Sophie stand vor der Weinstube und sah zum Himmel. Ein milder Novembertag, für Konstanz nichts Unübliches. Auch im November konnte man am Bodensee durchaus noch an einem geschützten Platz in der Sonne sitzen. Sophie zog gleichwohl die Strickjacke etwas fester und sah die Straße entlang. Ein altes Pärchen lief dort untergehakt. Schön sah das aus, jeder stützte den anderen, und gemeinsam gingen sie durchs Leben.
Lächelnd prüfte Sophie noch einmal den schwarzen Aufsteller, der das Essen für den heutigen Abend verkündete. In schöner, verschnörkelter Schrift war dort mit Kreide geschrieben:
Süßkartoffel-Kichererbsen-Suppe
Asiatische Tofu-Pfanne mit Mango-Chutney
Zucchini-Kürbis-Lasagne mit frittiertem Rucola
Quiche mit Avocado-Carpaccio
Weineis mit Himbeersoße
Und wie immer hatte Marlene etwas dazu gemalt, dieses Mal einen Blumenstrauß.
Sophie musste zugeben, dass sie stolz war. Gemeinsam mit dem Koch hatte sie den Oktober über geplant und eine neue Speisekarte ausgearbeitet. Immer wieder hatte sie ihre Familie und Freundinnen eingeladen und Probe gekocht, besonders aufwendig an ihrem Geburtstag, und schließlich war sie zufrieden gewesen. Sie würde selbst vorkochen und nur noch die Weinberatung im Lokal übernehmen.
Sie hatte auch einige Veranstaltungen für die Winterwochen organisiert, einmal kämen auch die Weintherapeuten. Außerdem war ihre Weinstube fester Bestandteil der romantischen Stadtführungen von Katrin, das hatte sich mittlerweile etabliert.
Anfang November hatten sie zudem renoviert. Die Theke wurde erhalten, das Mobiliar zum Teil erneuert, gerade so, dass alles insgesamt heller wirkte, die schönen alten Stücke aber noch ihren Platz hatten. Die Fotowand blieb das Herzstück und wurde erweitert durch viele weitere Familienfotos aus den Alben, die Sophie in alte Rahmen gepackt und im Lokal verteilt hatte. Daneben neue, einmal Marlene in der Pose des Großvaters vor dem Lokal, ein Foto von dem Großvater mit Barbara, Hans und Sophie, eines von den Freundinnen, eines von ihnen allen zusammen. Hinzu kamen frische Blumen und Dekostücke, neue und alte. Sophie hatte große Freude am Dekorieren gehabt und sich vorgestellt, ihre Eltern wären dabei. Der Großvater kam immer mal wieder vorbei, setzte sich ins Lokal, beobachtete Sophie und die Handwerker und nickte wohlwollend.
»Er ist ganz schön stolz auf dich«, hatte Barbara einmal gesagt.
»Das behält er aber schön für sich«, hatte Sophie gelacht.
»Du kennst ihn doch. Er hat bis zu jenem Brunch mit deinem Bruder nie so viel am Stück gesprochen und seitdem auch nicht mehr. Aber ich weiß es: Er ist sehr stolz.« Barbara hatte den Arm um Sophie gelegt und sie an sich gedrückt. »Das wird deine Weinstube, Sophie Sonnbach!«
Jetzt drehte Sophie den Aufsteller noch ein wenig weiter zur Straßenseite hin.
»Klingt gut«, sagte da eine wohlbekannte Stimme hinter ihr.
Sophie drehte sich um. Da stand er. Anton. Zwei Monate hatte sie ihn inzwischen nicht mehr gesehen.
»Bei Sophie«, las er die Schrift über dem Eingang. »Schöner Name für die Weinstube.«
Sophie lachte. Sie hatte so vieles gelernt für sich, sie musste nicht mehr wütend auf Anton sein. »Ja, es ist, glaub ich, ganz gut geworden.«
Anton nickte. »Das sehe ich.« Er musterte sie. »Das sehe ich«, wiederholte er etwas leiser.
»Na dann«, sagte Sophie und hob die Hand winkend zum Gruß.
»Bei Sophie«, sagte Anton, »die Weinstube merk ich mir.« Und dann lief er die Gasse entlang und bog um die nächste Ecke.
Sophie blickte ihm nach, prüfte ihr Herz, ob es auch ruhig weiterschlagen konnte, und war erleichtert. Sie würde in der Lage sein, Anton in der Stadt zu begegnen, ohne Wut, ohne Verbitterung, ohne Schmerz. Sie konnten einfach beide hier in Konstanz leben und glücklich werden – er mit Janette und sie mit ihrer kleinen Tochter und der neuen Weinstube. Es war möglich. Sie hatte sich hier ein eigenes Leben aufgebaut, sie hütete die Familientradition, weil sie das wollte, und sie hatte eine tolle Familie und tolle Freunde. Sie hatte einen ganz besonderen Großvater, und irgendwann würde sie vielleicht sogar einen Hund haben, wer wusste das schon.
Sophie ging nach drinnen und stürzte sich in die Vorbereitungen fürs Abendgeschäft.
Eine Woche später lag eine Einladung in ihrem Briefkasten. Von Janette. Da zitterten Sophies Hände dann doch. Janette würde sie doch nicht zu ihrer Hochzeit mit Anton einladen, oder doch? Es gibt nichts, was man mit ein wenig Schminke nicht retten kann. Okay, dachte Sophie, Janette würde sie wohl doch zu ihrer Hochzeit einladen. Sophie legte die Einladung auf die Küchenablage und schlich zwei Tage darum herum. Albern, schimpfte sie sich, doch sie schaffte es nicht, den Brief zu öffnen. Zwischen »Wir können in derselben Stadt leben« und »Ich komme zu deiner Hochzeit« war eben noch ein großer Schritt. Sophie wartete, bis Katrin zu Besuch kam, und zeigte ihr die Einladung.
»Wenn es das ist, was du denkst, dann hat die Frau wirklich Nerven. Und er auch«, sagte Katrin. »Los, mach auf, vielleicht ist es was anderes.«
»Was denn?« Sophie öffnete den Brief, las, dann lachte sie. Sie hielt die Einladung so, dass Katrin sie lesen konnte.
»Janette hat doch ein Restaurant gefunden?«
»Sieht so aus. Sie lädt mich zur Eröffnung ein.«
»Hm, besser als zur Hochzeit«, scherzte Katrin.
»In der Tat. Da gehen wir hin, oder?«
»Wir? Echt jetzt?«
»Klar«, sagte Sophie selbstbewusst.
Katrin nickte. »Du hast dich verändert. Das ist gut.«
»Anton hat so etwas Ähnliches gesagt, neulich«, sagte Sophie, wohl wissend, dass Katrin die beiläufige Information nicht einfach so stehen lassen würde.
»Du hast mit Anton gesprochen?«
»Er kam zufällig bei der Weinstube vorbei. Nur draußen.«
»Und?«
»Alles okay. Ich habe beschlossen, dass die Stadt groß genug für uns beide ist.«
Katrin klatschte einmal in die Hände. »Gut, dann gehen wir also zur Einweihung von Janettes Restaurant. Und wir werden uns schick machen und uns anständig benehmen. Und Marlene werden wir auch mitnehmen.«
»Selbstverständlich.«
Das Restaurant lag zwischen Bodenseeufer und Lorettowald auf einer Anhöhe über dem Hörnle. Es bot eine phantastische Sicht über den Bodensee und ungefähr hundert Gästen Platz und außerdem ein paar Zimmer. Es war ein denkmalgeschütztes Gebäude mit altem Fachwerk, romantisch von Bäumen umrahmt. Eine Scheune war zum Festsaal umgebaut worden, Birnbäume rankten an Spalieren an der Südseite und boten die schönen Farben des Herbstes. Es war erneut ein milder Novembertag, an die fünfzehn Grad mit Sonne. Welch ein Glück für die neuen Restaurantbetreiber. Vor der Scheune und vor dem Haupthaus standen Stehtische, und einige Kellner reichten den ersten Gästen bereits Sektgläser. Eine Bühne war aufgebaut, ein paar Musiker standen dort und stimmten ihre Instrumente. Später würde man in der Scheune sitzen können.
»Nicht schlecht«, kommentierte Katrin die Ansicht. »In der Tat nicht schlecht.« Sie drehte sich in Richtung See. »Und ein grandioser Ausblick.«
»Stimmt«, sagte Sophie. Sie war nun doch aufgeregt, gleich würde ihr Janette entgegenkommen, sie euphorisch begrüßen, wie es nun einmal ihre Art war und wie es sich natürlich für so ein Eröffnungsfest auch gehörte, das konnte Sophie ihr gewiss nicht vorwerfen. Und dann wäre Anton bestimmt an ihrer Seite, würde Sophie anlächeln, Marlene begrüßen, und dann käme sicher auch wieder dieses graue Monster angerannt und würde Sophie anhimmeln, und sie würde schwach …
»Sophie?«
Sophie sah sich um. Sie kannte die Stimme, die tatsächlich wieder eine Spur zu hoch und aufgekratzt über den Platz vor dem Eingang schallte.
»Es geht los«, murmelte Katrin. »Und immer schön freundlich gucken!« Sie hakte sich bei Sophie unter und zog sie zielstrebig Janette entgegen.
In Sophie vibrierte es, ihr wurde heiß und kalt im Wechsel. Fieberhaft suchten ihre Augen den Platz ab, ob sie Zottel oder Anton irgendwo entdecken konnte, doch beide waren nicht zu sehen. War sie erleichtert? Aber das unvermeidbare Treffen war ja nur verschoben.
»Janette«, begrüßte Katrin die Restaurantbesitzerin überschwänglich. »Meine Güte, da hast du ja ein wahres Schmuckstück aufgetan!«
»Oh ja, findet ihr auch? Oh, Sophie, ich freu mich so, dass du kommst. Ich hatte gleich das Gefühl, dass wir uns gut verstehen würden, und dass du jetzt zu meiner Eröffnung kommst, das finde ich wirklich wunderbar.« Sie stand vor Sophie, hatte beide Hände in ihren und sah sie geradezu rührselig an. »Ach, komm her«, sagte sie plötzlich und umarmte Sophie. Die sah ein wenig hilfesuchend zu Katrin.
Marlene stand daneben und kicherte. Schließlich zupfte sie an Janettes Ärmel und sagte: »Du, die Mama sieht ein wenig verzweifelt aus, wenn du mich fragst.«
Katrin lachte laut los. Janette ließ Sophie los, sah zu Marlene, erst verwirrt, dann belustigt. »Oh, du bist die Marlene, nicht wahr? Schön, dass du mitgekommen bist. Wir haben hier auch einen Spielplatz. Magst du mal mitkommen? Dann zeig ich ihn dir. Das ist doch okay, Sophie, oder? Dann könnt ihr schon mal in Ruhe ein Glas Sekt trinken. Ich komme wieder.« Sie lief mit Marlene an der Hand los und quasselte unentwegt auf Sophies Tochter ein, die herzhaft lachte.
Wir konnten keine Kinder bekommen wegen meiner Krankheit, Janette blieb dennoch bei mir …
Sophie wollte sich nicht erinnern, doch plötzlich tat ihr Janette leid.
»Sie ist ja nicht gerade unnett«, sagte Katrin trocken.
»Nö, aber anstrengend.« Vorsichtig sah Sophie sich um. »Wo ist eigentlich Anton, frage ich mich.«
»Wir werden ihn früh genug zu Gesicht kriegen.«
Sie sahen ihn nicht. Weder Anton noch Zottel tauchten auf. Nach der Begrüßungsrede und etlichen Danksagungen von Janette an ihre Eltern, an die Vorbesitzer des Restaurants, an die Leute, die alle bei der Eröffnungsfeier mitgewirkt hatten, ging es unter Musikbegleitung nach drinnen in die festlich dekorierte Scheune. Wo war Anton? Sophie beschlich eine eigenartige Unruhe. Welchen Grund konnte es geben, dass er nicht zu der Einweihungsfeier seiner Verlobten kam? Verdammt, ich will mir keine Sorgen machen, dachte Sophie und kaute auf ihrer Unterlippe.
Es gab noch ein frühes Abendessen für die geladenen Gäste. Sophie und Katrin unterhielten sich mit einem Pärchen, Paul und Ines. Es waren alte Freunde von Janette und Anton aus Düsseldorf. Es war ein nettes Gespräch, irgendwann beobachteten sie alle gleichzeitig die Gastgeberin im Gespräch mit einem anderen Gast.
»Schon verrückt, wie das Leben manchmal so spielt«, sagte Ines, nachdem Sophie erzählt hatte, dass sie vor einem Jahr ihre Eltern verloren hatte und daher in Konstanz gelandet war.
»In der Tat«, bestätigte sie daher.
»Und unsere Freundin landet der Liebe wegen in der Stadt und findet hier dieses Kleinod.« Paul legte einen Arm um seine Frau. »Immerhin haben wir jetzt immer ein schönes Ausflugsziel. Der Bodensee ist eine tolle Region, da kann man schon ins Träumen geraten.«
»Wohl wahr. Ich bin auch froh, dass meine liebe Sophie nun wieder hier ist.« Katrin umarmte ihre Freundin ebenfalls. »Apropos Liebe – wo ist eigentlich der Verursacher?«
»Anton?«
Sophie hielt die Luft an. Die ganze Zeit hatten sie das Thema vermieden, aber offenbar hatte bei Katrin nun doch die Neugier gesiegt.
Paul winkte ab. »Traurige Geschichte, das Ganze.«
»Inwiefern?«, fragte Sophie erschrocken. Ich war im Krankenhaus. Sie hatte seine Stimme im Ohr. Aber Janette würde doch nicht feiern, wenn … Die Angst schnürte ihr die Kehle zu.
»Na, hat Janette das nicht erzählt? Sie haben sich getrennt. Nach allem, was sie mit ihm durchgestanden hat.«