24

Große Aufgaben für Kleine

Katrin hatte ihre Begeisterung für Regionalgeschichte zu ihrem Beruf gemacht, ihr Geschichtsstudium abgeschlossen und einen Job im Stadtmuseum angenommen. Sie wollte nie weg aus der Stadt, wollte nicht weg von ihren Eltern und den lieb gewonnenen Aussichten. Seit über zehn Jahren machte sie nun schon die Stadtführungen und bemühte sich immer wieder, neue Routen auszuarbeiten. Sie war leidenschaftlich bei dem, was sie tat, immer, Sophie beneidete sie sehr darum. Auch war sie eine überaus beliebte Stadtführerin, die explizit gebucht wurde. Nach dem Debakel mit der romantischen Stadtführung bemühte sich Katrin, Sophie abzulenken, also lud sie sie zu einer Führung ein.

»Du willst doch weiterhin so gute Tipps geben können«, erklärte sie. »Da kann Marlene übrigens auch mit, das wird ihr gefallen. Außerdem soll es morgen regnen. Heute können wir noch was unternehmen.«

Sophie fühlte sich wie gelähmt. Wie damals mit Markus, als sie als Geliebte immer darauf wartete, dass er eine Ausrede für seine Frau gefunden hatte. So ging es ihr jetzt mit dem Glück.

»Na, komm, gib dir einen Ruck. Marlene tut das sicher auch gut.«

Mit einer ungewöhnlich schweigsamen Marlene an der Hand begleitete Sophie die Freundin zu der neuen Tour. Es ging um die Häusernamen in der Konstanzer Altstadt, die bis zur Einführung der Nummerierung im Jahr 1876 über die Bedeutung des jeweiligen Hauses Auskunft gegeben hatten. Sie wären in Vergessenheit geraten, hätte nicht der Künstler Hans Sauerbruch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts siebenundsiebzig der rund hundert Namen wiederbelebt – als Sgraffiti auf den Fassaden, eine kunstvolle Putz-kratz-Technik.

Marlene gefielen die modernen Illustrationen sehr, etwa das Schiff, der Mond, der Kranich, der Wolf und viele mehr. Allmählich entspannte sich auch Sophie. Die größte Herausforderung bei dieser Art der Stadtführung lag darin, auf dem Kopfsteinpflaster nicht zu stolpern, da man den Blick immer an den Häuserfassaden nach oben gerichtet hielt. Katrin sagte das zwischendurch immer wieder dazu: »Heben Sie Ihren Blick UND Ihre Füße, sonst passiert Ihnen ein Unglück.«

Die Gruppe lachte, sogar Sophie musste schmunzeln. Bei ihrem Talent zu stolpern …

Besonders lange standen sie vor der hübschen Elefantenskulptur, die in der Mauernische einer Fassade stand.

»Kann ich den mal anfassen?«

»Da kommen wir nicht ran.«

»Leiter?«

»Räuber?«

»Leiter, Mama! Die zum Draufsteigen.«

»Eben.«

»Ach so, die Mama-Leiter. Super!«

Die Umstehenden lachten und sahen sie erwartungsvoll an. Sophie drängte zum Aufbruch, und da passierte es: Sie blieb an einem Stein hängen und stolperte. Der Länge nach schlug sie auf den Boden. Im nächsten Moment baute sich Marlene mit verschränkten Armen vor ihr auf und sagte: »Da hatten wir jetzt aber Glück, dass wir nicht das mit der Leiter gemacht haben.«

Das Wetter schlug schon früher als erwartet gegen Ende der Führung um. Sie standen alle vor dem Haus »Zum Silbrin Mond«, als erste Regentropfen fielen. Sophie schielte zu den dunklen Wolken. Das sah nicht gut aus. Einige besser vorbereitete Touristen spannten noch ihre Regenschirme auf, doch Sophie beschloss, den Heimweg zu starten. Sie winkte Katrin und rannte mit Marlene los. Gerade noch rechtzeitig vor dem großen Wolkenbruch erreichten sie ihre Wohnung.

Marlene kniete sich auf das Sofa und sah aus dem Fenster. Dicke Regentropfen fielen auf den Balkon, die Aussicht war trübe. Das Wetter am See konnte sehr schnell umschlagen, viele Touristen unterschätzten das. Immerhin regnete es endlich einmal, nach dem heißen Sommer war das für die Natur ein Segen. Sophie ging in die Küche und rührte die Zutaten für Pfannkuchen. Als sie einen Löffel Zucker hinzugeben wollte, rief Marlene: »Du hast schon Zucker drin, Mama! Gerade eben, als ich das letzte Mal zu dir gesehen habe.«

»Ehrlich?«

»Klar, bei Zucker würd ich doch nicht lügen.«

Sophie lächelte ihre Tochter an. »Das stimmt. Dann keinen Zucker mehr.«

»Lieber nicht.« Marlene kam vom Sofa rüber in die Küche geschlendert und umarmte ihre Mutter, anschließend kletterte sie auf die Ablage. »Willst du nicht mal wieder tanzen und singen?«

Sophie tippte ihrer Tochter auf die Nasenspitze. »Du magst nicht, wenn ich singe.«

»Hin und wieder geht das schon. Ich denk dann einfach an was Schönes.«

Sophie musterte ihre Tochter streng, bis diese laut loslachte.

»Dein Gesicht, Mama, voll lustig. Wie wenn ich die sauren Mandarinen esse. So hast du geguckt. War aber nur Spaß. Kannst ruhig singen.« Marlene steckte den Finger in den Pfannkuchenteig und leckte daran. »Hm, nicht so richtig lecker.«

»Gebacken schon. Du sollst den ja auch nicht so essen.«

»Wie geht es denn deinen Knien? Das sah lustig aus vorhin. Du bist sogar ein Stück geflogen, wie so ein tollpatschiger Albatros, die man in YouTube-Videos landen sieht.«

»Puh«, Sophie verdrehte die Augen. »Jetzt ist aber gut. Ich will nicht dran denken. Die Hose ist auf jeden Fall kaputt.«

Wenig später saßen sie am Küchentisch, und Sophie strich lustlos Marmelade auf ihren Pfannkuchen. Ihr Handy klingelte. Anton. Sie ignorierte es. Als der Klingelton verstummte, meldete ihr Gerät wenig später den Eingang einer neuen Nachricht bei WhatsApp. Wieder Anton.

Können wir reden?

Es war die zehnte Nachricht dieser Art, die Sophie ignorierte. Was wollte er ihr erklären? Dass er eine Verlobte hatte? Das hatte sie längst begriffen.

»Wieso sprichst du nicht mit ihm?«, fragte Marlene und deutete auf das Handy.

»Ich will nicht mit ihm reden, und er hat das zu respektieren. Wieso weißt du eigentlich, dass er reden will?«

»Ich kann das lesen«, sagte Marlene stolz.

»Seit wann kannst du lesen?«

»Hat mir Chrissi beigebracht. War ganz leicht.«

Sophie sah ihre Tochter an, doch dieses Mal machte sie augenscheinlich keine Witze. »Chrissi hat dir Lesen beigebracht?«

»Hmm, toll, oder?«

»Ja, toll«, sagte Sophie nachdenklich. Wo war sie denn in der Zeit, als ihre Tochter lesen gelernt hatte? Sie seufzte. Vermutlich mit Anton und ihren albernen Zukunftsplänen beschäftigt.

Eine Woche war es her, dass Anton mit seiner Janette in ihre Weinstube spaziert war. Lange Nächte, in denen Sophie nicht schlafen konnte und sich fragte, was falsch an ihr war, und ebenso lange Tage, an denen sie sich darum bemühte, gute Laune für ihre Tochter zu haben.

Die Marmelade tropfte aus dem Pfannkuchen und landete auf ihrer Jeans. Ärgerlich wischte Sophie über den Fleck.

»Mama, so geht das doch nicht.«

Schwerfällig hob Sophie den Kopf. Marlene brachte ihr ein feuchtes Tuch. »Ist doch gut, mal hilfst du mir, mal ich dir.«

»Gut, dass ich dich hab.« Sophie gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn.

»Und die Schweine haben wir auch.«

»Jetzt wieder Schweine?« Sophie wischte über den Fleck auf ihrer Jeans, vergrößerte ihn aber nur.

»Immer wenn es um was Großes geht.«

Sophie sah verwundert auf. »Es geht um was Großes? Was denn?«

Marlene grinste breit. »Na, dich aufzuheitern.«