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Verkaufsgespräche

»Wir haben etwas zu besprechen«, verkündete der Großvater mit fester Stimme beim sonntäglichen Familienbrunch.

Sophie zuckte zusammen. Die Nacht steckte ihr noch in den Knochen, die Abreise von Sebastian ebenfalls. Ihr Bruder war am Morgen kaum aus dem Bett gekommen, sodass der Abschied eher flüchtig geraten war. Sie vermisste ihren Bruder mehr denn je. Neben ihr saß Katrin mit tiefen Augenringen und einem Glas mit einer sprudelnden Flüssigkeit.

»Hilft die Tablette schon?«, fragte Barbara mitfühlend.

Katrin nickte schwach. »Ich hab erst die halbe unten.« Sie hob das Glas und leerte es in einem Zug. Auch sie hatte Sebastian ungern gehen lassen.

»Wird schon«, sagte Barbara und tätschelte ihr die Wange.

»Wo wart ihr denn so lange?«, fragte Hans.

»Tantris. Schlagerparty«, sagte Katrin einsilbig.

Barbara sah überrascht zu Sophie. »Du magst Schlager? Das wusste ich gar nicht.«

»Mag ich auch nicht. Die beiden haben mich da unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hingelockt.«

Katrin lachte. »Arme Sophie. Aber lustig war es schon.«

»Wir haben Interessenten. Die kommen heute Nachmittag«, sagte der Großvater, nahtlos an seinen Einwurf anknüpfend.

Sophie sah zur Seite. »Bitte was?«

»Die Interessenten. Sie kommen heute Nachmittag.«

»Ich weiß, dass du von den Interessenten sprichst. Ich hab das akustisch wohl verstanden, aber so schnell? Muss das denn sein?« Sophie sah hilfesuchend zu Barbara und Hans.

»Worauf soll ich warten?«, wunderte sich der Großvater.

Sophie wusste es nicht. Sie schielte zu ihrer Freundin, doch auch Katrin sah ratlos aus.

»Es ist ein Pärchen. Sie kommen um siebzehn Uhr.«

Nach dem Frühstück liefen Sophie und Katrin schweigend nebeneinander durch die Straßen der Altstadt. Es war so still, wie es nur an einem Sonntag sein konnte, die Tauben nutzten die Gelegenheit und suchten in aller Ruhe nach Krümeln in den Ritzen des Kopfsteinpflasters.

»Sag schon, dass ich eine dumme Kuh bin.« Sophie kickte ein Steinchen vor sich her.

»Wie kommst du denn jetzt darauf?«

»Na, wegen der Sache von damals, dass ich abgehauen bin, dass ich so lang gelogen habe. Dass ich jetzt so ein Theater mache, weil mein Großvater –«

»Ich vermisse deinen Bruder«, sagte Katrin statt einer Antwort.

»Klar, ich auch. Er sollte …« Sophie blieb stehen und hielt Katrin am Arm fest. »Du vermisst ihn auch?«

Katrin hob hilflos die Arme in die Luft. »Seit Jahren denke ich, dass er der Einzige wäre, den ich wieder in mein Herz lassen könnte.« Sie schluchzte. »Ich weiß auch nicht, warum. Vielleicht weil er schon immer da ist, schon da war, bevor Michael … Vielleicht weil er dein Bruder ist und dazugehört, in unser Leben, verstehst du?« Katrin sah zur Seite und schniefte. »Ich hab also auch Geheimnisse.«

Sophie kramte nach einem Taschentuch und reichte es ihrer Freundin. »Das wusste ich nicht«, sagte sie leise. »Ich dachte, du machst da nur Witze … Auch wenn ich es mir immer gewünscht hätte, dass du und er … Tut mir leid.«

»Es tut mir leid, dass du diese alte Geschichte so lang mit dir rumschleppen musstest. Es ist nicht nur deine Schuld, dass du dich schlecht gefühlt hast.«

Sophie biss sich auf die Lippen.

»Ich hätte mich mehr darum kümmern sollen, weshalb du abgehauen bist. Ich hätte für dich da sein sollen.« Katrin sah richtig verzweifelt aus.

»Nein«, wehrte Sophie ab. »Das ist doch nicht deine Schuld. Ich war einfach nicht mutig genug.«

Katrin holte tief Luft, dann nickte sie lächelnd. »Die Wahrheit zu sagen ist manchmal gar nicht so leicht.«

Jeder Handgriff fiel Sophie an diesem Tag schwer, und spätestens am Nachmittag wusste sie, dass dies nicht mehr nur am Abschied von Sebastian, am Schlafmangel und am Restalkohol lag, sondern daran, was Katrin gesagt hatte: Die Wahrheit zu sagen ist manchmal gar nicht so leicht. Es gab Gründe, weshalb sie selbst nicht die Wahrheit gesagt hatte, weshalb auch Katrin sie für sich behalten hatte. Gewiss hatte auch Anton Gründe gehabt.

Die Spülmaschine piepte. Wenn Sophie die Maschine nun öffnen würde, dann käme ihr eine heiße Wolke entgegen. Sie hasste den Geruch dampfender Geschirrspülmaschinen. Diese hygienisch heiße Luft. Wieder piepte es. Missmutig starrte sie hinüber. Ein Schritt, den Arm ausstrecken und die Tür so weit öffnen, dass der Dampf entweichen konnte, dann schnell wieder Abstand nehmen.

Es ist ein Pärchen. Sie kommen um siebzehn Uhr.

Ihr Handy klingelte. Anton. Sie zögerte. Die Wahrheit. Sie musste ihr irgendwann ins Gesicht blicken. Die Wahrheit war, dass sie davon geträumt hatte, mit Anton diese Weinstube zu führen, die jetzt einem anderen Paar zum Verkauf angeboten wurde. Das Klingeln hörte auf. Sophie würde mit ihm reden, aber nicht heute. Entschlossen lief sie zur Spülmaschine und öffnete sie. Heißer Dampf stieg zu ihr auf, Sophie harrte einen Moment aus und schloss die Augen. In der Küche klapperten die Töpfe.

Ein Pärchen. Sie kommen um siebzehn Uhr.

Sie stützte sich auf den Tresen, spürte den Rillen nach, den Spuren im Holz nach all der Zeit, und fand zum ersten Mal, dass man den Tresen erhalten müsste, wenn man die Weinstube renovieren würde. Sanft fuhr sie darüber, erinnerte sich an das vertraute Bild ihrer Kindheit – die Mutter und der Vater bei der Arbeit, der Vater im Gespräch mit Gästen, die Mutter mit einem Tablett mit Gläsern.

»Au!«, rief Sophie plötzlich und hielt den Finger vor ihr Gesicht. Ein Splitter, in ihrem Zeigefinger. Die Erinnerung hatte eine sichtbare Spur hinterlassen.

Der Großvater hielt das Weinglas mit beiden Händen fest. Sophie sah nervös auf die Uhr. Eine Minute noch, dann würde wahrscheinlich die Tür zur Weinstube aufgehen, und die Interessenten würden eintreten.

»Ich hoffe, die haben das auch im Kreuz.«

»Was?« Sophie kaute auf ihrer Unterlippe.

»Na, den Kaufpreis. Wenn so junge Leute kommen, dann hab ich schon Sorge, dass die sich übernehmen.«

Der Pragmatismus des Großvaters musste ein Schutzmechanismus sein, denn die Falten auf seiner Stirn wirkten heute noch tiefer, und sein Blick war stur auf den Müller-Thurgau in seinem Glas gerichtet. Sophie hatte Mitleid, am liebsten hätte sie einfach die Tür abgesperrt und niemanden hereingelassen. Und dann ihren Großvater umarmt.

Der schielte jetzt zur Uhr. »Zu spät. Sie sind zu spät.«

»Eine Minute, Großvater, das ist noch nicht tragisch«, versuchte Sophie, ihn und sich zu beruhigen.

In dem Moment ging die Tür auf, und als Erstes hörte Sophie ein ungeduldiges Bellen. Ihr war, als drückte jemand ihren Brustkorb zusammen. Zottel kam hereingerannt und zog Janette hinter sich her, die wiederum Anton an der Hand hielt. Es war ein Auftritt wie in einer Komödie. Janette war blendend gestylt und trug ein Etuikleid in einem zarten Orange. Es war wie immer: Wenn eine schicke Frau selbstbewusst und fröhlich auf sie zukam, schrumpfte Sophie ungefähr auf die Größe ihrer Tochter.

Was taten Janette und Anton ausgerechnet an diesem Nachmittag in ihrer Weinstube? Konnten die nicht woanders essen und trinken?

Sie erhob sich schwerfällig, zog ihre geblümte Bluse nach unten und ging auf Janette zu, Anton einen bösen Blick zuwerfend. Vielleicht wollte sie die Wahrheit doch nicht wissen. Wie konnte er nur hier auftauchen? Mit Janette und diesem Hund! Janette strahlte mit den Gläsern ihrer Sonnenbrille um die Wette. Eine Welle teuren Parfüms kam Sophie entgegen. Zottel jedoch hatte sie zuerst erreicht und sprang fröhlich an ihr hoch.

»He, lass das«, schimpfte Sophie und schob den Hund weg, der umgehend fiepte.

»Entschuldige«, sagte Janette und zog Zottel zu sich. »Ich hab vergessen, wie sehr er dich mag. Und du magst Hunde gar nicht so sehr, hat Anton erzählt. Zottel, lass das jetzt. – Schatz, nimm du ihn mal.«

Anton wirkte ungelenk, als er nach der Leine griff. Seine Lippen formten ein »Sorry«.

Sophie wollte gerade einen Tisch vorschlagen, der etwas weiter entfernt lag, als hinter ihr der Großvater aufstand und zu ihr kam.

»Sie sind Frau Schelling?«, fragte er und hielt Janette seine Hand entgegen.

Es brauchte noch ein paar Sekunden, bis Sophie endlich begriffen hatte. Janette und Anton waren nicht einfach hier, um etwas zu trinken, das »Sorry« von Anton hatte nichts mit seinem unangemessenen Auftauchen zu tun, sie waren weder zufällig noch aus Spaß hier.

»Genau, die bin ich, Herr Sonnbach.« Sie sah sich freudestrahlend um. »Sie haben hier so ein Schätzchen, danke, dass wir uns heute hier treffen können.« Sie hielt noch immer die Hand des Großvaters mit beiden Händen umschlossen.

Die Falten gruben sich noch ein wenig tiefer zwischen seine Augen. »Ja, ist halt alt und mit langer Tradition hier«, erwiderte er barsch und zog seine Hand zurück. Ohne weitere Höflichkeitsfloskeln lief er zurück an seinen Tisch.

Janette sah ein wenig verwirrt zu Sophie, zuckte dann aber lachend die Schultern und lief zielstrebig an den Tisch, wo der Großvater mit seinem Weinglas in der Hand saß und wartete. Anton folgte mit Zottel, langsam. Keine Spur von dem federleichten Gang jenes Mannes, der vor Monaten den Raiteberg nach oben gelaufen war.

Er hat es nicht gewusst, sagte sich Sophie, er hatte keine Ahnung, welches Lokal Janette übernehmen will.

Ihr war schlecht, als die beiden sich setzten.

»Wollt ihr was trinken?« Jedes Wort kratzte im Hals.

»Oh ja. Ich würde gern einen Weißwein testen. Sophie, mach uns doch zwei Gläser.«

Sophie nickte mechanisch und sah zu Anton, der in sich zusammengekauert dasaß. Noch ein Dessert zum Wein, wie neulich, hätte Sophie gern gefragt.

Janette war ihrem Blick offenbar gefolgt. »Anton hat die Überraschung noch nicht so ganz verdaut. Aber ich musste es einfach wagen. Als ich gelesen habe, dass just diese Weinstube zum Verkauf steht, da konnte ich nicht anders.« Sie legte eine Hand auf Antons Arm.

Sophie wandte sich ab und lief zur Theke. Plötzlich stand Anton auf und kam ihr hinterher. Er bedeutete ihr, ihm zu den Toiletten zu folgen.

»Was willst du?«

»Wieso willst du verkaufen?«

»Das geht dich überhaupt nichts an, Anton.« Es war, als würde Sophie flüsternd schreien. Ihre Stimmbänder schmerzten umgehend.

»Sophie, bitte, du bist wütend, das verstehe ich. Aber –«

»Kein Aber. Du willst die Weinstube kaufen?« Sophie verschränkte die Arme. »Schön für dich, ach, sorry, für euch natürlich. Gratuliere.«

Anton ließ den Kopf hängen. »Bitte nicht, Sophie, du hattest so viele Ideen, du gehörst hier doch her. Du bist doch schon längst glücklich hier.«

»Klar, du musst es wissen«, gab Sophie patzig zurück. Sie hätte ihm am liebsten gegen das Schienbein getreten. Und ihn geküsst. Und angeschrien. Und geküsst. Und geschubst. Und –

»Mach dir das nicht kaputt, bitte, nicht meinetwegen. Die Weinstube und du –«

»Anton?« Janettes fröhliches Lachen drang durch das Lokal.

Anton schüttelte ganz sacht den Kopf. »Es ist anders, als du denkst«, sagte er leise und rief dann in die andere Richtung: »Ich komme, Liebes!«

Sophie war jetzt tatsächlich übel. Sie rannte in die Damentoilette und übergab sich. Sie war so aufgewühlt, von Antons Blick, seinen Worten, seinem Versuch, sie umzustimmen, aber auch von der Vorstellung, dass sie hierhergehörte und dass bald alles fort wäre. Sie saß auf der Toilette und verbarg ihr Gesicht in den Händen.

Ich würde dich so gern um Rat bitten, Papa. Und dich, Mama, würde ich bitten, mir deine Hand auf die Stirn zu legen.

Irgendwann stand Janette im Bad am Waschbecken und fragte durch die geschlossene Tür, ob alles okay sei. Sophie wischte sich übers Gesicht, betätigte die Spülung und kam in den Vorraum. Sie lachte gekünstelt und verdrehte die Augen.

»Kater«, sagte sie lapidar und schüttete sich kaltes Wasser ins Gesicht. Dann wedelte sie mit der Hand durch die Luft. »Ich war mit alten Freundinnen unterwegs, kennst du ja. Man kommt dann einfach nicht ins Bett.«

Janette lächelte sie an. »Ja, das kenne ich. Ich werde meine Mädels furchtbar vermissen, wenn wir erst einmal hier wohnen.« Sie legte den Kopf schief. »Soll ich dir schnell mein Make-up leihen?«

Sophie hätte sich beinahe verschluckt. Das letzte Mal, als sie versucht hatte, sich zu schminken, hatte sie danach ausgesehen wie zu Karneval. Sie schaffte es nicht, die Make-up-Ränder unsichtbar und fließend in den Rest des Gesichtes übergehen zu lassen.

Janette hatte bereits ein kleines Döschen aus ihrer Handtasche gezaubert und war schon dabei, mit einem Tupfer das feine Pulver aufzusammeln und Sophie auf die Wangen zu pudern.

»Oh.« Sophie zuckte vor dem etwas aufdringlichen Duft zurück.

»Schon besser.« Janette packte das Döschen weg und drehte Sophie ihrem Spiegelbild zu. »Siehst du? Es gibt nichts, was man mit ein wenig Schminke nicht retten kann.«

Sophie starrte Janette über das Spiegelbild hinweg an. Ob sie selbst bemerkte, was sie da gerade gesagt hatte? Sophie kam sich fremd vor, als sie mit Janette zurück an den Tisch ging. Ihr Großvater und Anton schienen sich gut zu verstehen.

»Ich hab sie wieder mitgebracht«, sagte Janette und präsentierte Sophie wie einen Hauptgewinn auf dem Jahrmarkt.

Der Großvater nickte, ohne wirklich aufzublicken. Anton jedoch hob den Kopf, und seine linke Augenbraue hüpfte einmal nach oben, dann versenkte er seinen Blick schnell auf die Unterlagen vor sich. Sophie wusste, dass es sich um die Bilanzen der Weinstube handelte, in die sich nun auch Janette vertiefte. Ihr Großvater tippte auf sein leeres Glas, und Sophie war froh, eine Aufgabe zu haben. Zottel winselte ihr nach. An der Theke machte sie etwas, was sie noch nie gemacht hatte: Sie schenkte sich ein Glas Wein ein und trank es sofort leer. Umgehend breitete sich der Alkohol in ihrem Körper aus, und Sophie ahnte, dass es keine gute Idee gewesen war. Mit weichen Knien und einer Flasche Müller-Thurgau ging sie zurück an den Tisch und hörte Janette gerade sagen: »Ach, schon ein Jammer, dass Sophie die Weinstube nicht weiterführen will.«

Anton hustete. Sophie schwieg.

»Also, ich für meinen Teil bin mit den Bedingungen einverstanden. Was meinst du dazu, Schatz?«

Sophie stellte sich vor, ihm ein Glas Rotwein über den Kopf zu schütten. Rot würde es von seinen Haaren auf das weiße Hemd tropfen … An ihren Beinen fühlte Sophie etwas Warmes. Zottel. Er schmiegte sich an sie. Dieser dumme Köter. Hau endlich ab, Snoopy, dachte sie und erschrak über ihren geistigen Versprecher.