeisten deine Pläne durchkreuzt?« Katrin machte nur eine kurze Pause, in welcher sie Sophie durchdringend ansah. »Du selbst.«
Sophie verschränkte die Arme. Was hatten plötzlich alle gegen sie? Erst der Großvater, jetzt auch noch ihre Freundin. »Ich weiß nicht, ob ich das jetzt auch noch brauche.« Sophie starrte an Katrin vorbei auf den Balkon. Ihre Kräuter sahen durstig aus.
Katrin stand auf, faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den Tisch. »Ich muss los. Meine Schwiegereltern erwarten mich.« Sie blieb stehen. Die Stille, die folgte, wurde lediglich von dem Tropfen des Wasserhahns unterbrochen.
Sophie hielt sich die Hand vor den Mund. »Ist heute …? Oh nein, es tut mir leid, ich hab es vergessen.«
»Nicht schlimm, ehrlich«, sagte Katrin. »Aber weißt du, es gibt genau eine Sache, die Pläne wirklich verhindert. Das ist dieser beschissene Tod.«
Sophie erhob sich und nahm Katrin in die Arme. Dann weinten sie beide.
Die folgenden Tage verbrachte Sophie wie in Trance. Sie erledigte die Hausarbeit, prüfte die Listen für das Weinfest, malte mit Marlene, aber immer wieder hatte sie das Gefühl, ihr Kopf folge der Realität etwas langsamer, als hätte sie winzige Aussetzer. Synkopen nannte man das wohl. Aber war das nicht ein neurologisches Problem? Oder konnte das auch eine angeknackste Psyche auslösen? Sie wusste es nicht.
Um sich aus der Lethargie zu befreien, griff sie nach der Zeitschrift, die Katrin ihr dagelassen hatte. »Die Weintherapeuten«, las sie laut vor und schüttelte den Kopf. Was es nicht alles gab. Die beiden boten einen Abend in der »Seeliebe« an, einem Strandclub in Sipplingen. Sie las sich das genauer durch und fand die Idee plötzlich nicht mehr so abwegig. Vielleicht sollte sie sich das einmal ansehen, es war schließlich nie schlecht, den Horizont zu erweitern, und sie hatte ohnehin, was Wein anging, noch viel Spielraum nach oben, vor allem wenn sie ihren Vater als Vorbild nahm.
Sophie hatte ihm gern zugehört als Kind, wenn er erzählte, dass ein Wein feurig oder mineralisch schmeckte, samtig-weich oder nach Pfirsichen. Wenn er dann einen Wein servierte und von der richtigen Temperatur sprach, damit die einzelnen Fruchtaromen in den leichten Weißweinen auch zur Geltung kamen. Birne, Beeren, Pfirsich – Wein konnte nach so vielem schmecken.
Ihr Vater hatte nicht einfach über Wein gesprochen. Es waren Geschichten gewesen, die von dem Land, den Düften, den Früchten und dem Wetter erzählten, von geografischen Bedingungen und den passenden Weinbauern dazu. Geschichten von Menschen, die das taten, was sie liebten. Es gehörte viel Leidenschaft dazu, Leidenschaft und Sorgfalt, Neugier auf die Natur und die Wechselwirkungen zwischen Erde und Sonne. Ihr Vater konnte begeistern, und alle Gäste behielten etwas in Erinnerung – einen Geschmack, eine Anekdote, den Klang seiner Stimme beim Erzählen. Menschen glücklich zu machen musste etwas Wundervolles sein, hatte sie gedacht. Und wenn sie dann zu ihrer Mutter hinüberblickte, so verstohlen, dann sah sie, dass auch ihre Mutter ihren Mann in solchen Momenten bewunderte.
Sophie saß auf ihrem Balkon und sah in den Hinterhof. Sie fröstelte.
Ihre Mutter hatte schon so lange von der Toskana geträumt. Es hätte ihr Urlaub werden sollen. Und dann noch diese USA-Reise, von der Sophie gar nichts gewusst hatte. Sebastian war noch immer am Boden zerstört.
Menschen glücklich machen. Im Gedächtnis bleiben. Das gelang nur, wenn man mit sich im Reinen war und genauso viel Leidenschaft in sich trug, wie man schenken wollte. Und dann tauchte aus dem Nichts dieser Anton auf und sagte ihr, wie großartig sie von Wein erzählen könne, nicht ahnend, welche Verbindungslinie in Sophies Vergangenheit das barg – um dann einfach zu verschwinden. Ja, Sophie war wütend, auf ihren Großvater, auf Katrin und auf Anton. Und am allermeisten auf sich, dass sie immer das Gefühl hatte, von irgendjemandem abhängig zu sein. Weshalb machte sie nicht einfach mal genau das, was sie selbst wollte?
Ihr Handy meldete eine Nachricht.
Ich hab den Flohmarkt verpasst. Ich wäre gern mit dir auf Schatzsuche gegangen, bitte entschuldige. Ich melde mich, sobald es geht, liebe Sophie. PS: Nicht stolpern, bis ich wieder da bin! Ich möchte dich am Stück wiedersehen. Anton.