Der Tag begann mit einem Déjà-vu: Sophie wollte schnell noch den Müll im Rausgehen in die Tonne werfen und ließ alles los, was sie in der Hand hatte.
»Du hast es schon wieder getan!«, rief Marlene, den Fahrradhelm bereits auf dem Kopf, sodass sie mit ihrem Zeigefinger nicht die Stirn traf, sondern auf dem Helm landete. Ein dumpfes Klopfen drang zu Sophie. Ihr Schlüsselbund samt Auto-, Wohnungs- und Fahrradschlüssel war im Biomüll gelandet.
»Ich fass es nicht«, murmelte Sophie. »Ich fass es einfach nicht, dass ich –«
»Schussel«, witzelte ihre Tochter.
»Klappe, Kind«, schimpfte Sophie, musste aber lachen. »Hast ja recht.«
Sophie kippte die Tonne, bis sie mit dem Oberkörper hineinkriechen konnte, ohne dabei die ekligen Innenwände zu berühren. Drinnen stank es nach saurem Essen, aber sie erreichte mit den Fingerspitzen ihren Einhornanhänger. Sie hielt das gerettete Plüschtierchen mit den baumelnden Schlüsseln triumphierend in die Luft.
»Jetzt muss das arme Pferdchen schon wieder in die Schleuder.« Marlene machte ein trauriges Gesicht.
»Waschmaschine.«
»Eben. Das kotzt wieder. Bestimmt.«
»Es hat auch beim letzten Mal nicht … was red ich.«
Im Briefkasten lag noch die Post vom Vortag. Sophie schielte darauf.
»Ach, was soll’s, jetzt ist es auch schon egal.« Sie öffnete den Briefkasten und angelte prompt Post von ihrem Anwalt wegen des Unterhalts heraus. Markus hatte sich spontan entschlossen, ihr nicht mehr den vollen Betrag zu zahlen, sondern fortan nur noch die Hälfte. Einfach so, ohne rechtliche Grundlage. Die Kommunikation über einen Anwalt war Sophie zwar zuwider, indessen sah sie nicht ein, weshalb er mit solch einer Nummer durchkommen sollte. Sie seufzte. Der Tag begann nicht gut, gar nicht gut.
»Was ist los, Mama? Sollten wir nicht mal?«
Sophie stand noch immer am Briefkasten, also stellte Marlene ihr Fahrrad ab und kam herübergehopst.
»Wird schon wieder«, sagte die Sechsjährige altersweise und umarmte ihre Mutter. Als sich ihre Blicke trafen, fragte sie: »Weißt du, was wir beide gleich gut können?«
»Was, mein Schatz?«
»Uns lieb haben!«
Sophie nutzte den Vormittag und radelte zum Stadtfriedhof. Sie schlenderte durch die Alleen, betrachtete die schönen Bäume, die sich einander zuneigten und Geborgenheit wie Ruhe boten. Es gab wunderschöne Grabsteine, anmutige Steinskulpturen, liebevoll gepflegte Gräber, die hoffen ließen, dass diese Trauernden in der Pflege Halt fanden. Als sie vor dem Grab ihrer Eltern stand, entdeckte sie in einem Winkel des Holzkreuzes ihres Vaters ein Spinnennetz. Die Sonne leuchtete hinein, es glitzerte. Als sie genauer hinsah, konnte sie erkennen, dass das Netz sich hinüberspannte zum Kreuz auf dem Grab ihrer Mutter. Sonnenstrahlen tanzten auf den Tautropfen der Nacht, das Netz, so filigran es gesponnen war, so stark wirkte es zwischen den beiden Kreuzen.
Den Kompass hatte er auf seinem Schreibtisch gelassen, er wusste ja, dass er zurückkehren würde …
Es ist alles gut, wie es ist.
Was wirst du tun?
Die Sätze des Großvaters jagten durch ihre Gedanken. Zurückkehren, Heimat finden, innere und äußere. Entscheidungen treffen, Verantwortung übernehmen. Wissen, was glücklich macht. Familie und Verbundenheit.
Würde Chrissi nach Schweden ziehen, jetzt, da sie endlich in Konstanz ihre Heimat gefunden hatte? Oder würde sie lieber weiter um die Welt reisen als eine Abenteurerin wie ihre Großmutter? War sie, Sophie, wie ihr Großvater? Waren ihre Eltern glücklich gewesen?
»Bitte, Papa, gib mir doch ein Zeichen. Mama, was soll ich tun?« Sophie kniete sich hin und weinte.
»Kindchen, was ist denn mit Ihnen?«
Sophie fuhr herum und wischte sich über das Gesicht. Vor ihr stand eine alte Frau. Sie trug einen langen dunklen Rock und eine schwarze Jacke darüber. Weißes Haar lugte unter einem bunten Kopftuch hervor. Ihr faltiges Gesicht deutete auf ein hohes Alter, die Augen indessen wirkten ausgesprochen munter.
»Ich … ich war ganz vertieft«, flüsterte Sophie und stand auf.
»Du musst das doch nicht erklären«, sagte die Frau und sah zu den Namen auf den Kreuzen. »Das waren deine Eltern?«
Sophie nickte. »Ein Unfall.« Ihre Stimme kratzte.
»Ach Gott, sie waren zu jung. Ich bin schon dreiundneunzig und lebe immer noch.« Sie grinste verlegen. »Ist nicht immer fair, ich weiß, Sophie.«
Sophie stutzte. »Sie kennen mich?«
Die Frau lachte. »Aber sicher. Du mich auch, obwohl – das wohl eher nicht.«
Sophie kramte in ihrem Gedächtnis und hob entschuldigend die Hände. »Ich kann mich nicht erinnern.«
»Ich hab euch auf die Welt gebracht, dich und deinen Bruder. Ich war Hebamme.« Sie zwinkerte. Um ihre Mundwinkel legten sich noch ein paar Falten mehr. »Ich hab so viele Babys auf die Welt gebracht, aber man vergisst das einfach nicht. Es ist die schönste Sache der Welt. Mehr Neuanfang, mehr Zuversicht und Glaube in einem Moment geht nicht. Es ist«, sie streckte den Arm aus und streichelte Sophie über die Wange, »es ist das Leben. Und dieser Zauber des Beginns sollte dem ganzen Leben innewohnen. Etwas, das so wunderbar anfängt, hat es verdient, gefeiert und genossen zu werden.«
Sophie wusste nicht, weshalb, aber in ihr brachen alle Dämme, alle Mauern und alles, was sie sich immer in den Weg gestellt hatte. Sie fiel der alten Frau in die Arme und weinte, dieses Mal nicht gebremst und leise, sondern laut und schluchzend und befreiend. Sie spürte die streichelnde Hand auf ihrem Rücken, hörte die beruhigenden Worte an ihrem Ohr, fühlte sich plötzlich so gut aufgehoben dort mitten auf dem Friedhof. Sie hörte fremde Stimmen in ihrer Nähe, doch sie verschwanden. Sie hörte Schritte und das Fahrzeug des Friedhofsgärtners, doch auch die entfernten sich. Sophie wollte die alte Frau nicht loslassen, sie genoss die Nähe so sehr. Als sie wieder ruhigen Atem fand, löste sie sich langsam aus der Umarmung.
Wieder streichelte die Frau ihre Wange. »Mein liebes Kindchen, du bist so jung. Los, genieße dein Leben und vergiss nicht, dass die Liebe deiner Eltern immer da ist. Die verschwindet nicht mit dem Tod. Sie ist hier.«
Sophie lächelte die Frau dankbar an, dann ging ein Ruck durch sie. »Wie spät ist es?« Hektisch wühlte sie in ihrer Handtasche nach ihrem Handy. »Himmel, kurz vor elf. Ich muss weg.« Sie rannte los, drehte sich im Laufen noch einmal um und rief: »Danke!«
Als Sophie die Fahrradständer erreichte, begann es zu regnen, doch sie merkte es kaum. Sie brach einige Geschwindigkeitsrekorde, zumindest ihre eigenen, fuhr über eine rote Ampel, entschuldigte sich und radelte hastig weiter. Sie hörte die Turmuhr zum ersten Viertel nach elf Uhr schlagen – kam sie schon zu spät? Der Regen lief ihr in Bächen über den Kopf und in den Kragen.
Mal wieder war sie völlig durchnässt, als sie in der Niederburg ankam. Sie ließ ihr Fahrrad vor der Weinstube einfach fallen und trat ein. Ein freudiges Bellen war zu hören, und Sekunden später stürmte Zottel auf sie zu. Sophie ignorierte ihn und lief auf den Tisch zu, wo ihr Großvater mit Janette und Anton saß. Alle drei sahen überrascht zu ihr. Sie hinterließ eine Pfütze auf dem Boden. Janette strahlte, und für einen Moment glaubte Sophie, dass sie zu spät gekommen sei, doch dann sah sie den Blick ihres Großvaters, der zwar unter den angestrengten Falten auf der Stirn beinahe verloren ging, dann aber doch so etwas wie Neugier verriet. Und schließlich der Blick von Anton, in dem Hoffnung lag.
»Sophie«, flötete Janette, »du bist doch gekommen.« Sie stand auf und kam in ihrer überschwänglichen Art auf Sophie zu. »Schön, dass du …« Sie wollte sie umarmen, bremste dann aber angesichts der Regenbäche, die Sophie mitgebracht hatte, und legte ihr stattdessen nur die Hände seitlich auf die Arme.
»Ich hol mir nur ein Handtuch«, sagte Sophie, verschwand in der Küche und kam dann an den Tisch. »Ich bin nass geworden. Es regnet«, erklärte sie überflüssigerweise und blinzelte.
»Das haben wir uns schon gedacht«, sagte Anton verschmitzt lächelnd. Seine dunklen Augen bohrten sich durch Sophie hindurch. Schnell wischte sie sich mit dem Handtuch über das Gesicht.
Der Großvater räusperte sich. »Nun, das … Also, das kommt jetzt überraschend, Sophie, ich wusste nicht, dass du dabei sein willst. Setz dich doch.«
Sophie blieb stehen und holte tief Luft, dann sah sie Janette freundlich an. »Liebe Janette, lieber Anton. Ich weiß, dass ihr euch sehr auf den heutigen Tag gefreut habt, und es tut mir leid, dass ich jetzt hier so reinplatze. Lieber Großvater, es hat ein wenig gedauert, aber ich weiß jetzt, dass ich hierhergehöre.« Sie ließ ihren Blick einmal durch den Raum wandern und unterstrich ihre Bewegung mit der Hand. »Das alles hier ist mein Zuhause, hier bin ich groß geworden, hier leben meine Eltern weiter.« Sie sah flüchtig zu Anton und dann länger zu Janette. »Ich will nicht verkaufen.«
Janettes Lächeln brach in sich zusammen. Geräuschvoll ließ sie sich in ihren Stuhl zurückfallen. Von Anton war ein Ausatmen zu hören, aus dem Augenwinkel konnte Sophie erkennen, dass er sich freute. Zottel bellte. Er spürte die Energie, die sich da gerade entladen hatte.
»Das ist, das ist …«, stammelte Janette. »Das kommt überraschend, wir haben auch schon …« Sie sah auf den Tisch und die Unterlagen, die dort lagen.
Sophie zuckte zusammen. Der Vertrag. Sie haben den Vertrag bereits unterzeichnet. Sie war zu spät.
»Das ist doch völlig in Ordnung«, sagte Anton schnell, beugte sich vor und griff nach dem Vertrag. Janette streckte die Hand aus und wollte etwas sagen, doch Anton zerriss den Vertrag, noch bevor Janette zu Wort kam. Auf das Geräusch des zerrissenen Papiers folgte nur Schweigen. Schließlich räusperte sich der Großvater.
»Gut«, sagte er schlicht. »Dann hätten wir das.« Er stand auf, als wäre es das Normalste der Welt, und lief zur Theke. Mit einem Birnenschnaps und vier kleinen Gläsern kam er zurück an den Tisch. »Wer braucht auch einen?«
Sophie ließ sich auf ihren Stuhl sinken und hob die Hand. Zottel saß neben ihr, also fing sie an, ihn zu streicheln. Energisch schob Janette ihren Stuhl zurück. Sophie rechnete mit einem Wutanfall, doch Janette klang eher weinerlich als wütend. »Ich muss hier raus, Anton. Bitte, ich will gehen. Sofort.«
Sophie hatte ein schlechtes Gewissen.
An der Tür rief Janette noch einmal: »Anton? Kommst du?«
»Gleich, Janette, gleich.«
»Mach, was du willst. Ich warte draußen.« Die Tür fiel ins Schloss.
Zottel fiepte. Unruhig lief er neben dem Tisch auf und ab. Anton stand auf und rief ihn zu sich, um ihn an die Leine zu nehmen.
»Tut mir leid, Anton«, flüsterte Sophie.
Ihr Großvater reichte ihr den Schnaps. »Auch einen?«, fragte er und hielt Anton ein Glas hin. Anton nahm im Stehen das Glas entgegen und hielt es prostend hoch. »Auf dein Wohl, Sophie. Es muss dir nicht leidtun. Ich freu mich für dich.«
Sophie wischte sich eine nasse Strähne aus dem Gesicht. »Ich meine nicht die Weinstube.«
Anton stand da mit dem leeren Schnapsglas und sah sie an. Es dauerte eine Weile, doch dann schien er zu begreifen.
»Ich kann nicht mit dir befreundet sein. Ich würde mir einfach immer Hoffnungen machen, und das will ich nicht«, sagte Sophie und leerte ihr Glas in einem Zug. Die Birne hinterließ eine pelzige Spur auf ihrer Zunge und landete in ihrem Magen, von wo aus sich umgehend eine heiße Welle in ihrem Körper ausbreitete. Als die Tür der Weinstube das nächste Mal ins Schloss fiel, wusste sie, dass auch Anton und Zottel fort waren.
Der Großvater trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Als sie sich ihm zuwandte, konnte sie sein breites Grinsen sehen. Triumph und Erleichterung lagen dort. »Also, ich muss schon sagen, Sophie, das war in allerletzter Sekunde. Was ein Glück, dass dieser Anton so beherzt …« Er hielt inne und musterte Sophie. »Ich Idiot. Das ist, ich meine, das war der Mann, der dich, also, in den du … Herrje, ich hab das die ganze Zeit nicht verstanden.«
Sie schwiegen, der Großvater schenkte sich noch einmal nach, doch Sophie hielt ihre Hand über ihr Glas. Noch einen Schnaps, und sie würde Marlene nicht mehr abholen können.
»Was hat dich bewogen, es dir anders zu überlegen?«, fragte er schließlich.
Sophie lächelte ihren Großvater an. »Ich bin glücklich hier. Und man muss die Dinge festhalten, die einen glücklich machen.«