Die Regentage vergingen so schnell, wie sie gekommen waren, und schon war wieder Hochsommer in Konstanz. August und Anfang September war die Zeit der Sommerferien für etliche Bundesländer, da platzte die Stadt aus allen Nähten. Die Hotels waren voll, die Ferienwohnungen ausgebucht, die Strände übervölkert. Die Marktstätte und die angrenzenden Gassen der Fußgängerzone sowie der Hafen waren natürlich ein wahrer Magnet. Man musste als Konstanzer wissen, wann man wohin gehen konnte, wollte man nicht von den Touristen an die Wand gedrückt werden. Das klang übertrieben, war es aber nicht. Gleichwohl gab es wie in jeder Stadt Straßen, die von den Touristenströmen vernachlässigt wurden – zum Glück der »Ureinwohner«. In der Niederburg etwa war es deutlich ruhiger, auch in den Straßen rund um Sophies Wohngegend, südwestlich vom Bodanplatz.
Selten war Sophie so froh darüber wie jetzt. Sie stolperte mehr oder weniger durch die folgenden Tage und verschanzte sich entweder in der Weinstube oder in ihrer Wohnung und wimmelte sogar Katrin ab. Auf das drängende Nachfragen der Freundin schrieb sie, dass Markus da gewesen sei und sogar bei ihr übernachtet habe und sie einfach Zeit bräuchte, um sich über einiges klar zu werden. Im Grunde tat sie nur das Nötigste, damit es Marlene einigermaßen gut ging. Aber ihr Töchterchen merkte, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Immer häufiger versuchte sie, Sophie aufzuheitern. Sie kuschelte auffallend oft und sagte ihr, wie sehr sie sie lieb habe. Sie malte kleine Bilder und legte sie heimlich so hin, dass Sophie sie finden musste – eine Sonne neben der Kaffeemaschine, eine Strichmännchen-Frau mit Strichmännchen-Kind auf der Waschmaschine, ein Herz mit einer Blume auf dem Spülbeckenrand. Marlene gab sich wirklich Mühe.
Eines Abends, nachdem Sophie Marlene ins Bett gebracht hatte, blätterte Sophie noch auf dem kleinen Maltisch ihrer Tochter in deren Bildern. Marlene malte viel und oft, und jene Kunstwerke, die bei Sophie landeten, waren jeweils die besten aus einer Reihe von Versuchen. Marlene übte sich auch im Schreiben, da hatte Chrissi offenbar schon ganze Arbeit geleistet. Und so kam es, dass Sophie eine weitere Zeichnung von ihrer Tochter fand: ein Strichmännchen-Mann und eine Strichmännchen-Frau und dazwischen ein Kind und daneben noch etwas Wuscheliges mit vier Beinen. In krakeliger Kinderschrift standen dort die Namen Anton, Sophie und Marlene, und darüber waren drei Herzen gemalt. Sophie stand ganz still, das Bild in der Hand. Bei ihrer ganzen Trauer und ihrem ganzen Selbstmitleid hatte sie komplett aus dem Blick verloren, dass ihre Tochter vielleicht auch traurig über den Verlust war. Schnell schob sie das Bild wieder in den Zettelberg auf Marlenes Schreibtisch und verließ das Zimmer. Die Meerschweinchen pfiffen ihr hinterher, offenbar noch nicht zufrieden mit dem Abendbrot.
Sophie viertelte einen Apfel und schnitt auch zwei Karotten in kleine Stücke, dazu legte sie noch ein paar Scheiben Gurke – die Lieblingsspeise von Krümel. Anschließend setzte sie sich mit einem Glas Wein auf ihren Balkon. Es war tatsächlich wieder hochsommerlich, selbst nachts reichte ihr eine Strickjacke. Irgendwo saßen jetzt Anton und Janette, tranken vielleicht auch ein Glas Wein und sahen in denselben Sternenhimmel.
Sophie biss sich auf die Lippen. Irgendwo saß auch ihre Freundin Chrissi und haderte mit ihrer Entscheidung. Wie das Leben aber auch spielte, merkwürdig. Und ihr Großvater saß irgendwo in dem großen Haus vielleicht mit Barbara zusammen und wälzte Rechnungen.
Weshalb war ihr das nun schon zum zweiten Mal passiert? Ein Mann, der eigentlich eine andere Frau liebte. Anton. Weshalb verliebte sie sich überhaupt so Hals über Kopf in einen Mann, der immer wieder auftauchte und verschwand, wie es ihm passte, und so wenig von sich erzählte? Klar hatte Anton sich nicht verliebt in sie. Wieso auch? Sie war Sophie, einfach Sophie, nichts Besonderes. Sie führte eine Weinstube, weil ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen waren, war notgedrungen nach Konstanz zurückgekehrt, ohne zu wissen, wo ihre Heimat sein könnte. Sie hatte ein Kind, aber keinen Mann dazu und ein abgebrochenes Studium, weil –
Eine Nachricht. Von Katrin.
Ich bin in deiner Straße. Soll ich hochkommen?
Ja!
»Hat es trotzdem auch ein wenig gutgetan?«, fragte Katrin, nachdem Sophie von Markus erzählt hatte.
»Zunächst schon«, sagte Sophie. »Es war eine späte Bestätigung, endlich waren wir mal auf Augenhöhe.«
»Und dann?«, fragte Katrin leise.
»Ein paar Tage später hab ich im Büro in Frankfurt angerufen. Ich wollte ihn fragen, ob er am Wochenende … Kurzum, ich hatte unsere Sekretärin am Apparat. Nadja. Sie ist nett. Sie hat mir erzählt, Markus hätte gerade Besuch von seiner Frau und es würden ordentlich die Fetzen fliegen, weil sie herausgefunden hat, dass er sie betrügt und die Scheidung will.«
»Oh, deinetwegen?«
Sophie schnaubte. »Das hab ich auch erst gedacht, aber nein. Der Scheidungskrieg läuft schon ein paar Wochen, also lange vor seinem Besuch bei mir.«
»Nee, oder? Was ein Arsch. Das hat er nicht erwähnt, wie? Und andere Affären hatte er auch?«
»Er kann nicht anders, ehrlich, ich glaub, er kann nicht anders.« Sophie schenkte ihnen beiden noch einmal nach. In der Ferne schlugen die Glocken einer Kirche. »Weißt du, was das Schlimmste ist?«
Katrin hob fragend die Augenbrauen.
»Er hat kein einziges Mal nach seiner Tochter gefragt.«
Katrin ließ kurz den Kopf hängen, dann begann sie, in ihrer Handtasche zu wühlen. »Wo ist es nur …?«
»Was suchst du denn?«
»Hier.« Sie reichte Sophie ein Papier. »Das hat Marlene neulich gemalt. Ich hab es aus Versehen in meiner Tasche behalten. Aber es war natürlich für dich.«
Das Bild zeigte ein Herz mit Armen und Händen. An einer Hand hielt es einen Regenschirm. »Weißt du, was sie gesagt hat?«
Sophie blinzelte.
»›Manchmal braucht das Herz sogar bei Sonnenschein einen Regenschirm.‹« Katrin lächelte. »Und den hast du. Denn du hast Marlene und uns.«