Sie rannte, als ginge es um ihr Leben, dabei ging es nur um einen hässlichen, zotteligen Hund, der ihr immer über die Hände leckte und sie so ansah, dass sie …
Es ist nur ein Hund, sagte sich Sophie.
Ein Hund bellt viel, ist übermütig und riecht streng, wenn er nass ist.
Sie rannte noch schneller. Das Wasser brandete ans Ufer und schlug gefährlich hoch. »Zottel!«, rief sie. Ihre Stimme klang bereits heiser. »Zottel, bleib stehen! Du dummer Hund!«
Tränen liefen ihr übers Gesicht. Es schmeckte salzig. Nicht zum ersten Mal an diesem Nachmittag donnerte es. Bald würde es regnen, das war sicher.
Bitte, Zottel, bleib stehen, süßer, lieber Zottel, du magst doch kein Gewitter!
Der Sturm schmeckte schon nach Regen. Sophie stolperte über eine Wurzel, sah, dass sie bereits das Hörnle erreicht hatte, und rannte unbeirrt weiter.
»Sophie!«, klang es hinter ihr.
Über ihr grollte der Himmel. Wütend klang es, und Sophie spürte, dass dieses zornige Donnern sie mitnahm wie eine Einladung, als wäre das Gewitter auch in ihr und nicht nur irgendwo über dem Bodensee, wo es sich so gern sammelte in den heißen Tagen, um dann mit geballter Kraft an Land zu jagen, Wellen und hilflose Vögel vor sich hertreibend.
Zottel, bitte, bitte, bitte, bitte halte an.
Dicke graue Wolken bauten sich vor Sophie auf, atmeten den See ein und aus, spielten mit den Segelbooten, die zu lange auf dem See geblieben waren. Wie kleine Nussschalen hüpften sie nun auf den Wellen hin und her.
»Zottel!«, rief sie erneut, allmählich wütend, dass er sie einfach ignorierte.
»Sophie, warte …« Seine Stimme verschwand im Tosen des Windes. Gut so, sie wollte nicht hören, was Anton ihr zu sagen hatte. Sie wollte überhaupt nichts mehr hören von ihm. Weshalb war Zottel ausgerechnet hier davongerannt? Dieser blöde Köter!
»Sophie, zum Kuckuck, halt endlich an!«
Seine Stimme klang jetzt sehr energisch. Was bildete der sich ein? Sie hatte einfach an der Uferpromenade spazieren gehen wollen und rannte gerade um ihr Leben, und der schnauzte sie auch noch an?
»Zooooottel!«, keuchte sie und musste Atem schöpfen. Sie sprintete seit Minuten dem Hund hinterher, nachdem dieser unerwartet an ihr vorbeigerannt war und einer Katze hinterherjagte, diese aber verlor. Ein gewaltiger Donner hatte ihn dann derart aufgeschreckt, dass er jaulend weitergerannt war. Kurzerhand hatte Sophie, Anton ein Stück voraus, die Verfolgung aufgenommen.
Endlich konnte sie Zottel sehen. Desorientiert sah er sich um, bellte und bog schließlich vom Seeweg ab. Er hört uns nicht, der Wind, der Donner, er hört uns nicht, schoss es Sophie durch den Kopf. »Er läuft Richtung Straße«, sagte Sophie und dann, lauter, zu Anton: »Er läuft zur Straße!« Sie rannte weiter. »Snoopy, wenn du jetzt nicht …«
Ihre Drohung verlor sich im Sturm, der kraftvoll vom See über das Ufer blies. Anton hatte sie beinahe eingeholt und rief ebenfalls gegen den Sturm an. Sie hörte seine Verzweiflung, und sie spürte den Regen auf ihrer Haut und in ihrem Gesicht. Plötzlich hörten sie ein Quietschen, dann ein Jaulen, dann war es still.
Abrupt blieben sie stehen. Anton war jetzt auf gleicher Höhe mit ihr. »Snoopy«, presste Sophie mühsam hervor. Sie spürte einen unüberwindbaren Kloß in ihrem Hals, ihr Herz krampfte sich zusammen. »Zottel!«, schrie sie panisch und rannte zur Eichhornstraße hoch. Anton lief jetzt neben ihr, rief ebenfalls nach dem grauen Hund, und auch seine Stimme verriet Panik.
Sie wusste, dass hinter der nächsten Biegung eine Straße war, die Autos sollten dort nicht allzu schnell fahren, und doch hatte sie deutlich das Quietschen von Reifen und das Jaulen eines Hundes gehört. Vor ihrem inneren Auge sah sie den grauen Hund auf der Straße liegen, sah einen Blinker, einen verzweifelten Autofahrer, der sich die Hände vors Gesicht hielt. Bitte nicht, dachte sie, bitte nicht. Zottel, es tut mir so leid.
Sie erreichten die Straße gleichzeitig. Kein Auto war zu sehen. Er ist einfach weitergefahren und hat Zottel liegen gelassen …
»Wo ist er?« Anton sah sich um, rief wieder den Namen, und auch Sophie suchte hektisch die Straßenränder ab.
Ein heftiger Platzregen ergoss sich auf sie. Da standen sie mitten auf der Landstraße, rings um sie herum tosender Regen, die Kleidung längst durchnässt.
»Wenn das Auto ihn erwischt hätte, dann läge er doch irgendwo, oder?«, stammelte sie.
»Gewiss, Sophie.« Er griff nach ihrem Arm.
»Lass mich.« Sophie zog ihren Arm aus seiner Umklammerung. »Ich such jetzt diesen Hund, mach du, was du willst.« Sie lief zur anderen Straßenseite. »Zottel, komm, wir schimpfen auch nicht.« Brombeerranken schnitten ihr in Arme und Beine. Brennnesseln verbrannten ihre Haut. Keine Spur von Zottel. Sie kehrte auf die Straße zurück, wo Anton stand, die Arme hilflos neben seinem Körper.
So schnell der Platzregen gekommen war, so schnell hörte er auch wieder auf. Die Sonne kam zum Vorschein und ließ den Asphalt dampfen. Plötzlich hörten sie ein energisches Bellen. Und da kam er aus der Brombeerhecke hervorgekrochen, schüttelte sich einmal und stand dann vor ihnen, den Kopf leicht schräg gelegt, ein Ohr in die Höhe gereckt und mit diesem kecken Grinsen um die Schnauze. Ein Bellen, das klang, als würde er sagen: Und? Hat doch Spaß gemacht, oder?
»Zottel!«, rief Sophie erleichtert. Sie kniete sich hin und untersuchte den Hund auf Verletzungen. Er missdeutete es als Streicheln und brummelte selig. Schließlich umarmte Sophie den zotteligen Hund, der nach Regen roch und ein paar Blätter und Zweige im Fell hatte, aber sonst unverletzt war. »Oh, Zottel«, sagte sie und küsste ihn auf die Nase. Sie, die eigentlich überhaupt keine Hunde mochte, vergrub ihr Gesicht in seinem Fell und fand, dass es ganz wunderbar duftete. Wenn ihr das vor neun Monaten jemand erzählt hätte, dann hätte sie denjenigen für verrückt erklärt. Überhaupt, wenn ihr das alles jemand prophezeit hätte …
Sie hielt Zottel am Halsband, nahm Anton die Leine ab und machte Zottel fest. Anschließend küsste sie den Hund noch einmal und stand dann entschlossen auf. Sie reichte Anton die Hundeleine. »Hier«, sagte sie und bemühte sich, ihre zitternde Stimme zu verbergen.
Sie standen mitten auf der Straße, um sie herum dampfte und zwitscherte es, und zwischen ihnen saß Zottel. Über ihnen klopfte ein Specht beharrlich gegen einen Baumstamm. Die Natur atmete auf, erfüllt von neuem Leben, dankbar für die Abkühlung.
Das Wasser lief Sophie in Bächen über das Gesicht. Anton hob die Hand und wischte ihr über die Wangen, wo sich der Regen mit Tränen gemischt hatte. »Danke«, flüsterte er und kam näher an ihr Gesicht.
Sie spürte seinen Atem auf ihrer Haut und hatte nicht die Kraft, sich zu wehren. Sein Mund berührte ihre Stirn, setzte ab und …
Sophie machte einen entschlossenen Schritt von Anton weg. »Pass nächstes Mal besser auf ihn auf.«
Anton wischte sich den Regen aus dem Gesicht. »Wer ist denn eigentlich Snoopy?«
»Bitte was?«
»Du hast nach Snoopy gerufen. Zwei- oder dreimal hast du Snoopy gerufen.«
Sophie stand ganz steif da. Sie sah zu Zottel, der erwartungsvoll hechelte. Snoopy. Hatte sie wirklich nach Snoopy gerufen? Nach all den Jahren?
»Ist er der Grund, dass du keine Hunde magst?«
Ausgerechnet, dachte Sophie wütend, ausgerechnet Anton wollte jetzt mit ihr über Snoopy reden?
Anton griff nach ihrem Arm. »Sophie, wir haben alle unsere Gründe, und die Dinge sind nicht immer nur schwarz oder weiß. Wirklich, ich wollte das alles nicht.«