Sophie stand in der Weinstube am Tresen. Durch die offene Balkontür roch es nach Regen. Es war angenehm frisch, beinahe schon einen Tick zu kühl, sodass Sophie die Strickjacke überzog, die sie sich mitgebracht hatte. Ein Schokoladenfleck zierte den Ärmel. Ärgerlich lief sie zum Waschbecken und machte sich mit einem Lappen daran zu schaffen. Gestern Marmelade auf der Jeans, heute Schokolade an der Jacke. Einer Janette würde so etwas nicht passieren. Pah, Kinder haben sich bislang nicht ergeben. Da war »bislang« wohl das richtige Stichwort. Sophie war wütend. Am liebsten hätte sie laut geflucht, aber in der Küche arbeiteten schon die drei Angestellten an den Vorbereitungen für den Abend. Katrin saß wieder an ihrem Tisch und las, Marlene malte.
»Ich hab keine Schokolade gegessen und trotzdem einen Schokofleck am Ärmel. Kann mir das einer von euch erklären?«, rief Sophie durch den Raum.
Katrin und Marlene sahen einander an und hoben beide die Schultern.
»Schön, hab ich mir gedacht, dass euch dazu nichts einfällt. Ich bin mal im Keller. Für sehr, sehr lange«, sagte sie, musste aber schon grinsen dabei.
Als sie wieder hochkam, stand ihr Großvater in der Weinstube. Sophie war so verdutzt, dass sie erst einmal gar nichts sagte.
»Hallo, Sophie.«
»Ich hab eben geschaut, was wir noch brauchen«, stammelte sie.
Er zuckte mit den Schultern. »Schon gut. Ist ja noch keiner da. Hallo, Katrin. Hallo, Marlene.«
Marlene kam angelaufen und umarmte den Großvater. »Du, Opa, ich kann schon lesen. Weißt du das?«
»Glaub ich dir sofort.«
»Erzählst du wieder so schön von deinen Reisen?«
»Heute nicht, Engelchen.«
Engelchen? Sophie glaubte, sich verhört zu haben.
»Ich muss mit deiner Mama reden. Passt es gerade, Sophie?«
Ihr Großvater wirkte verändert, schon beim Weinfest war er ihr weicher vorgekommen. Eine unbekannte Sanftheit umgab ihn und seine Bewegungen.
»Möchtest du etwas trinken?« Sophie wandte sich zum Tresen, die Weißweingläser für den Müller-Thurgau im Blick.
»Ein helles Bier?« Der Großvater schaute sie beinahe schelmisch an.
Sophies linke Augenbraue hüpfte kurz nach oben, sie sagte aber nichts und kam wenig später mit einem Glas Münchner Hell und einem Kaffee zurück an den Tisch.
»Wie geht’s dir?«, fragte der Großvater.
»Ganz okay.«
»Stimmt ja nicht. Chrissi war bei mir und hat mir von deinem Freund erzählt.«
Sophie hob die Augenbrauen. »Chrissi hat was?«
»Sie hat mich besucht. Wir haben geredet.«
»Ich hab das akustisch wohl verstanden«, antwortete Sophie patzig. »Wie kommt ihr dazu, über mich zu reden?«
»Die kleine Vulkan-Sophie, immer noch die Alte, bisweilen zumindest.« Der Großvater lächelte. »Du warst diejenige, auf die ich die größten Stücke gesetzt habe. So kämpferisch, energisch, hoch motiviert und voller Träume.«
Sophie starrte ihren Großvater an. So hatte er noch nie mit ihr gesprochen. Irgendetwas war passiert, und irgendetwas sagte ihr, dass es mit Chrissi zusammenhing. »Also, was hat Chrissi erzählt?«
»Dass es dir nicht gut geht, weil du dich in einen Mann verliebt hast, der es nicht ehrlich meinte.«
»Aha.«
»Das tut mir sehr leid, Sophie. Ich hätte dir das gegönnt, ehrlich, auch wegen Marlene. Es ist sicher nicht leicht, immer allein zu sein mit Kind.«
Sophie war sprachlos.
»Ich wollt dir auch sagen, dass du das gut hinbekommen hast. Also alles.« Er wirkte verlegen, wie er dort unter der Fotowand in seiner Weinstube saß.
Sophies Blick hüpfte hin und her zwischen dem Foto, das ihren Großvater als kleinen Jungen zeigte, aufrecht, streng, in Kniebundhosen, und dem Einundneunzigjährigen darunter, der sie wohlmeinend anlächelte.
»Du hast das mit Marlene gut hinbekommen. Und das mit der Weinstube hier auch.« Er legte ihr eine Hand auf den Arm. »Deine Eltern, also, ich bin mir sicher, sie wären stolz auf dich.«
Das kam so unerwartet, dass sie nicht gewappnet war. Schon spürte sie, wie sich Tränen in ihr sammelten und den Hals nach oben kletterten. Ihr blieb keine Zeit – die Tür ging auf, und die ersten Gäste kamen.
Ihr Großvater blies die Luft aus. Er wirkte erleichtert, dass er alles losgeworden war und nun die Gäste allzu große Rührseligkeit verhinderten. Er nahm sein Bier, prostete ihr zu und sagte: »Schnell weg damit, nicht dass mich jemand kennt und mit einem Bier in der Hand erwischt.« Er zwinkerte und leerte das Glas in einem Zug. Dann stand er auf und verabschiedete sich.
Unschlüssig lief Sophie mit dem leeren Bierglas in der einen und ihrem Kaffee in der anderen Hand zurück an ihren Platz hinter dem Tresen. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass hinter dem Gespräch noch etwas ganz anderes steckte. Chrissi. Sie und ihr Großvater trafen sich und redeten dabei auch über sie.
Wegen des schlechten Wetters kamen nicht viele Gäste, aber bei den wenigen war das Wetter ein wichtiges Thema. Die Sommerwochen waren extrem heiß gewesen, schon Anfang Juli hatten die Wein- und Gemüsebauern über zu wenig Regen geklagt. Also erkundigte sich ein Gast, ob dieser Regen jetzt noch helfen würde. Sophie wusste es nicht, nahm sich aber vor, bei Barbara nachzufragen, wie es um die diesjährige Ernte bestellt war. Sie war da in der Tat sehr nachlässig.
Ihr Handy meldete eine Nachricht. Wieder von Anton. Weshalb konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? Genau das schrieb sie ihm jetzt. Dass sie nicht glaube, dass es noch etwas zu reden … Ohne Vorwarnung ging die Tür auf, und Anton betrat mit Zottel die Weinstube.
»Sophie, wir müssen reden.«
»Nein, Anton, müssen wir nicht.«
»Hör mal, ich bitte dich, hör mir doch wenigstens –« Zottel setzte sich wie auf ein stummes Kommando vor Sophie und hechelte freudig. Er hielt sogar die Pfote in die Luft. Und legte den Kopf schief. Und zwinkerte. Die ganze Klaviatur an Hundecharme. Sophie wollte etwas Gemeines denken wie »Hund in der Suppe«, doch es misslang. Zottel sah aus, als würde er am liebsten einen Purzelbaum schlagen.
»Bist du verlobt?« Sophie wandte sich Anton zu und versuchte, den Hund zu ignorieren. Im Augenwinkel konnte sie sehen, dass Katrin Marlene zurückhielt.
»Ja, aber –«
»Ist Janette deine Verlobte und zieht demnächst nach Konstanz?«
»Ja, was hat das denn –«
»Warst du schon verlobt, als wir uns geküsst haben?«
Anton ließ den Kopf hängen. »Sophie, können wir nicht in Ruhe –«
»Ich hab dir nichts zu sagen. Und ich will auch nichts hören. Verlass bitte mein Lokal und hör auf, mir Nachrichten zu schreiben.« Sie verschränkte die Arme, und Anton verließ mit hängendem Kopf die Weinstube. Katrin kam zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Das hast du gut gemacht, Respekt.«
Sophie schlang die Arme enger um den Körper. »Es fühlt sich aber nicht gut an.«
»Das weiß ich doch«, sagte Katrin mitfühlend. »Das weiß ich doch.« Sie streichelte ihrer Freundin über die Wange. »Los, setz dich noch kurz zu uns mit einem Glas, bevor ich Marlene nach Hause bringe. Heute ist ja nicht so viel los.«
Katrin und Marlene versuchten alles, um Sophie aufzuheitern. Hin und wieder lächelte Sophie, aber es fiel ihr schwer. So vieles hatte sie in letzter Zeit mit Anton verknüpft, und diese Seifenblase war jetzt jäh auf einem spitzen Grashalm gelandet und zerplatzt.
Der Abend war beinahe zu Ende, da nahm er eine unerwartete Wendung. Sophie stellte gerade Espressotassen auf ein Tablett, als jemand sie ansprach.
»Hallo, Sophie.«
Sie zuckte zusammen. Sie kannte diese Stimme, aber sie gehörte definitiv nicht nach Konstanz. Erstaunt blickte sie auf. Vor ihr saß Markus.
»Ich hab gedacht, ich schau mal, wie es dir so geht. Meine Nachrichten ignorierst du ja gelegentlich.«
»Oh, das …«, sie schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und schielte in den Raum, ob Marlene und Katrin noch da waren, erinnerte sich aber, dass die beiden sich bereits verabschiedet hatten. Glücklicherweise. »Das kommt überraschend.« Sie trug das Tablett mit den Espressos zu den letzten Gästen.
Er strahlte sie an, als sie ihm wieder gegenüberstand. »So sollte es sein.« Er nickte anerkennend. »Ich muss schon sagen, das –«
Sophie hob schnell die Hand. »Sag es nicht, Markus, sag nicht, dass du mir das nicht zugetraut hättest, bitte.« Sie merkte, dass sie innerlich flatterte. Es war kein guter Zeitpunkt, um Markus wiederzusehen, kein guter Zeitpunkt, um an ihr altes Leben erinnert zu werden. Es war ein geradezu beschissener Zeitpunkt.
Markus schüttelte den Kopf, dann griff er nach ihrer Hand und streichelte sie. »Aber nein, Sophie, das wollte ich gar nicht sagen.«
»Sondern?«, fragte sie spitz und entriss ihm ihre Hand.
»Das steht dir außerordentlich gut, hier einen eigenen Laden zu haben. Ehrlich, das steht dir richtig gut.«
Sophie musterte ihn. Ein Lob vom Vater ihres Kindes zu erhalten traf mitten in eine viel zu große Leerstelle in ihr. Langsam nickte sie. »Danke.«
»Kann ich bleiben und einen Wein trinken?«
Jetzt musste Sophie lachen. Seine Stimme war nicht so souverän wie sonst, er wirkte zugewandt, ohne überheblich zu sein, kurzum, er wollte sie offenbar wiedersehen, war aber unsicher, ob sie ihn nicht einfach vor die Tür setzen würde. Er hatte Respekt. Das war gut. »Klar kannst du bleiben. Es gibt auch was zu essen, wenn du möchtest.«
Er freute sich und deutete auf den Platz unter den Familienfotos. »Darf ich?«
Sie nickte und brachte ihm wenig später einen Weißwein für den Einstieg. Sie erzählte ihm etwas über das Anbaugebiet, die Rebsorten, die dort wuchsen, und die verschiedenen Weine der Sonnbachs. Umgekehrte Verhältnisse.
Markus sah sie erstaunt an. »Ich wusste nicht, dass du dich so gut auskennst.«
»Erst allmählich.« Sie ließ die Hand durch die Luft gleiten. »Immerhin führe ich eine Weinstube, da sollte ich mich wohl auskennen. Ich bring dir nachher noch meinen Lieblingsrotwein, einen Spätburgunder, und dazu Käse, wenn du magst.«
»Sehr gern. Ehrlich, Sophie, ich bin mächtig beeindruckt.«
Sie machte einen Knicks. Es war nun doch eine willkommene Ablenkung – Anerkennung von jemandem, von dem sie es am wenigsten erwartet hätte. Als würde ihr das Leben einen Strohhalm hinhalten, damit sie aus ihrer Höhle wieder herauskam.
Als die letzten Gäste gingen und nur noch Markus übrig war, setzte sie sich mit einem Glas Rotwein zu ihm. Er hatte bereits sein zweites und aß Käse mit Oliven.
»Hervorragende Empfehlung, vielen Dank, Sophie.«
»Was führt dich nach Konstanz?«
»Du. Ich wollte wissen, wie es dir geht.«
»Aha.« Sie trank einen Schluck und sah Markus abwartend an.
Er wand sich, stocherte auf der Käseplatte herum, lächelte verlegen. »Himmel, Sophie, du fehlst mir. Ich … Es läuft nicht so gut mit Irene.«
»Oh.« Sophie fühlte sich mit einem Schlag unbehaglich. Was da plötzlich im Raum stand, überforderte sie. »Was erwartest du?«
»Gar nichts, Sophie, gar nichts. Ich wollte dich sehen, wollte wissen, ob da noch etwas zwischen uns …« Er fuhr sich durch die Haare. »Also, ob wir uns eventuell noch einmal annähern könnten, immerhin –«
Sophie schüttelte den Kopf. »Sag es nicht, Markus.«
Er ließ den Kopf hängen. »Du bist immer noch wütend, ich versteh das.«
»Nein, Markus, ich bin nicht mehr wütend. Ich will nur nicht noch einmal denselben Fehler machen.«
Markus beugte sich vor und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Sophie verharrte in der Berührung, spürte, dass es ihr guttat, dass Markus da war und sie ablenkte, hörte eine Stimme, die ihr zuflüsterte, dass jetzt die Vorzeichen andere seien, dass sie nicht verliebt in Markus sei, dass er zu ihr gekommen sei und sie es sich jetzt einfach gut gehen lassen könne. Sie sah, dass er zögerte, dass er noch immer schöne grüne Augen hatte. Er beugte sich zu ihr. Sie roch seine Hautcreme, die Spur Moschus, es roch vertraut. Sein Gesicht war ganz nah. Er hauchte ihren Namen, dann küsste er sie, und sie ließ es geschehen. Sie fand keinen Grund, weshalb sie sich wehren sollte. Er half ihr beim Aufräumen, und gemeinsam verließen sie das Lokal und gingen zu ihr in die Wohnung.