»Ich weiß nicht, ich glaub, es gefällt ihm nicht so richtig gut«, rief Sophie und beobachtete Zottel, der vor ihr im Fahrradanhänger kleine Kreise drehte und hin und wieder bellte.
»Da muss er jetzt aber durch«, rief Anton zurück.
»Na, wenn du meinst.« Sophie strampelte weiter auf der Dammstraße hinüber zur Reichenau. Anton hatte sich ein Fahrrad mit Anhänger geliehen, und Zottel hatte dort anfangs neugierig Platz genommen, nun aber augenscheinlich immer weniger Lust darauf, kutschiert zu werden. Anton verringerte seine Geschwindigkeit etwas, sodass Sophie wieder neben ihn fahren konnte. Rechts von ihnen lagen der See und der Blick rüber nach Allensbach.
»Vor ein paar Jahren war hier alles überschwemmt, und die Bewohner der Reichenau mussten übers Wasser versorgt werden«, erzählte Sophie.
»Das ist wirklich eine Insel, nicht wahr?«
»Ja. Die Gemüseinsel. Im Spätsommer weißt du auch, weshalb sie so heißt.« Sophie wedelte mit der Hand vor ihrer Nase auf und ab. »An manchen Tagen riecht die ganze Insel nach Kohl.«
»Na ja«, sagte Anton. »Gibt Schlimmeres.«
»Sagst du.«
Am Ende der Dammstraße lag auf der rechten Seite St. Georg. Sophie hatte Anton einen Ausflug über die Insel versprochen, weil es dort nicht so überlaufen war wie an einem Sommertag in Konstanz und es dennoch viel Schönes zu entdecken gab – unter anderem diese romanische Kirche, die zum Weltkulturerbe der UNESCO gehörte. Sie hatte sich extra ein paar Informationen von Katrin geben lassen und hoffte, dass sie später bei der Besichtigung alles wiedergeben konnte. Sie selbst genoss die Ruhe ebenfalls an einem normalen Montag. Zudem lockte die Kirche mit verheißungsvoller Kühle, denn auch dieser Tag versprach, außergewöhnlich heiß zu werden. Das Weinfest hatte sie überstanden, und zwei freie Tage lagen vor ihr, zwei Tage mit Anton.
»Ich halt hier mal, okay?« Anton bremste auf dem Platz vor St. Georg, vor dem nur ein einsames Wanderpärchen die Tafel studierte. Auf den Stufen zum Pfarrhaus saß eine schwarze Katze, die mit zusammengekniffenen Augen auf den bellenden Fahrradanhänger starrte.
»Zottel, ist gut jetzt, du darfst ja gleich raus«, versuchte Anton, seinen Hund zur Geduld zu bewegen, doch Zottel war offenbar anderer Meinung. Winselnd begleitete er das Öffnen des Reißverschlusses, das Lösen der Leine. Endlich frei, tänzelte er fröhlich um Anton und Sophie herum.
»Und du magst tatsächlich keine Hunde?«, fragte Anton. »Er kann dich so gut leiden, sieh nur.«
Sophie setzte eine Unschuldsmiene auf und blinzelte. »Hab ich dir erzählt, dass ich keine Hunde mag?«
»Deine Tochter.«
»Die kann aber auch gar nichts für sich behalten.« Sie streichelte Zottel, der nicht müde wurde, um Aufmerksamkeit zu betteln. »Ich mag Hunde wirklich nicht so gern.« Ich will sie nicht mögen …
»Okay.« Anton sah sich um. »Das ist also die berühmte alte Kirche hier auf der Gemüseinsel?«
»Eine von dreien, aber die älteste, ja. Drinnen sind sehr schöne Fresken aus dem 9. Jahrhundert. Gut erhalten auch. Aber wir können erst auf dem Rückweg rein, im Moment ist anscheinend noch geschlossen.« Das Pärchen, das an der Tafel gelesen hatte, hatte erfolglos versucht, die Tür zu öffnen. Jetzt kam es zu ihnen herüber.
»Die Kirche ist leider geschlossen bis September«, sagte die Frau bedauernd.
»Oh.« Sophie war ehrlich enttäuscht. Jetzt hatte sie sich die ganze Mühe vergeblich gemacht.
»Das macht doch nichts, Sophie. Kommen wir hier auch ans Wasser? Zottel würde sicher gern schwimmen.«
Sophie nickte und schob ihr Fahrrad zurück auf die Straße. Die kleine Anhöhe nach oben, und dann konnten sie die schöne Bucht bereits sehen. Ein Steg führte zum See hinunter, der türkis und hellblau vor ihnen in der Sonne glitzerte. Ein einsames Segelboot lag auf dem Wasser. Zottel lief sofort los. Ein weißer Schäferhund lag auf der Liegewiese bei seinem Herrchen auf einer grellbunten Decke und beobachtete sie, schien aber zu müde zu sein, sich auch zu erheben. Während Zottel sich die Füße abkühlte, standen Anton und Sophie nebeneinander im Schatten. Im Schutz der Bäume waren die dreißig Grad gut auszuhalten.
»Schönes Fleckchen hier«, stellte Anton fest. »Sieht ja beinahe aus wie in der Karibik.«
»Stimmt. Hat nur leider einen traurigen Grund. Der Wasserpegel ist fast auf seinem historischen Tiefststand. Deshalb haben wir diese wunderschöne Blaufärbung.«
»Oh, jetzt seh ich das erst. Dort vorne müsste überall Wasser sein. Das ist ein Bootsanlegeplatz, nicht wahr?«
Sophie nickte und betrachtete den Steg, der wie eine Brücke über das ausgetrocknete Seeufer führte.
»Herrje«, seufzte Anton. »Und wie weit könnten wir da jetzt einfach so reinlaufen?«
»Hier?« Sophie lachte. »Gar nicht.«
»Wieso?«, wunderte sich Anton.
»Es ist hier über hundert Meter nur knöcheltief, aber schlammig, und unter dem Schlamm sind spitze Steine. Du bräuchtest zumindest sehr gutes Schuhwerk. Wenn du es in den schwimmbaren Bereich schaffst, dann hast du dir das aber auch verdient.«
»Ah ja, verstehe. Dennoch«, er deutete auf ein Pärchen, das gerade an ihnen vorbei zum Wasser lief, »versuchen es manche.«
»Die sind nicht von hier«, kommentierte Sophie und deutete auf die Bänke weiter oben. »Komm, wir setzen uns, das wird lustig.«
Anton musterte sie amüsiert. »Du willst sie beobachten?«
»Ja«, gab Sophie unumwunden zu. »Los, komm.«
»Du bist gemein.« Er folgte ihr auf die Holzbänke, und gemeinsam beobachteten sie das Pärchen, das ins Wasser stakste, begleitet von »Oh« und »Au« und »Verflucht«. Sie stolperten, hielten sich aneinander fest, wollten aber nicht umkehren.
Anton lachte. »Okay, du hattest recht. Ist lustig.«
»Und gemein«, bestätigte Sophie kichernd. »Guck mal, Zottel sieht auch aus, als ob er lacht.«
In der Tat stand Zottel da und beobachtete die beiden ebenso neugierig wie scheinbar grinsend. Zweimal bellte er, als wollte er sie anspornen, dann kam er zu ihnen nach draußen und schmiegte sich, nass wie er war, an Sophies Beine. Sie verzog das Gesicht.
»Zottel, nicht doch«, sagte Anton, »lass doch Sophie mal in Ruhe.«
Das Pärchen stand immerhin bis zu den Knien im Wasser und war schon so weit draußen, dass Sophie ihre Angabe mit hundert Metern revidieren musste. Sie machten eine Pause. Und küssten einander. Trotz des Debakels.
»Es braucht eigentlich nicht so viel, um glücklich zu sein, oder?«
Sophie sah überrascht zu Anton, der das küssende Pärchen noch immer ansah. »Nein?«
»Nein. Ich finde, wenn man Aussicht auf Wasser hat, dann ist das schon das halbe Glück.«
»Und die andere Hälfte?«
»Die andere Hälfte kommt mit den Menschen, mit denen man unterwegs ist.«
In Sophie begann es, wild zu hüpfen, es waren gewiss Schmetterlinge, wenngleich die sich bei ihr eher wie Frösche anfühlten. Oder so benahmen. Oder Schmetterlinge auf Trampolinen. Begabte Schmetterlinge.
Sie radelten weiter, den Uferweg entlang, vorbei an schönen alten Fachwerkhäusern, die Ferienwohnungen anboten, vorbei an Obstwiesen und Gärten. Überall standen Tische oder Regale, wo Obst und Gemüse zur Selbstbedienung angeboten wurden. »Wir könnten uns auf dem Rückweg etwas mitnehmen und uns an den See setzen, oder?«, fragte Anton.
»Natürlich.«
Um Zottel ein wenig Ruhe zu gönnen, schoben sie die Räder weiter und standen wenig später vor einem Aufsteller, der Insel-Bier anbot. Bunte Etiketten und einladende Namen. Auch davon wollten sie auf dem Rückweg etwas mitnehmen. Mal kein Wein, dachte Sophie, auch gut.
Zottel merkte nun doch, dass es heiß war, gewiss auch an den Pfoten. Immer wieder suchte er den Schatten und legte sich schließlich unter einen der Apfelbäume, die neben einem Gehege für Ziegen standen. Sophie stellte ihr Fahrrad ab und fütterte die neugierigen Tiere mit Äpfeln. Anton kam zu ihr und streichelte ein besonders zutrauliches Tier. Ihre Hände berührten sich zufällig im Fell des Tieres, das wunderhübsch lange Wimpern hatte und treuherzig zu ihnen aufblickte. Sophie genoss jeden Moment. Hüpf, hüpf, hüpf. Frösche im Bauch. Zottel schielte einmal zum Anhänger, doch als Anton ihm anbot einzusteigen, stand er schnell auf und lief tapfer weiter.
Sie fuhren nur noch ganz langsam, Sophie hielt immer wieder Ausschau nach einem Zugang zum Wasser. Der Uferweg führte zwar die ganze Zeit am See entlang, jedoch waren die meisten Stellen, die man durch die Vegetation hindurch erreichen konnte, privat. Immer wieder liefen sie vergeblich in die Seitenwege und entdeckten dabei schöne Gärten und schließlich ein Haus. Weiß, mit einem roten Satteldach und Dachzinnen. Schon in die Jahre gekommen, dafür sehr gemütlich mit den alten Obstbäumen im Garten und einem bodentiefen Fenster unterm Dach. Weiß und rot. Die Farben huschten suchend durch Sophies Gedanken und streiften eine Erinnerung: Dieses Haus dort auf der Reichenau, es war die Burg aus ihren Kindheitsträumen – ihr altes Traumhaus.
»Das ist aber schön. Schlicht, charmant, einladend. Ich staune immer wieder, wie gut doch die Proportionen früher durchdacht waren«, sagte Anton.
»Ich mag das Haus auch sehr. Schon immer«, sagte Sophie leise.
»Sieh mal.« Anton deutete auf ein Schild, das zur Hälfte von einem der Bäume verdeckt war.
»Zu verkaufen«, las sie laut vor und schluckte. Zottel bellte, und eilig flüchtete Sophie aus der sich eröffnenden Traumwelt.
In Mittelzell machten sie Pause und tranken in einem Café unter bunten Sonnenschirmen einen Espresso. Eigentlich hatte Sophie mit Anton bis zur Spitze der Insel radeln wollen, um sich an den Badestrand zu legen, von dem aus man die Schweiz sehen konnte. Es gab auch ein neues Hotel mit einer Terrasse direkt am See und herrlicher Aussicht, aber die Hitze wurde immer unerträglicher, und Zottel kämpfte sich nur noch von einem Schatten zum nächsten.
»Sophie, ich fand den Strand am Anfang geradezu perfekt«, sagte Anton. »Lass uns einfach dorthin zurückkehren.«
Nach St. Georg scheiterte nun auch der Rest ihrer Pläne. Sophie seufzte. So war es, wenn sie Pläne machte – wenn sie diese nicht selbst über den Haufen warf, dann übernahmen das die äußeren Umstände.
»Wirklich, Sophie, es könnte nicht schöner sein.«
»Na gut«, sagte sie und bestellte sich ein Eis. »Eine Kugel Schokoladeneis mit Sahne.« Anton lachte und bestellte dasselbe.
Zottel brachte sich fiepend in Position, als das Eis serviert wurde, und bekam von Anton ein Stück der Waffel und von dem Kellner eine Schüssel mit Wasser.
»Jetzt muss man nur warten, bis die Sahne ein wenig fest wird auf dem Eis, dann …«
»… schmeckt es perfekt.« Sophie verteilte schmunzelnd die Sahne auf der Kugel, dann legte sie den Kopf schief. »Aber heute ist es zu heiß dafür.«
Angesichts der Hitze und des heftig hechelnden Zottel beschlossen sie, den Rückweg zu ihrem Strand zu Fuß zu bestreiten. Unterwegs kauften sie Plastikbadeschuhe, nicht schön, aber gewiss praktisch, und Obst und Gemüse sowie eine Packung von dem Insel-Bier. Oliven, eine Flasche Wein und Wasser sowie Baguette hatten sie bereits im Gepäck.
Zottel freute sich und mobilisierte auf den letzten Metern noch einmal all seine Kräfte – den Geruch von erreichbarem Wasser in der Nase. Von der Bank aus verfolgten sie Zottels zufriedenes Waten im See. Immer wieder ließ er sich nieder, und dann sah es aus, als würde sein Fell auf dem Wasser treiben.
Alles wirkte so friedlich. Kaum vorstellbar, dass ein paar Kilometer weiter der sommerliche Wahnsinn tobte mit schreienden Kindern, die von ihren Müttern mit Sonnenmilch gejagt wurden, mit Jugendlichen, die zu laut Musik hörten und den Rest des Strandes terrorisierten, mit Männern, die ihre tätowierten Oberarme zur Schau stellten, und was sonst noch alles dazugehörte.
Hier war es, als wäre die Zeit stehen geblieben. Das Segelboot lag immer noch unbewegt auf dem See, wie gestrandet ruhte am Ufer ein weiteres, bei dem die Farbe schon abgeblättert war. Das Schilf bog sich in einem leichten Wind. Zart drangen die Geräusche sich berührender Halme zu ihnen nach oben. Auf der Wiese lag der weiße Schäferhund immer noch auf der bunten Decke, sein Herrchen saß daneben und blickte auf den See hinaus. Ansonsten war kein Mensch in Sicht.
»Bin ich froh, dass wir hier gelandet sind.«
»Oh ja«, freute sich Sophie. »Sollen wir uns auch hinlegen?«
»Ach, grad ist ganz schön so, oder?« Anton lächelte Sophie an. »Du siehst gut aus heute, wieder entspannter.«
Sie nickte. »War nicht so leicht die letzten Tage.«
»Wegen deiner Eltern, das versteh ich.«
Sophie schwamm innerlich davon, wenn Anton sie so durchdringend ansah. Es war, als umarmte er sie mit diesem Blick, sie fühlte sich darin wunderbar aufgehoben, gleichzeitig auch durchschaut, als könne Anton in ihr lesen wie in einem Buch. Sophie musste sich immer wieder sagen, dass das gerade alles wirklich passierte, ihr passierte.
»Sophie? Träumst du?«
»Immer. Zu oft«, sie lachte. »Wenn du Katrin fragst, zumindest.«
»Kann man zu oft träumen?«
Ach, Anton.
»Du weißt schon so viel von mir, aber ich noch kaum etwas von dir.«
»Was willst du denn wissen, Sophie?«
»Hm«, sie überlegte. Verliebst du dich gerade in mich? Bitte sag Ja … »Weshalb hast du noch keine Kinder?«
Anton zuckte die Schultern. »Es klingt banal, aber es hat sich einfach nicht ergeben.«
Das war nicht das, was Sophie hören wollte.
»Was noch?«
Willst du mich nicht endlich küssen?
»Sophie? Du träumst wieder, oder?«
»Vielleicht.« Sie grinste. Dann sah sie demonstrativ auf die Uhr. »Achtzehn Uhr und drei Minuten. Das ist okay für ein Bier, oder?«
Er lachte. »Absolut.«
Sie stießen an, sahen auf den See hinaus, genossen den Hauch einer Brise. Das Schilf, es machte Musik, so leise, dass Sophie Angst hatte, Anton würde es vielleicht nicht hören. Zottel kam zu ihnen und schüttelte sich. Feine Tropfen prickelten auf der Haut.
Schließlich wagten sie sich mit den neuen Plastikbadeschuhen in Blau und Pink ins Wasser. Der Weg war mühsam, aber sie hielten sich an den Händen und lachten viel. Wir sind ja auch nicht von hier. Du, Anton, du bist nicht von hier. Ich kann mich nicht rausreden. Ach, komm, Sophie, wer so lange weg war …
Sophie konnte nur an das Pärchen vom Nachmittag denken, das sich nach dem langen Weg irgendwann geküsst hatte. Wenn man verliebt war, dann machte es nichts, wenn man scheiterte, gemeinsam scheiterte, wenn man sich lächerlich machte. Auch Stolpern war zusammen besser zu ertragen.
Das Wasser brachte kaum Abkühlung, aber das Schwimmen war herrlich, das Ufer so weit entfernt, dass sie dachten, sie wären dem Land davongeschwommen. Es war schon dämmrig. Sie schwammen aufeinander zu, und wieder hielt Antons Blick Sophie gefangen. Sie konnten noch immer stehen und waren nun ganz dicht beieinander. Es war ein perfekter Augenblick, keiner, der in ihren Liebesromanen vorgekommen war, es war ihr Moment, und Sophie spürte das so deutlich, dass es ihr beinahe wehtat. Sie ging noch einen Schritt auf Anton zu. Nur noch wenige Wellen waren zwischen ihren Gesichtern. »Anton«, flüsterte sie.
»Sophie«, flüsterte Anton, »ich –«
Doch bevor Anton noch etwas sagen konnte, fasste sich Sophie ein Herz und küsste ihn. Vorsichtig zunächst, dann legte sie ihre Hände um seinen Kopf und küsste ihn intensiver. Schließlich spürte sie, dass Anton zurückküsste, dass er seinerseits die Hände um ihr Gesicht legte, dass seine Lippen so warm und weich auf ihren lagen.
Sophie konnte nichts anderes mehr denken, außer dass es sich genau so anfühlen musste, wenn man sich verliebte.