18

Eine Erinnerungsspur

Am Abend vor dem Weinfest auf dem Stephansplatz war wie erwartet wenig los in der Weinstube. Die hochsommerlichen Temperaturen hatten die Stadt fest im Griff, im Radio sprachen sie bereits von einem der heißesten Sommer seit zwei Jahrzehnten. Immer öfter hörte Sophie, dass die Ernte bedroht war. Auch war der Wasserspiegel des Bodensees nahe am historischen Tiefststand. Gleichwohl würden die Menschen das Weinfest begehen, und die Feierlaune wäre ungebrochen.

Sophie hatte Marlene bei sich in der Weinstube behalten und saß mit ihr an einem Tisch. Marlene löste kleine Zahlenrätsel und war sehr stolz, dass sie schon das Wissen der ersten Grundschulklasse besaß. Um halb zehn schickte Sophie das Personal nach Hause und schloss wenig später die Tür. Ihr standen mit Sicherheit anstrengende Tage bevor.

Als sie gerade gehen wollte, stand plötzlich Anton vor ihr mit seinem Hund.

Marlene war so schlaftrunken, dass sie sich nur mit halber Kraft freuen konnte. »Oh, Zottel, da bist du ja endlich.« Sie umarmte den Hund, der ihr zum Dank einen Hundekuss aufs Ohr gab.

»Anton«, sagte Sophie erstaunt.

»Ja. Da bin ich. Hast du meine Nachricht nicht gelesen?«

»Deine Nachricht?«

»Ich hab dir geschrieben. Heute Abend. Ob ich vorbeikommen … Komme ich ungelegen? Hast du schon geschlossen?«

Ausnahmsweise hatte Sophie nicht mehr auf ihr Handy geschaut. »Ja, ich meine, nein, du kommst nicht ungelegen, aber ja, ich habe schon geschlossen.«

Anton legte den Kopf schief. »Was ist los?«

»Ich …«, Sophie lachte verlegen. »Ich hatte einfach nur keinen guten Tag.« Eigentlich keine gute Woche, dachte sie.

»Das tut mir leid. Aber vielleicht wird es ja jetzt ein besserer Abend?«

Verdammt, dachte Sophie. Anton tauchte plötzlich auf, nachdem er einfach verschwunden war. Was bildete der sich ein? Wieso glaubte er, dass ihr Abend mit ihm besser würde? Was wollte er überhaupt von ihr, und weshalb zum Kuckuck sah er so unverschämt gut aus?

»Soll ich euch nach Hause begleiten? Mit Zottel?«

»Au ja!«, rief Marlene begeistert. »Mama, das geht doch, oder? Dann gehen wir mit einem Hund nach Hause, als ob es unserer wäre. Das wär so schön, Mama. Bitte, sag Ja, oder ist das zu privat?«

Sophie ließ ihren Blick von ihrer Tochter zu Anton wandern und sah seine Augenbrauen nach oben hüpfen.

»Und?«, fragte er nach. »Zu privat?«

Sophie streichelte über den Kopf ihrer Tochter, die nun wieder munterer war. »Quatsch.«

»Oh, juchhu, Mama, du bist toll.« Marlene sprang aufgeregt zwischen ihrer Mutter und Anton hin und her.

Sophie sah Anton an und hatte das Gefühl, dass er sie verstand, ohne dass sie etwas sagen musste.

»Es kommen wieder bessere Tage«, sagte er, und es klang wie ein Versprechen.

Sie nickte schwach. Am liebsten hätte sie sich in seine Arme geworfen. Sie hätte seinen Atem gern an ihrem Hals gespürt und sich gern fallen lassen und ausgeheult und …

»Darf ich Zottel führen? Zu Hause zeig ich dir dann ein Geheimnis. Eigentlich drei.« Marlene kicherte.

»Soso«, sagte Anton. »Lohnt es sich denn?«

»Und wie«, jubelte Marlene. »Sie heißen Gustav, Nils und Krümel und …«

Sophie hörte nicht mehr, was ihre Tochter sagte. Sie starrte Anton an, und der Satz »Lohnt es sich denn?« mäanderte durch ihr Gedächtnis. Sie kannte ihn, kannte den Tonfall dazu, die Stimme, die Augen. Sie kannte auch das Gefühl, das sie bei dieser Stimme hatte – und gehabt hatte. Aber das ist nicht möglich, sagte sie sich und sinnierte über Schicksal und Bestimmung, über ihre Liebesromane, an die sie doch nicht glauben durfte, laut Katrin. Und plötzlich war sie da, die Erinnerung an einen Mann mit Hund, der den Raiteberg nach oben lief, hinauf zum Bismarckturm, von dem Sophie und ihre Tochter gerade hinunterliefen. Es war der Tag gewesen, an dem Sophie nach Konstanz zurückgekehrt war, weil sie von dem Tod ihrer Eltern erfahren hatte. Nur eine kurze, flüchtige Begegnung, die dennoch in ihrem Kopf ein Zuhause gefunden hatte. Der Mann mit Hut. Und sie hatte sich nicht getraut, etwas zu sagen. Jetzt war er wieder da.

»Sophie? Alles in Ordnung?«

Sophie schüttelte die alten Bilder ab und kehrte zurück in die Gegenwart, in der Anton lächelnd vor ihr stand. »Ja, klar. Wir gehen zu mir.«

»Uns, Mama, wir gehen zu uns. Und zu Nils, Krümel und Gustav. Zottel frisst die doch nicht, oder?«

Es gab Momente im Leben, die brannten sich auf ewig ins Gedächtnis ein. Momente voller Glück oder auch Trauer, Momente voller Wut oder auch Scham. Momente, die wie ein Tattoo auf die Erinnerungshaut gestochen wurden. Von manchen Momenten erfuhr man erst später, weil sie sich als Puzzlestück erwiesen für eine andere Geschichte. Manche Momente hingegen waren unzweifelhaft eigenständig. Jetzt war so ein Moment.

Anton betrat ihre Wohnküche, nachdem er die schon schläfrige Marlene drei Stockwerke nach oben getragen und mit ihr den Meerschweinchen Gute Nacht gesagt hatte. Sophie stand am Herd und stellte ihren Espressokocher auf die Platte. Als Anton kam, verschränkte sie die Arme und beobachtete ihn neugierig. Er lehnte sich in den Türrahmen und lachte. »Du hast also die Meerschweine gerettet.«

»Meerschweinchen«, sagte Sophie lächelnd.

»Wenn man etwas so Großes tut …«, zitierte Anton und hielt wie Marlene den Zeigefinger in die Höhe.

Und Sophie vollendete den Satz: »… dann kann man schon von Meerschweinen sprechen.«

Die Arme zu verschränken kam ihr plötzlich unpassend vor. Sie wollte nicht reserviert erscheinen, vielmehr jenem Gefühl Raum geben, das sich durch ihren Körper schlängelte wie vor Kurzem im Garten der Weinstube. Jetzt jedoch um einiges intensiver. Sie nahm die Arme vom Körper und stützte sie stattdessen auf die Arbeitsplatte ihrer Küchenzeile neben sich. Der Espressokocher gurgelte lauter. Noch lauter. Sophie reagierte nicht.

Anton nickte in Richtung Herd. »Soll ich mal?«

Sophie zuckte zusammen. »Herrje, ich bin …«, sie wischte sich mit der Hand die Haare aus der Stirn, lachte schrill und wollte nach dem Griff am Espressokocher greifen, kam aber mit den Fingern an die heiße Kanne und schrie auf.

»Oh Mist.« Anton eilte zu ihr. Er schob den Kocher vom Herd, schaltete die Platte aus und drehte Sophie zum Waschbecken, wo er ihre Finger unter fließendes kaltes Wasser hielt.

»Wieder besser?«, fragte er nach einer Weile.

Sophie starrte auf ihre Hand unter dem Wasserhahn, Antons Hände daneben. Schön sahen sie aus.

»Danke, geht wieder.«

Als sie am Tisch saßen und jeder einen halben Löffel Zucker in seine Espressotasse kippte, begann Anton, sich umzusehen, und Sophie, sich zu entspannen.

»Und du wohnst erst ein halbes Jahr hier?«

»Vier Monate«, antwortete Sophie und folgte Antons Blicken durch ihr Reich.

Er schüttelte den Kopf. »Erstaunlich. Ich kenn Wohnungen, die sehen nach Jahren nicht annähernd so aus.«

»Nicht annähernd so chaotisch?« Sophie lachte. »Ich leih dir Marlene gern einmal aus.«

»Was?« Anton sah sie verwundert an, dann wehrte er mit der Hand ab. »Aber nein, das wollte ich damit nicht sagen. So stimmig, so lebendig, so liebevoll, so nach Leben und den Menschen, die darin wohnen. Es sind Räume mit Charakter, und den hast du ihnen gegeben.«

»Oh.« Sophie nahm schnell einen Schluck Espresso. Sie schielte zu ihrer Küchenzeile. Dort stand noch eine Flasche Wein. »Möchtest du auch ein Glas?«

»Gern. Weißt du eigentlich, dass wir uns schon einmal gesehen haben?«

Sophie bebte innerlich. Sie war ihm im Gedächtnis geblieben? Und er mochte ihre Küche, ihr kleines Reich aus buntem Chaos.

»Sophie?«

»Ja, ich hatte auch das Gefühl. Dass wir uns kennen, meine ich.« Sie stand auf, holte zwei Gläser und brachte die Flasche und einen Korkenzieher mit zum Tisch. Anton entkorkte den Wein und schenkte ihnen beiden ein. Er hielt ihr sein Glas entgegen.

»Es ist sehr schön bei dir«, sagte er.

Glocken läuteten zur Mitternacht, Zottel fiepte im Schlaf, und die Meerschweinchen gaben leise Geräusche von sich. Sophie hörte ihre Uhr im Wohnzimmer ticken, so leise saßen sie einander gegenüber. Am liebsten hätte sie die Zeit angehalten, hätte Anton gebeten, bei ihr zu bleiben, diese Nacht und den nächsten Tag und …

»Was war los heute?«

Sie riss sich los von ihren Wünschen, die ihr plötzlich übereilt vorkamen. »Was meinst du?«

»Du sagtest, der Tag war schlecht.«

»Oh, ach so, das.« Sophie fuhr mit der Hand durch die Luft. »Du hattest recht.«

»Ja?«

»Der Abend wurde viel besser.« Sie grinste Anton an.

Er legte den Kopf schief. »Das freut mich zwar, aber so ganz kauf ich dir das nicht ab. Irgendetwas bedrückt dich.«

Sophie seufzte. Langsam nickte sie. »Stimmt. Ich glaube, ich war in letzter Zeit ungerecht zu einigen Menschen. Ich hab mich mit meinem Großvater gestritten, und ich habe Katrin enttäuscht. Meine Freundin. Du hast sie am See –«

»Ich erinnere mich. Weshalb?«

»Das ist …« Sophie ließ den Kopf hängen. »Das führt zu weit. Eine lange Geschichte. Ich hab ein wichtiges Datum vergessen.« Sie seufzte wieder. »Und ich war egoistisch. Ich hab mich nur um meine Sorgen gekümmert.« Und um dich, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Okay. Also den Streit mit deinem Großvater kann ich nicht beurteilen, aber Katrin habe ich ja kurz kennengelernt. Sie wirkte sehr offen und geradeheraus. Ich denke nicht, dass sie nachtragend ist.«

Sophie schüttelte den Kopf. »Nein, ist sie in der Tat nicht.« Nachdenklich drehte sie das Weinglas zwischen ihren Fingern. »Ich schulde ihr verdammt viel. Ohne sie hätte ich das alles hier nicht so gut hinbekommen.«

Anton deutete in Richtung Sophies Handy. »Dann schreib ihr doch jetzt einfach eine Nachricht, dass du an sie denkst.« Er zwinkerte ihr aufmunternd zu.

Sophie nickte und legte gleich los. Als sie die Nachricht fertig getippt hatte und ihr Handy wieder zur Seite legte, hob Anton sein Glas. »Auf die Freundschaft, die auch Kummer aushält, und«, er hob die Hand in die Luft, um Sophie am Trinken zu hindern, »und auf schöne Begegnungen.«

Der Klang vom Anstoßen vibrierte noch in Sophies Ohren. Der Rotwein glitt über ihre Zunge und schmeckte besser als jemals zuvor. Der Moment, als Anton sich in ihrer Küche umsah, berührte sie noch immer, doch da war auch diese Angst, er könne einfach wieder verschwinden.

»Was ist?«

Unsicher sah Sophie Anton an, dann fasste sie sich ein Herz. »Wo warst du? Wieso verschwindest du immer einfach so?«

Anton streckte seine Hand über den Tisch und legte sie auf die von Sophie. »Ich weiß, dass du enttäuscht bist. Es tut mir leid. Es ist nur so …«, er schluckte, und Sophie bekam erst recht Angst. Sie fühlte seine Hand schwer auf ihrer ruhen. Er sagt mir, dass er eine Freundin hat, dachte sie und versteifte sich. »Ich war im Krankenhaus und wollte dich nicht beunruhigen.«

Ein Stein fiel in Sophie zu Boden. »Im Krankenhaus?«, fragte sie erschrocken und gleichzeitig erleichtert, obwohl das unangemessen war.

»Ja, im Krankenhaus.« Er lehnte sich zurück und fuhr sich mit den Händen über die Haare, ungewohnt unsicher. »Na ja, ich wusste nicht, ob wir schon so etwas miteinander teilen, es war irgendwie verzwickt.«

Sophie wiegte den Kopf hin und her. »Du warst also im Krankenhaus. Ist denn alles in Ordnung?«

»Jetzt wieder.« Anton holte tief Luft. »Jetzt wieder«, wiederholte er, als wollte er jeden Zweifel ausräumen.

Sophie blies die Luft aus, die sie angehalten hatte. »Da bin ich froh.«

»Ich auch.« Wieder erhob er sein Glas, und sie stießen an. Seine Hand wanderte über den Tisch, und Sophie griff nach ihr, zärtlich umschlossen sich ihre Finger. »Und jetzt möchte ich wissen, wovon Sophie Sonnbach träumt, wenn sie in ihrer Weinstube steht.«