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Das Weinfest

»Los, erzähl schon.« Katrin stellte gerade eine leere Flasche Wein in den Kasten unter dem Tresen und holte eine neue hervor. Sie hatte ihr Versprechen gehalten und half Sophie beim Ausschank. Der Großvater saß gemeinsam mit Barbara und Hans an einem Tisch in der Nähe ihres Standes. Sie erzählten interessierten Gästen von ihren Weinen, vom Weinanbau in der Region und natürlich von der Weinstube Sonnbach, die seit Generationen in Familienbesitz war. Spätestens ab zwanzig Uhr war der Lärmpegel auf dem Stephansplatz allerdings so groß, dass Sophie nichts mehr von den Gesprächen dort hörte. Sie hatten sich noch nicht ausgesprochen seit ihrem Streit, und Sophie hatte ein schlechtes Gewissen deswegen. Irgendwann kam Chrissi und setzte sich zum Großvater. Wie bei dem Frühstück schienen sie sich auch jetzt bestens zu verstehen. Sophie konnte sehen, dass der Großvater immer wieder lauthals lachte. Als Kind hatte sie manchmal sogar Angst vor ihm gehabt, zum Glück war da noch die Großmutter gewesen, die ihn besänftigt hatte.

»Er hatte kein leichtes Leben«, hatte sie oft erklärt, wenn er wütend und laut geworden war, doch Sophie hatte nie so richtig verstanden, weshalb der Großvater kein leichtes Leben gehabt hatte und vor allem, weshalb es immer noch als Ausrede gelten sollte, wo diese harte Zeit doch augenscheinlich schon lange zurücklag.

Als die Großmutter dann auch noch vor ihrer Zeit gestorben war, da hatte Sophie nicht erwartet, den Großvater noch einmal unbeschwert zu sehen, nach dem Tod ihrer Eltern war dies ohnehin undenkbar geworden. Und doch saß er dort und unterhielt sich mit einer ihrer ältesten Freundinnen und lachte. Und sobald er lachte, sah er überhaupt nicht wie ein über Neunzigjähriger aus. Ihr war sogar, als könnte sie dann den jungen Mann in ihm erkennen.

Eine Band spielte und erinnerte Sophie daran, dass sie Anton ein Foto schicken sollte – von sich und Katrin in ihrem Stand. Er musste das Wochenende wieder in seine alte Heimat nach Düsseldorf, worüber Sophie nicht unglücklich war. Sie hätte sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren können, wäre er in ihrer Nähe gewesen.

»Also?«, hakte Katrin nach, die alles über das Treffen mit Anton wissen wollte. »Wo war er so lange?«

»Er war in der Klinik und wollte mich nicht beunruhigen.«

»Aha. Aber das kann man doch sagen.«

Sophie hob die Schultern. »Es ist alles in Ordnung, wirklich.«

»Na, dann ist ja gut. Und? Habt ihr euch nun geküsst oder nicht?«

Sophie schüttelte den Kopf.

Katrin sah überrascht aus. »Weshalb nicht?«

»Es war ein wunderschöner Abend. Wir haben viel geredet, er wollte wissen, wovon ich träume. Er hat mir auch geraten, dir eine Nachricht zu schreiben. Er ist«, Sophie hob die Arme, »er ist einfach toll. Und ich bin immer so nervös, wenn er da ist.« Sie hielt sich die Hände vors Gesicht. »Sogar Marlene merkt das und macht sich lustig.«

Katrin lachte. »Deine Kleine ist echt der Hit. Wenn du nicht aufpasst, dann organisiert sie demnächst für dich die Dates.«

Sophie zwinkerte. »Ich war schneller.«

»Oh, wie schön. Ihr habt euch verabredet?«

Sophie nickte. Trotz des Lärms um sie herum hörte sie das Blut in ihrem Kopf rauschen, als läge eine riesengroße Muschel an ihrem Ohr. »Es ist wirklich sehr schön mit ihm. Wir wünschen uns dieselben Dinge, und, na ja, wir lachen viel, das ist einfach wunderbar.« Sie seufzte verträumt. »Er findet mich großartig. Also mich, wie ich bin, auch wenn ich stolpere. Und er sagt, dass ich mutig sein soll mit meinen Ideen und Träumen und Plänen und so.« Verspielt verdrehte sie die Augen.

»Oho, hört, hört«, Katrin zog die Augenbrauen hoch. »Also die Sätze könnten ja von mir sein.«

»Ja, er mag mich wirklich.«

Es kamen immer mehr Leute an ihren Stand, bestellten Wein, Oliven und Baguette. Der Stephansplatz füllte sich, die Musik wurde lauter, die bunten Lampions rund um die Kastanien gingen an. Im Grunde war es wie im Garten der Weinstube, nur viel größer. Marlene tanzte immer wieder vorbei und erzählte die neuesten Witze, die sie aufgeschnappt hatte. Chrissi kam zu ihnen und bot ihre Hilfe an, aber für drei war es definitiv zu eng in ihrem Stand, außerdem war Sophie ganz zufrieden damit, dass Chrissi ihren Großvater aufheiterte.

Gerade kletterte Marlene zu dem Großvater auf die Bank und stellte sich neben ihn, um einmal über den ganzen Platz schauen zu können. Der alte Mann hielt schützend die Arme um ihre Beine, damit sie nicht von der Bank fallen konnte, und zeigte in verschiedene Richtungen. Ihre Tochter lachte, Chrissi machte Bewegungen, als würde sie fliegen. Vielleicht erzählten sie wieder von den wilden Tieren in Afrika. Barbara und Hans saßen dabei, Hans wie gewohnt still, aber mit einem Lächeln im Gesicht, Barbara mit dem umsichtigen Blick, den sie immer hatte – auf sie, Sophie, auf die kleine Marlene, auf den Vater, auf ihren Mann Hans. Immer wirkte Barbara mütterlich, ohne je Mutter geworden zu sein.

Nachdenklich betrachtete Sophie die kleine Gruppe, die Generationen Sonnbachs, die leeren Plätze, die die Verstorbenen hinterlassen hatten, den neuen Platz, den nun Marlene einnahm. Marlene, die so ausgelassen tanzte und ihr gerade winkte. Sophie winkte zurück und spürte ein vages Ziehen in ihrem Arm. Zweiunddreißig Jahre war dieser andere Abend nun her. Sophie, acht Jahre alt, das Weinfest in vollem Gange. Ein Blasmusikorchester hatte gespielt, die Mitwirkenden waren alle in Tracht gewesen, das hatte lustig ausgesehen. Sophie war damals begeistert von der ungewohnten Musik, zu Hause hörten ihre Eltern zu dieser Zeit sehr gern Santana, auch Elvis Presley und The Doors ertönten aus den Boxen: graue Kugeln auf Tulip-Standfüßen.

Den Warnungen zum Trotz kletterte die kleine Sophie auf die Bank zu ihrem Großvater und tanzte dort weiter. Bis sie auf einer nassen Stelle ausrutschte und herunterfiel. Ein Schrei, dann fuhr ihr ein Schmerz in den Arm, als wäre der in tausend Stücke zerbrochen. Ein weiterer Schrei, dieses Mal von der Mutter. Tumult, dann erschienen Gesichter über ihr. Die Mutter, der Großvater. Wut und Schreck wechselten sich in seinem Gesicht ab. Er hatte aufpassen sollen. Die Mutter, die auf ihn schimpfte. Alles drehte sich. Ein Krankenwagen, die besorgten Eltern, der mürrische Gesichtsausdruck des Großvaters, den Sophie als Kind nicht verstanden hatte. Später wusste sie, dass es Schuldgefühle ob des eigenen Versagens waren. Eine Gehirnerschütterung und ein gebrochener Arm. Ein Sommer ohne Schwimmen im See und ohne Freibad.

Sophie rieb über die Stelle am Arm, die manchmal bei Kälte schmerzte. Plötzlich merkte sie, dass ihr Großvater sie ansah. Seine Gesichtszüge wirkten ungewohnt entspannt, die Stirn weniger zerfurcht, die Augenbrauen nicht derart zusammengezogen, dass sie einander über dem Nasenrücken zu berühren drohten, ein verschmitzter Zug um die Lippen. Sophie wusste von alten Fotos, dass ihr Großvater eine tiefe Kerbe am Kinn hatte, wie ihr Vater. Sie hielt den Blick ihres Großvaters, und aus dem entspannten Ausdruck wurde etwas Neues: Er lächelte sie an. Kurz zeigte er seine beiden Hände, die er dafür von Marlenes Beinen lösen musste. Nur für eine Sekunde, dann legte er sie wieder fest um die Beine der Fünfjährigen, die begeistert in die Hände klatschte. Der alte Mann nickte Sophie zu, und seine Lippen formten einen Satz. Vielleicht sagte er ihn sogar: »Ich hab sie sicher.«

Sei ohne Sorge, Sophie, ich habe deine Tochter. Sie wird nicht fallen. Nicht so wie du damals. Ihr wird nichts passieren. Ich war einmal nicht da. Jetzt bin ich da. Für dich und deinen Bruder. Auch für ihn wäre ich da, wenn er …

Sophie las so viel in den Augen ihres Großvaters wie niemals zuvor. Sie wusste nicht, was ihn so mürrisch und ernst hatte werden lassen, aber sie spürte, dass er in diesem Augenblick voller Güte war.

Gern wäre sie zu ihm gelaufen, hätte ihn umarmt, ihn um Verzeihung gebeten, hätte ihm gesagt, dass sie ihm nicht böse war, nicht dafür, dass er damals nicht auf sie aufgepasst hatte, wie ihre Mutter ihm vorgeworfen hatte, nicht dafür, dass er ihre Eltern in die Verantwortung für die Weinstube gedrängt und sie selbst hier in die alte Heimat gezwungen hatte. Sophie hatte das Gefühl, dass in diesem Blickwechsel und in diesem Lächeln gerade alles gesagt worden war.