Harald Sonnbach war noch keine dreizehn, als der Zweite Weltkrieg für beendet erklärt wurde. Er hatte davon gar nicht so richtig etwas mitbekommen, Konstanz war ja ein friedliches Pflaster, aber das viele Reden vom Krieg und vom Hunger hatte ihm Angst bereitet. Er war nicht so wie die anderen Jungs, die Soldaten gespielt und sich gruselige Geschichten von der Front erzählt hatten, die sie selbst zitternd und oft mit auf die Ohren gepressten Händen nachts aufgeschnappt hatten, wenn Väter, Großväter oder Onkel zu Besuch waren. Fronturlaub am Bodensee. Wie konnte man dem »Krieg« sagen, dass man mal eben auf Urlaub war? Der kleine Harry hatte das nicht verstanden. Das Leben hatte den Radius ein wenig verengt, aber für ihn als Kind war er dennoch groß genug. Und zu essen hatten sie auch. Der Garten bot reichlich und lag so versteckt bei der Tante hinterm Haus, dass sie sich vor Plünderungen nicht fürchten mussten.
Harald träumte gern. Er wollte zur See fahren, auf dem großen Meer natürlich, weil das Bootfahren auf dem Bodensee immer so schön gewesen war mit dem Vater. Doch der Vater kam nicht aus dem Krieg zurück, lange wartete die Mutter, hoffte, betete. Die Jahre vergingen, die Großeltern führten die Weinstube, die Mutter kümmerte sich um die Küche, Harald durfte Kind sein. Ein Privileg. Er besuchte eine gute Schule und lernte Sabine kennen. Es waren die fünfziger Jahre, die Menschen fingen an, das Leben zu genießen, die neu gewonnenen Freiheiten, sie kauften Autos und Fernseher und planten Urlaube in Italien.
Harald war ganz berauscht von diesem überschäumenden Glück, in welchem der große Triumph des Lebens über den Schrecken des Krieges mitschwang. Es war wie ein trotziges »Jetzt aber!«. Die Mutter wartete noch immer, wobei das Warten an sich zum unausgesprochenen Ziel geworden war, es war ein Schutz davor, neu anfangen zu müssen. Es war ein Wermutstropfen auf seinem Glück – das Unglück der Mutter. Manchmal betete er abends für den Vater, nicht dass er zurückkam, sondern dass endlich klar wurde, wo er gefallen war, denn dass er noch lebte, daran glaubte Harald nicht mehr.
Schließlich kam die Zeit der Reisen. Sabine war immer an seiner Seite. Sie verabschiedeten sich bei ihren Familien in Konstanz und fuhren einfach los, beide neugierig und mutig genug, die ganze Welt zu erkunden. Keine Sprache, keine Sorge der Eltern, nichts konnte sie aufhalten. Sie tauchten ein in eine Welt, die die Alpträume zweier Kriege und Millionen von Toten hinter sich lassen wollte und mit geöffneten Armen vor ihnen lag. Bestätigten Abenteuer nicht erst recht das Leben? Gaben sie ihm nicht den einen Sinn, nach dem alle sich sehnten? So sehr sehnten, dass es bisweilen schmerzte, wenn man einen Moment innehalten musste.
Doch dann passierte etwas, das Haralds Leben von Grund auf verändern sollte. Mitten in Spanien erreichte ihn die Nachricht der Mutter: »Er ist zurück.«
Wer, dachte Harald, bis ihm sein verschollener Vater einfiel. Mit gemischten Gefühlen, doch auch voll freudiger Neugier verabschiedete er sich von Sabine und versprach ihr, bald zurückzukehren. Tagelang reiste er mit dem Zug quer durch Europa. Erschöpft kam er zu Hause an und stellte sich auf den letzten Metern zum Haus vor, seinem Vater in die Arme zu fallen, doch dort auf dem Sessel im Wohnzimmer saß ein alter Mann mit eingefallenen Wangen, der stumpf vor sich hinstarrte und kaum aufblickte, als sein Sohn eintrat.
Nachts in der Küche lehnte die Mutter an der Ablage, die Arme verschränkt und die Hände fest in die Oberarme gekrallt.
»Er braucht einfach noch Zeit. Er wird wieder der Alte.«
Aber Harald wusste gar nicht, wie der alte Vater gewesen war, es war zu lange her.
Der Vater wurde nicht der Alte. Er blieb wortkarg, mürrisch, abwesend. Er war viel zu dünn und wollte doch nichts essen. Oder konnte nicht. Er hasste Umarmungen und freundliche Worte. Am besten war es, wenn alle um ihn herum schwiegen, denn auch laute Geräusche konnte er nicht ertragen. Sein Kopf schmerzte, die Gliedmaßen ebenfalls. In der Weinstube stand er gedankenverloren am Tresen und starrte vor sich hin, auch wenn die Gäste ihn freundlich riefen, reagierte er manchmal überhaupt nicht. Harald half der Mutter, den Großeltern, die plötzlich nicht mehr fit genug waren, um die Weinstube allein zu betreiben. Die Rückkehr des Vaters wirkte nicht wie ein erleichterndes Geschenk, nicht wie eine Gnade des Schicksals, sondern vielmehr wie das Gegenteil: Unter der Last seiner Anwesenheit verloren die Großeltern ihre Lebensenergie und ihren Mut, die Mutter ihre Liebe und Hoffnung. Verkehrte Welt. Die Tragödie des späten Heimkehrers.
Euch wäre es wohl lieber, ich wäre für immer in diesem Lager geblieben. Oder am besten gefallen.
Wie kannst du so etwas sagen?
Merk ich doch. Ich bin nur eine Last.
Du hast dich verändert.
Ich bin gestorben, verstehst du? Ich bin hundert Mal gestorben dort draußen, und ihr wollt mich lachend zurück.
Ich will meinen Mann zurück. Einen Menschen, einen, der noch leben will.
Lass mich in Ruhe.
Es wurde immer schlimmer. Harald hörte die Mutter oft weinen. Gerade als er beschloss, wieder loszuziehen, um Sabine zu treffen und das Leben zu feiern, erklärten die Großeltern, dass sie nicht mehr konnten. So lange hatten sie die Hoffnung auf die Rückkehr des Sohnes in ihrem Herzen getragen, nur für ihn hatten sie überhaupt die Weinstube am Laufen gehalten, um jetzt zu sehen, wie er trotz Anwesenheit verloren war. Ein Toter war zurückgekehrt. Sie beschlossen, die Weinstube an ihren Enkel zu überschreiben, an Harald. Harald war wie vor den Kopf gestoßen. Es war keine Frage, sondern eine beschlossene Sache.
Aber Sabine wartet, versuchte er zu erklären.
Er solle aufhören mit seinen Spinnereien und Verantwortung übernehmen, sagten die Großeltern. Das schließlich sei er seinem Vater schuldig.
Schuldig. Harald, der ein Kriegskind war, dessen Vater zwar aus dem Krieg heimgekehrt, aber nicht mehr derselbe war. Harald, der so gern um die Welt reiste. Er war etwas schuldig?
Harald verstand nicht, was da passierte. Die Großmutter weinte, die Mutter weinte, der Vater starrte vor sich hin, der Blick nach dem vierten Schoppen Wein glasig, der Großvater schlug mit der Faust auf den Tisch, sie sollten sich gefälligst alle nicht so anstellen, es gebe schließlich Schlimmeres, als sich ins gemachte Nest setzen zu dürfen.
Harald schrieb Sabine, dass er vorerst nicht mehr reisen könne, sondern in der Weinstube helfen wolle, dass er aber alles daransetze, bald zu ihr zu kommen.
Sabine wartete. Er schrieb wieder und versuchte ihr zu erklären, dass es nicht um ihn, sondern um die Familie gehe.
Aber genau die wollten wir doch gründen, irgendwann, wenn wir die Welt …
Und während Sabine in Schweden unterwegs war, heiratete Harald schließlich Gisela.
Der Vater trank so lange, bis er eines Abends bei einem Spaziergang am Ufer des Bodensees den Halt verlor und ins Wasser fiel. Er wurde erst Tage später wieder aus dem See gefischt. Für einen Moment überlegte Harald, ob das etwas änderte, aber Gisela war eine gute Frau und Sabine eine wunderbare Erinnerung …
»Sabine ist meine Großmutter«, schloss Chrissi ihre Erzählung.
Sophie saß schweigend da, ihre Beine baumelten über dem Rhein, und sie blickten hinüber zur anderen Uferseite. Die Lichter aus dem Lokal und vom Biergarten spiegelten sich im Wasser, das viel zu tief stand, gedämpft waren Stimmen zu hören. Über ihnen prangte ein großer, beinahe runder Mond, unten gurgelte das Wasser und ließ die Boote schaukeln und aneinanderstoßen.
Sie waren an den Rhein gelaufen, Chrissi wollte reden, eigentlich über sich und Olaf, und dann hatte Sophie es doch gewagt zu fragen, was sie schon so lange auf dem Herzen hatte. Die Frage nach der besonderen Verbindung, die sie zwischen Chrissi und dem Großvater zu spüren glaubte. Und plötzlich hatte Chrissi angefangen zu erzählen. Es war weit nach Mitternacht, die Luft schon angenehm abgekühlt, die Flasche Wein geleert.
»Weshalb hat mir niemand davon erzählt?«, fragte Sophie matt.
»Das weiß ich nicht, Sophie«, sagte Chrissi. »Meine Oma hat mir schon vor Jahren davon erzählt, vor vielen Jahren. Ich wusste nicht, was ich dir erzählen soll. Ich meine, das ist die Geschichte deines Großvaters.«
»Er wollte mir offenbar nicht davon erzählen«, stellte Sophie fest und warf einen Olivenkern ins Wasser. Eine Olive war noch übrig. »Willst du?«
Chrissi lehnte dankend ab.
Sophie nahm die letzte Olive und schob sie lange im Mund herum, bis nur noch der Kern übrig war. Den spuckte sie so weit es ging auf den dunklen Rhein hinaus.
»Du warst noch nie gut im Kernweitspucken«, stellte Chrissi lachend fest.
»Ich weiß auch nicht, weshalb, Sebastian war da immer der Profi.«
Chrissi löste ihre Zöpfe und schüttelte die Haare. »Ich hab deinen Großvater nicht allzu oft gesehen in den letzten Jahren, aber jetzt waren wir eben wieder zusammen und kamen ins Gespräch. Er hat mich gefragt, wo ich überall war, und dann hat er mir gesagt, dass ich ihn an meine Großmutter Sabine erinnere. Ich denke, er war einfach sehr mit der Vergangenheit beschäftigt, seit deine Eltern tot sind.«
Sophie nickte. War sie selbst das nicht auch?
»Vielleicht freut er sich, wenn du ihn einfach mal fragst. Nach seinen Reisen, meine ich.«
»Weißt du, ich kenne ihn vor allem als bestimmend und resolut und meist auch grimmig.«
»Ich finde, dass er in letzter Zeit wesentlich umgänglicher geworden ist.«
»Ja, gewiss.« Sophie sah Chrissi nachdenklich an. »Reist du deshalb so viel?«
»Was meinst du?«
»Wegen deiner Großmutter. Weil sie sich fürs Reisen entschieden hat, anstatt zu meinem Großvater zurückzukehren.«
Chrissi fuhr sich lachend durch die Haare. Es klang verlegen. »Schon möglich. Ich weiß nicht. Uns beide gibt es, weil unsere Großeltern sich gegen ihre große Liebe entschieden haben.« Sie hob die Schultern. »So schlecht war das offenbar nicht, oder?«
»Weil es uns gibt?«
»Na klar.«
»Vielleicht wären wir sonst Schwestern.«
»Und ein wenig anders.« Chrissi lehnte sich an die Freundin. »Ach, Sophie. Manchmal ist das Leben sehr komplex.«
»Auch wenn das jetzt ein bisschen verrückt klingt, ich glaube, die Dinge passieren schon mit einer gewissen Richtigkeit. Wenn ich zurückblicke, ist vieles schlecht gelaufen, aber es hatte doch gute Konsequenzen.« Sophie legte den Arm um Chrissi.
»Zum Beispiel sind wir beide hier und wieder vereint«, sagte Chrissi. »Und wir haben Katrin als Freundin. Und du hast Marlene.«
Sophie nickte. »Ich habe Marlene.«
»Und wir können uns immer noch verlieben. Ich in Olaf und du in Anton.«
»Pah, da hätte ich gern drauf verzichtet«, brummte Sophie.
Chrissi richtete sich auf und drehte Sophie so, dass sie sie ansehen musste. »Sag das nicht, Süße. Es ist wichtig, dass man dieses Gefühl nicht verliert. Katrin sucht danach, jeden Tag und mit jeder Faser ihres Körpers. Und du hast es auch vermisst, das weiß ich. Jetzt war es wieder da, auch wenn es sich nicht erfüllt hat, du kannst es noch fühlen.« Sie umarmte Sophie so plötzlich und heftig, dass Sophie einen Moment brauchte, bis auch sie die Arme um die Freundin schloss.
Als sie die Umarmung lösten und wieder auf den Rhein hinaussahen, fühlte Sophie sich eigenartig beschwingt. Sie wusste nicht, ob es die verspätete Wirkung des Weines oder die Erleichterung darüber war, endlich die Geschichte ihres Großvaters und die Verbindung zu Chrissi aufgeklärt zu haben.
»Aber wenn doch mein Großvater schon am eigenen Leib erlebt hat, wie es ist, wenn man in eine Rolle gedrängt wird, weshalb hat er dann dasselbe mit meinem Vater gemacht?«
Chrissi lächelte. »Vielleicht genau aus diesem Grund. Weil er mit der Zeit erfahren hat, dass Dinge sich gut entwickeln können, auch wenn sie ungünstig starten. Vielleicht weil er seinen Frieden damit gemacht hat.«
Am nächsten Tag besuchte Sophie den Großvater und fragte, ob sie im Büro ihres Vaters ein wenig stöbern dürfe. Sie hatte bislang noch nicht die Kraft gefunden, das Zimmer zu betreten, geschweige denn Schränke zu öffnen und Notizbücher aufzuklappen.
»Es ist das Büro deines Vaters. Du kannst jederzeit dort hinein«, sagte der Großvater freundlich.
Sophie zögerte, dann berührte sie ihn sanft an der Hand. »Danke, Großvater.«
Als sie gerade in dem Zimmer verschwinden wollte, hörte sie ihn noch sagen: »Die Käufer waren nett. Ich denke, wir sollten das machen.«
»Okay.« Sophie schloss schnell die Tür hinter sich. Räume hatten ihren eigenen Duft, und hier roch noch alles nach ihren Eltern. Sie konnte ihren Vater am Schreibtisch sitzen sehen. Alles wirkte unberührt. Auch die Leseecke war unverändert. Ein Rattansofa mit einem hellgelben Polster und einem großen Kelimkissen stand dort, daneben ein kleiner Beistelltisch und eine Stehlampe. Auf dem Tisch lag noch das Buch ihrer Mutter, die gern bei ihrem Mann gesessen und gelesen hatte, um bei ihm zu sein. Sophie sah die Ecke des Lesezeichens aus dem Buch ragen, ein Lesezeichen, das sie als Kind ihrer Mutter gebastelt hatte. Es war längst verblasst und an mehreren Stellen geknickt, das wusste sie, aber es hatte all die Jahrzehnte die Mutter begleitet. Sophie wagte nicht, das Buch anzusehen, das ihre Mutter zuletzt gelesen hatte. Sie wollte dieses Bild nicht zerstören. Sie sah die Mutter mit ihrer Lesebrille auf der Nase und die Beine hochgelegt.
Sophie, was machst du denn hier? Das ist aber eine schöne Überraschung. Komm, setz dich zu mir …
Sie hatte immer offenherzig und einladend gewirkt, nein, unglücklich sah sie nie aus. Obwohl sie so gern gemalt hätte. Die weiße Wolldecke, mit der sich die Mutter gern die Beine zugedeckt hatte, lag auf dem Boden. Leben, einfach zurückgelassen, nicht wissend, dass man nie wieder zurückkehren, dort sitzen und das Buch fertig lesen würde.
Sophie musste sich auf dem Sideboard abstützen. Sie lauschte auf die Schritte vor der Tür, doch es war nichts zu hören. Sie wartete. Die Schritte des Großvaters konnte sie nicht überhört haben. War er noch da? Stand er auf der anderen Seite der Tür oder lehnte gar daran und suchte Halt wie sie selbst? Wieder lauschte sie.
»Sophie?«
Er war tatsächlich noch da. Sacht klopfte er an.
»Alles in Ordnung bei dir?«
Seine Stimme klang für einen Moment wie die des Vaters. Vater und Sohn. Ihr Großvater, ihr Vater. Sophie fühlte sich mit einem Mal klein und verletzlich wie ein Kind. Sie wollte rüber zu dem Sofa rennen und sich in die Arme ihrer Mutter werfen, sie wollte zum Schreibtisch ihres Vaters laufen und einfach losweinen. Aber es blieb nur der Großvater.
»Sophie?«, fragte er wieder.
Langsam drehte sie sich um und öffnete die Tür. Da stand er vor ihr, leicht gebeugt, die Stirn in tiefen Falten, die Augen müde. Sein Mund war leicht schief, bemühte sich aber um ein Lächeln. Hilflos hob er die Schultern. »Es tut mir so leid«, flüsterte er.
Sie stand da und wusste nicht, wohin mit sich und ihren Armen. Der Großvater wirkte groß, obwohl er so eingefallen vor ihr stand.
Er schniefte. »Es tut mir so leid«, wiederholte er und breitete die Arme aus, und Sophie fiel in diese Umarmung, als habe alles in ihr genau darauf gewartet. Sie weinten und hielten sich aneinander fest. Als sie sich beide beruhigt hatten, holte der Großvater die Fotoalben aus dem Regal, und sie setzten sich auf das hellgelbe Sofa. Gemeinsam blätterten sie durch fast hundert Jahre Familiengeschichte der Sonnbachs. Sie sprachen nicht viel, aber sie lachten zusammen, und hin und wieder fiel einem von ihnen zu einem Foto eine Anekdote ein.
Schusselchen Sophie kopfüber in einem Goldfischteich.
Die Eltern auf ihrer Vespa, der Vater glücklich, die Mutter eher ängstlich.
Die Großeltern auf dem Fahrrad.
Gisela mit einem großen Verband am Arm nach einem Fahrradunfall.
Barbara und Hans inmitten der Weinberge.
Ein Familienfoto mit Snoopy.
Sophie und Sebastian beim Ostereiersuchen im Garten.
Sebastian als Pirat, Sophie als Rotkäppchen, der Vater als Wolf.
Der siebzigste Geburtstag des Großvaters auf der Reichenau.
Stationen eines erfüllten Lebens.
»Nimm die Alben mit, wenn du möchtest.« Der Großvater legte sich den rechten Zeigefinger an die Stirn. »Ich hab alles hier drinnen.« Er nickte Sophie zu. »Daher ist es auch nicht wichtig, die Tradition weiterzuführen, Sophie. Die Weinstube Sonnbach war lange genug Teil unseres Lebens.«
Sophie taumelte durch Konstanz, als hätte sie sich verlaufen. Alles kam ihr neu und fremd oder größer und verändert vor. Zweimal bog sie falsch ab, und dann, Marlene auf dem Fahrradsitz, sie selbst das Rad schiebend, musste sie an einer Kreuzung überlegen, wohin es nach Hause ging.
»Was ist denn los, Mama? Wurden die Straßen durcheinandergewürfelt?«
»Nicht frech werden, Kind.«
»Ich bin nicht dein Kind, ich bin dein Fusselwüffchen.«
»Marlene, wir haben doch geklärt, dass es Fusselwüffchen nur zu Hause gibt.«
»Also, Mama, wir sind hier allein unterwegs, nur du und ich, das ist doch wie zu Hause, oder?«
Sophie seufzte. Man konnte nicht mit Kindern diskutieren, das dauerte immer viel zu lang. »Stimmt.«
»Fusselwüffchen, Fusselwüffchen-Mama und Fusselwüffchen-Fahrrad.«
»Puh, ich erfinde gleich eine Geschichte, in der alle Fusselwüffchen aufgegessen werden – mit schön viel Eis und Sahne.«
Zunächst verfinsterte sich Marlenes Blick, dann aber hellte er sich auf. »Wir nehmen nur das Eis, und ich verspreche, dass die Fussels sich jetzt schlafen legen, ist das ein Vorschläger?«
»Vorschlag immer noch, aber na gut.«
»Oh«, sagte Marlene. »Wir müssen schon zur Arbeit?«
Sophie sah überrascht auf. Sie war, ohne es zu wollen, zur Weinstube gelaufen.