Kapitel 4
Ren
I ch saß im Ledersessel vor dem Kamin, ein Glas Bourbon in der Hand, den Blick auf die Flammen gerichtet. Ein weiterer Abend allein. Eine weitere Nacht, in der ich in diese Flammen starrte, bis ich so verdammt betrunken war, dass ich in mein Zimmer stolperte, bevor ich ohnmächtig wurde.
Ich führte das Glas an meine Lippen und nahm einen langen Schluck, während ich gleichzeitig ein widerhallendes Dröhnen aus den Tiefen des Schlosses hörte. Ich schloss die Augen und fühlte eine tief verwurzelte Trauer, als ich einem weiteren wahnsinnigen Brüllen lauschte, das sich durch den dicken Stein des Herrenhauses schraubte.
Ich öffnete die Lider und trank den Bourbon aus, spannte die Finger fest um das Glas an und wusste, dass ich ihn in Ruhe lassen sollte. Doch ich stand auf und machte mich auf den Weg zu meinem einzigen lebenden Verwandten.
Nachdem ich durch mehrere Türen gegangen war, viele Gänge und Korridore genommen hatte, stieg ich in die Tiefen des Schlosses hinab. Der Geruch von Feuchtigkeit und Erde erfüllte die Luft. Ich blieb an der holz- und schmiedeeisernen Tür stehen, die mich von meinem Bruder trennte.
Luca.
Ein weiteres Brüllen kam hindurch und erschütterte das Fundament. Das Leiden in diesem Geräusch war so heftig, dass ich fast in die Knie ging. Ich legte eine Hand auf das vernarbte und verwitterte Holz, schloss die Augen und wünschte mir, dass mein älterer Bruder Ruhe finden würde, obwohl ich wusste, dass das nicht passieren würde. Nicht ohne seine Gefährtin.
Er war wahnsinnig geworden … weil er seine Gefährtin nicht gefunden hatte. Es war diese Leere in der Tiefe seiner Seele, die ihn langsam einnahm, bis er fast nur noch eine Bestie und kaum noch etwas Menschliches in ihm war.
„Luca, sei ganz ruhig. Es wird alles gut.“ Ich flüsterte die Lüge schroff, und obwohl ich wusste, dass er mich hörte, sagte er nichts. Nur einen Moment lang herrschte Stille, dann drang das Geräusch seines schweren Atmens, seiner hin- und hergehenden Schritte durch den Stein und das Holz.
Luca hatte sich schon so lange hier eingeschlossen, dass ich es gar nicht mehr anders kannte. Er weigerte sich, in irgendjemandes Nähe zu sein, und vermutlich tat er das, weil er glaubte, er würde mich irgendwie mit seinem Wahnsinn anstecken.
Er bevorzugte seine Einsamkeit und seine Verrücktheit – aber mehr noch … sein Leid. Ich wusste, dass er wegblieb, um sich weiter zu bestrafen, weil er das Gefühl hatte, versagt zu haben, weil er seine Gefährtin nicht gefunden hatte – sich Sorgen machte, dass sie schon für immer von uns gegangen war.
Die Diener brachten ihm Essen, Wasser, Bier und alles andere, was er brauchte. Ich hatte ein Badezimmer eingebaut. Ich wusste, dass er sich zwar nicht um seine grundlegenden Bedürfnisse kümmerte, weil sein Verstand von dem Gedanken daran, ohne Gefährtin zu sein, vernebelt war. Doch ich hoffte, dass er Trost und ein kleines Maß an Freude an den einfachen Annehmlichkeiten finden würde.
„Luca? Sprichst du nicht mit mir?“ Jeden Abend kam ich hierher, um mit ihm zu reden, um mich mit ihm zu verbinden, um meine einzige verbliebene Familie wissen zu lassen, dass er nicht allein war.
Auch ich war ohne Gefährtin, aber ich war nicht von diesem lähmenden Wahnsinn befallen, der einige der Übernatürlichen befiel. Vielleicht weil ich geistig stärker oder jünger als Luca war oder – zur Hölle – vielleicht hatte ich einfach Glück.
„Es tut mir leid, Bruder“, flüsterte ich rau. „Ich kenne den Schmerz, den du fühlst. Ich weiß, dass du deine Gefährtin willst. Ich weiß, du sehnst dich nach dieser Verbindung. Ich weiß, du willst diesen Frieden. Es tut mir leid, dass ich ihn dir nicht geben kann, mein Bruder.“
„Lass mich“, sagte Luca mit einer gutturalen, unmenschlichen Stimme. Sein Ton war tief, animalisch. Er war verzerrt, und ich wusste, obwohl er noch in seiner menschlichen Form war, war er verändert … möglicherweise für immer.
Ich konnte ihn nicht sehen, aber ich konnte mir vorstellen, dass sein einst so gut aussehendes Gesicht mehr und mehr das Aussehen eines Lykaners angenommen hatte, seine Eckzähne permanent ausgefahren, seine Nägel Krallen waren. Sein Körper war größer und stärker, obwohl sein Geist und sein Herz für immer geschwächt waren.
Ich hörte, wie er mit seinen grausamen Klauen über die Mauern kratzte, in die er sich freiwillig eingeschlossen hatte, und dabei zweifellos große Brocken aus dem jahrhundertealten Stein löste, der uns umgab.
„Willst du nicht rauskommen? Mit mir trinken? Eine Mahlzeit mit mir essen?“ Ich hatte die Stirn gegen die Tür gedrückt, meine Augen waren geschlossen. Trotz des Schmerzes, den ich für meinen Bruder empfand, und meines Bedürfnisses, ihn zu lindern, waren meine Gedanken immer bei ihr .
Meiner Gefährtin. Der Frau, die ich nie kennengelernt, noch nicht einmal gesehen hatte.
Sie würde für immer meine Priorität sein, der einzige Trost, der mich beruhigte. Sie würde immer an erster Stelle in meinen Gedanken stehen, und sobald ich sie gefunden hätte – falls ich sie jemals fand – wäre es mein einziges Ziel, ihr das Leben zu versüßen.
„Geh, Bruder, bevor ich dich mit mir in diese Hölle hinunterziehe.“
Ich atmete aus und ging zurück, als ich das Tablett mit dem teilweise verspeisten Essen von heute Morgen sah. Wenigstens hatte er gegessen – wenn auch nicht genug. Nicht annähernd genug. Aber diese Tatsache sagte mir, dass Luca noch nicht ganz verloren war.
Es gab Hoffnung, obwohl sie klein war.
Jetzt hoffte ich nur, dass wir nicht beide endgültig in die Tiefen der Dunkelheit abtauchen würden, denn dann gäbe es niemanden, der uns herausziehen könnte.