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Wie eine richtige Familie

»Mama, Mama, Mama, können wir die Meerschweinchen bitte auch mitnehmen?«

Marlene stand im Wohnzimmer und hatte eine passende Kiste ausgesucht. Anton stand mit Zottel in der Küche und sah belustigt zwischen Sophie und Marlene hin und her.

»Die sind sonst allein zu Hause, und der Hund darf auch mit. Das kann ich ihnen unmöglich erklären« beharrte Marlene.

»Wo sie recht hat …« Anton grinste Sophie unverhohlen an.

Sie warf ihm einen strengen Blick zu. »Das war jetzt nicht hilfreich, Anton.« Und an Marlene gewandt fügte sie hinzu: »Schätzchen, draußen ist es sehr warm, und wir können die Meerschweinchen nicht in die Wiese setzen, die wären dann den ganzen Tag in der Kiste, das ist doch nicht schön. Wir machen heute Abend was Feines mit ihnen, okay?«

»Grrr.« Marlene schmollte. »So wie du ›fein‹ sagst, denkst du wieder an Erdnusssoße.« Sie verschränkte ihre kleinen Arme, schien aber nachzudenken. »Wahrscheinlich hast du recht. Aber heute Abend machen wir wirklich was mit ihnen, versprochen?«

»Versprochen«, sagte Sophie und seufzte innerlich. Sie wusste, dass ihre Tochter auch in der Lage war, eine Stunde zu diskutieren, und war dankbar für den vorerst glimpflichen Ausgang. »Auch ohne Soße und so«, fügte sie hinzu.

»Zottel freut sich auf jeden Fall schon«, sagte Anton und griff nach dem Picknickkorb.

Im Auto lief AnnenMayKantereit, und Marlene sang begeistert mit.

»Hab mir schon gedacht, dass euch das gefällt.« Anton klopfte den Takt auf dem Lenkrad mit.

Sophie lehnte den Kopf zurück und beobachtete Anton, der immer wieder in den Rückspiegel sah und Marlene zuzwinkerte. So harmonisch hätte sie sich das nicht ausdenken können.

Sie fuhren in die Schweiz und dann am See entlang nach Salenstein. Es war nur eine kurze Fahrt, das Schloss Arenenberg lag gegenüber der Insel Reichenau. Napoleon III. hatte dort seine Kindheit und Jugend verbracht, bevor er später Kaiser von Frankreich und ein Kriegstreiber wurde. Im Napoleonmuseum, das im Schloss Arenenberg integriert war, konnte man das Mobiliar aus der Zeit besichtigen, im August war es nicht sonderlich frequentiert. Die Menschen waren in den Sommerferien lieber am See. Ein paar Autos parkten dort, die Hälfte gewiss von den Beschäftigten.

»Das hier gilt als einer der schönsten Aussichtspunkte über den Bodensee«, erzählte Sophie.

»Das wussten die alten Franzosen offenbar auch«, scherzte Anton.

Sie liefen in den zum Schloss gehörenden Garten, Marlene mit Zottel an der Leine, und setzten sich auf eine Bank. Anton ließ den Blick schweifen.

»Ich kann die Franzosen gut verstehen. Das ist wirklich beeindruckend. Diese atemberaubende Natur, eine malerische Weite und ein absolut beruhigender Anblick«, schwärmte er.

Die zwölf Hektar große Parkanlage rund um das Schloss war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als englischer Landschaftsgarten angelegt worden. Keine strengen geometrisch angeordneten Beete, keine Wege, die die Natur unterteilten, dafür Harmonie zwischen Bepflanzung und natürlichen Gegebenheiten. Das alles gefiel auch Sophie sehr.

»Viel schöner als diese barocken Gärten, in denen jede Blüte ihre Position hat.«

Er musterte sie. »Du kennst dich mit Architektur aus?«

»Nur ein bisschen«, sagte Sophie. »Bloß durch Katrin und ein paar Reste aus dem Studium.« Sie fuhr mit der Hand einmal über die Aussicht. »Ich weiß, dass es diesen Landschaftsgärtnern darum ging, die Natur sprechen zu lassen, es sollte so sein, dass man wie in ein Gemälde laufen kann.«

Anton nickte. »Dann war mein Eindruck also nicht schlecht – eine malerische Aussicht.«

»Genau.«

»Du bist voller Überraschungen, Sophie.«

»Ist das gut?«

»Das ist sehr gut.«

Sie schlenderten noch eine Weile durch den Garten, Marlene immer mit Zottel vorneweg. Sie hatte so einen Spaß, einen Hund zu führen, dass Sophie allmählich ein schlechtes Gewissen bekam. Nach einer Stunde blieb Marlene stehen, beugte sich zu Zottel und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Sie wartete kurz, er bellte, und sie nickte ihm zu. Dann wandte sie sich an Sophie und Anton.

»Zottel und ich haben jetzt Hunger. Wir wollten doch picknicken!«

»Ich nehme an, Zottel hat dir gesagt, dass er Hunger hat?« Sophie zog die Augenbrauen hoch.

»So ist es«, erklärte Marlene mit wichtiger Stimme.

»Du wusstest nicht, dass Zottel sprechen kann?«, fragte Anton und sah Sophie ernst an.

Marlene kicherte. »Da hast du es. Mir glaubt man ja nie.«

»Gut, dann also auf zum Picknickplatz. Ist aber nicht hier. Wir müssen erst zum Auto.«

Sie fuhren in die nächste Gemeinde nach Mammern und dort zu der kleinen Wallfahrtskapelle Klingenzell.

»Von hier noch ein kleines Stück, dann sind wir am wirklich schönsten Aussichtspunkt über den Bodensee. Mein ganz persönlicher Geheimtipp.«

»Und dort picknicken wir endlich?«, quengelte Marlene.

»Bestimmt.« Anton hob den Picknickkorb aus dem Auto. »Trägst du die Decke?« Er reichte Marlene die eingerollte blaue Decke mit den weißen Punkten.

»Logo!« Lachend rannte sie davon, gefolgt von einem fröhlich bellenden Zottel.

Sie liefen an der barocken Kapelle vorbei und erreichten eine Lichtung, die etwas abgeschieden zum Weg und zu der Kapelle lag.

»Hier bleiben wir«, sagte Sophie zufrieden. Es war noch so, wie sie es in Erinnerung gehabt hatte. Sie hatte hier einen Nachmittag mit ihrem Vater verbracht, nachdem die Großmutter, seine Mutter, gestorben war. Er wollte raus aus der Stadt, ein wenig Abstand zwischen sich und die Trauer bringen und hatte Sophie gebeten, ihn zu begleiten. Sie waren den Kreuzweg gewandert, der unterhalb der Kapelle verlief, hatten die Mariengrotte besichtigt und das Schloss Freudenfels. Es war eine stille Wanderung gewesen, gleichzeitig hatte sich Sophie ihrem Vater sehr verbunden gefühlt.

Später hatten sie an ebenjener Stelle gepicknickt. Selbst gebackenen Pflaumenkuchen, eine Thermoskanne mit Kaffee und Wasser. Sophie hatte das Gefühl, sie würden beide hinweggetragen über das Getose der Welt und in einer Zwischenwelt wandeln, nur sie beide. Durchatmen, in die Ferne blicken, frei sein.

Sophie, du musst mir eine Sache versprechen.

Ja, Papa, was denn?

Lass dich nicht unterkriegen. Mach nichts, was du nicht wirklich möchtest. Das Leben ist zu kurz für Kompromisse.

Okay.

Hörst du, Sophie, das ist wirklich wichtig. Du bist nicht auf der Welt, um deine Mutter und mich glücklich zu machen. Du bist hier, um ein glückliches Leben zu führen. Für dich. Du musst für dich glücklich werden. Wo, wie und mit wem auch immer.

Glücklich zu sein klang in Sophies Ohren immer wie eine Aufgabe.

»Das ist Fusselwüff-artig gut.«

»Was?«, wunderte sich Anton.

Sophie winkte ab. »Eine Wortschöpfung von Marlene, hör gar nicht hin.«

»Fusselwüff, Fusselwüff«, sang Marlene und hüpfte um die Decke herum, die ihre Mutter gerade hingelegt hatte. Wenig später breiteten sie das Essen darauf aus, und Zottel fiepte begeistert. Anton gab ihm einen Knochen und ließ ihn neben der Decke Platz machen, was Zottel mit einem Hundeseufzen kommentierte.

»Der will zu uns«, sagte Marlene. »Ich verstehe ihn, glaub mir.«

Anton lachte. »Ich verstehe ihn auch, aber keinesfalls darf er zum Essen auf die Decke.«

Nach dem Essen spielte Marlene mit Zottel, und Anton legte sich halb aufrecht auf die Seite.

»Hier oben hat man das Gefühl, der Zeit enthoben zu sein, geradezu magisch, oder?«

Sophie nickte. Sie hielt die Hände seitlich und stützte sich nach hinten ab. »Und wir sind hier ganz allein. Ist das nicht schön?«

»Ein Fusselwüff geht auf Reisen«, sang Marlene.

Sophie verdrehte die Augen. »Stille und Kind ist irgendwie schwer vorstellbar.«

»Was hat es mit dem Fusselwüff auf sich?«

»Ein Phantasietier, soll sehr niedlich sein«, erklärte Sophie augenzwinkernd.

»Aha.« Anton grinste. »Ich find deine Tochter sehr süß, ehrlich.«

»Du kennst sie noch nicht, sei dir sicher.«

Sie sahen einander in die Augen, und Sophie wurde verlegen. Es war immer dasselbe, wenn sie in Antons Augen sah: als würde er sie in einem Moment erfassen. Sie, Sophie, keine Geheimnisse mehr, nichts. Komplett durchleuchtet.

»Was ist?«, fragte Anton.

Sophie schüttelte den Kopf. »Alles gut. Es ist nur …«, sie lächelte Anton an. »Ich hab einfach nicht das Gefühl, dass wir uns gerade erst kennenlernen.«

Anton wurde ernst und sah sie lange an. Nicht so durchdringend, dafür mit einer Spur Wehmut. Sophie war verwirrt, sie hatte eigentlich gedacht, etwas sehr Nettes gesagt zu haben, etwas Schönes, Verbindendes.

»Hat sich Chrissi eigentlich wieder beruhigt?«

»Chrissi? Ach so, wegen der Hochzeit.«

»Na ja, die Hochzeit ist wohl weniger das Problem.«

Sophie nickte. »Das stimmt, und: Nein, sie hadert. Das ist sehr ungewohnt. So kenne ich sie, so kennen wir sie nicht.« Sophie sah auf den See hinaus. »Weißt du, Chrissi hat was Interessantes gesagt, da denke ich seitdem drüber nach. Sie sagte, sie könne nicht ankommen, weil dann das Sehnen aufhört.«

»Hm.« Anton holte sich einen Grashalm und steckte ihn sich in den Mund. »Denkst du das auch?«

Sophie überlegte. Sie dachte an die Reichenau, an den Abend mit Anton und den Sternenhimmel, an dieses umfassende Gefühl, das in den Fingerspitzen anfing und dann durch den ganzen Körper wanderte. Sie spürte ein Kribbeln am Arm und sah, dass Anton sie mit dem Grashalm kitzelte. Sie lachte.

»Vielleicht gehören Sehnsucht und Glück auch zusammen.« Er deutete nach vorne. »Sieh mal.«

Marlene saß in der Wiese schräg vor ihnen und neben ihr Zottel. Sie hatten ihr Spiel beendet und schienen zur Ruhe gekommen zu sein, beide blickten sie auf den See, der in der Sonne glitzerte. Marlene hatte den Arm um den zotteligen Hund gelegt. Es war ein Anblick wie von einer Postkarte, etwas Romantisch-Kitschiges über Freundschaft und die wahren Werte im Leben. Und gleichzeitig lag darin so viel wahrhafte Poesie, dass es Sophie einen Stich versetzte.

»Da blicken sie gemeinsam auf die Welt«, sagte Anton leise, um dieses Bild nicht zu stören.

»Sehr süß, die beiden.«

»Und still«, sagte Anton.

»Und still«, bestätigte Sophie flüsternd. »Kaum zu glauben.«

Anton richtete sich auf und streichelte ihre Wange. »Und nein, ich glaube nicht, dass die Sehnsucht aufhört, wenn man ankommt. Dann fängt sie doch erst an. Wenn man sich nach solchen Augenblicken sehnt, nach solchen, die jetzt passieren können.«

»Genau das sagt Katrin auch.«

Anton sah wieder nach vorne zu seinem Hund und Marlene, die gerade ihren Kopf ins graue Fell schmiegte. »Wie eine richtige Familie.«

Ein ungeheuer warmes Gefühl breitete sich in Sophie aus. Sie ließ sich mitreißen, ließ sich treiben, kam sich vor, als würde sie fliegen. Und in ihr hallte der Satz nach: Wie eine richtige Familie.