Kapitel 5
Mikalina
S päter am Abend ging ich zu Minis Haus zum Abendessen. Andrei hatte an die Tür geklopft und mich hinüberbegleitet. Auf dem kurzen Spaziergang führten wir ein freundliches Gespräch und beschlossen, uns zu duzen.
Ich war dankbar, dass er mit uns aß, denn sonst wäre es ein ziemliches Chaos gewesen, mit Mini zu kommunizieren. Nicht, dass ich es nicht versuchen würde, aber ich wollte sie nicht wegen unserer Sprachbarriere frustrieren.
Und als ich auf ihrer blumenbedruckten, antik aussehenden Couch saß, spürte ich, wie ihr Blick immer wieder zu mir wanderte. Ich fühlte mich seltsam in der Nähe der älteren Frau – nicht auf eine schlechte Art und Weise, sondern eher so, als könnte sie mir in die Augen schauen und alles durchschauen, was ich dachte.
Ich hatte das Gefühl, als ob sie ein Geheimnis über mich wüsste – ein sehr wichtiges –, dessen ich mir nicht einmal bewusst war. Als würde sie meine Zukunft kennen.
Es war, gelinde gesagt, nervenaufreibend.
Es war ein seltsames Gefühl, so offen und im übertragenen Sinne entblößt zu sein, obwohl man nicht in der Lage war, mit jemandem direkt zu kommunizieren.
Mini bestand darauf, dass ich mich hinsetzte und auf das Abendessen wartete, obwohl ich meine Hilfe angeboten hatte. Sie schaute so entsetzt, dass ich ihr beim Kochen helfen wollte, dass ich spürte, wie sich meine Augen weiteten. Andrei grinste und schüttelte den Kopf.
„Es ist nichts persönliches“, sagte er, während er sich neben mich auf die Couch setzte. „Es ist ihre Art. Und die ist in Stein gemeißelt.“
Ich nickte, obwohl ich nicht sagen konnte, dass ich es verstand. Ich hatte noch nie so jemanden gekannt. „Meine Großmutter geht jedes Wochenende in einen Country Club“, sagte ich angewidert. „Sie besitzt ungefähr so viel liebevolle Wärme, wie wenn du mit einem Schneeball im Gesicht eingerieben wirst.“
Andrei begann zu lachen. „Es läuft hier ganz anders als bei dir zu Hause.“
„Du hast ja keine Ahnung“, murmelte ich und sah mich um. Minis Wohnzimmer war klein, aber gemütlich, mit der farbenfrohen, volkstümlichen Dekoration, die mir irgendwie das Gefühl gab, dass ich mich wohl und wie zu Hause fühlte. Sie hatte einen winzigen Fernseher, der auf einer großen Spitzendecke auf einem polierten Tisch stand. Andrei hatte ihn eingeschaltet und erzählte mir, dass seine Großmutter gerne den Sendungen zuhörte, auch wenn sie nicht auf den Bildschirm schaute.
Die aktuelle Serie war etwas, das ich eine Seifenoper nennen würde, obwohl ich mir nicht sicher war, ob es hier genauso bezeichnet wurde. Die Frau weinte dramatisch und umklammerte die Perlenkette an ihrem Hals, während sie den sehr gut aussehenden Mann vor ihr offensichtlich anflehte, zu bleiben. Sie streckte ihre Hand nach ihm aus, nur um sie wieder zurückzureißen, ihn böse anzustarren und dann erneut mit dem Weinen anzufangen.
Obwohl ich annahm, dass sie verzweifelt war, weil er sie verließ, verstand ich nicht, was gesagt wurde, daher könnte sie ihn genauso gut verflucht haben, weil er einen kleinen Schwanz hatte und sie im Bett nicht befriedigte.
Mini rief aus der kleinen Küche, und Andrei erhob sich. „Das Essen ist fertig. Ich hoffe, du hast Appetit mitgebracht. Meine Großmutter kommt nicht mehr so oft zum Kochen wie früher, deshalb hat sie ein Festmahl zubereitet.“
Ich lächelte, folgte ihm in den Essbereich und riss die Augen bei dem Festmahl auf dem Tisch auf.
„Oh je“, sagte ich leise. Mein Magen knurrte bei dem Anblick und den Gerüchen. Alles sah unglaublich köstlich aus. „Dafür hat sie doch bestimmt den ganzen Tag gekocht“, fügte ich abgelenkt hinzu, sofort peinlich berührt, dass es aus meinem Mund gekommen war.
„Oh ja. Sie war begeistert, das Abendessen vorzubereiten.“
Mini gestikulierte zu den Gerichten und rasselte die Titel herunter, die Andrei dann erläuterte.
Sarmale – Kohlrouladen. Mămăligă – Polenta. Mici – gegrillte Hackfleischröllchen oder etwas Ähnliches vermutete Andrei, da er sich der genauen englischen Übersetzung nicht sicher war. Cozonac – süßes Brot. Papanași , die aussahen wie winzige Donuts mit leckerer Sahne und Marmelade oben drauf.
Er nannte fünf weitere Gerichte, noch mehr Desserts, und ich war überwältigt, aber zugleich unglaublich hungrig.
Ich war dankbar, denn noch nie hatte jemand – nicht einmal aus meiner Familie – sich solche Mühe für mich gemacht. Ich bedankte mich mehrmals bei Mini, und ihr Lächeln, gepaart mit einem Heben ihres Kinns, kurz bevor sie abwinkte, sagte mir, dass sie stolz darauf war, dass ich zufrieden war.
Wir setzten uns hin und begannen zu essen, und Mini redete wieder, während Andrei erneut übersetzte. Sie beschrieb jedes Gericht und eine damit verbundene Erinnerung, und ich war wie gebannt von den Geschichten und wünschte mir, ich wäre nur ein wenig so aufgewachsen wie sie.
Sie und ihre Familie besaßen nicht viel an materiellen Dingen, aber was sie hatten, waren Liebe und gemeinsames Kochen und Essen, die ihren Zusammenhalt festigten.
Und für mich klang das himmlisch.
Es war ganz anders als meine steife, etwas distanzierte Kindheit, in der meine modern denkenden Eltern streng gewesen waren, bis zu dem Punkt, an dem sie manchmal kalt gewirkt hatten. Es gab keine wunderbaren Abendessen, bei denen wir am Tisch saßen und über unseren Tag redeten. Es gab keine Erinnerungen, die mit den gekochten Gerichten verbunden waren, oder Rezepte, die von anderen Familienmitgliedern weitergegeben worden waren.
Und war das nicht verdammt traurig?
Wir saßen beisammen und aßen. Anderthalb Stunden vergingen und doch schien es, als wäre gar keine Zeit verstrichen. Mini stand auf und begann, den Tisch abzuräumen, und ich versuchte zu helfen. Ich wollte einen Teller nehmen, aber Mini sagte schnell etwas. Ihr Tonfall war sehr missbilligend, während sie mich wegscheuchte. Andrei schüttelte nur den Kopf, grinste und deutete mir, ins Wohnzimmer zu gehen.
„In ihren Gewohnheiten verhaftet“, sagte er, als ob das der Schlüssel zu allem wäre.
Sie brachte Kaffee für uns, dann schlurfte sie zurück in die Küche. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, dass ich nicht mehr helfen konnte, aber es war scheinbar eine Beleidigung für sie, also folgte ich Andrei zur Couch, wo wir uns hinsetzten.
Das Gespräch zwischen ihm und mir war locker. Er fragte mich nach meinem Leben in den Staaten. Im Gegenzug erkundigte ich mich nach seinem hier in Rumänien. Es war faszinierend zu erfahren, wie anders die Dinge liefen, wie viel härter er für alles arbeiten musste, das mir so leicht gefallen war. Es war auch sehr deutlich, dass die normalen alltäglichen Begebenheiten und Annehmlichkeiten in meinem Leben, die ich als selbstverständlich ansah, für Andrei ein Luxus zu sein schienen.
Mini kam kurz darauf zu uns und blieb still, während sie an ihrem Tee nippte und Andrei und mir zuhörte, wie wir über alltägliche Dinge sprachen. Aber dann legte sich Stille über uns, und ich konnte diese seltsame Schwere in der Luft spüren. Ich wusste, dass Andrei es ebenfalls bemerkte, denn er bewegte sich auf der Couch und schien sich unwohl zu fühlen bei dem, was sich um uns herum auflud.
Da begann Mini zu sprechen, aber nicht in ihrem normalen schnellen Tempo, an das ich mich in dieser kurzen Zeit gewöhnt hatte, sondern langsam und stetig. Sie starrte mich dabei an.
Minis Tonfall ließ mir einen Schauer über den Rücken laufen, verursachte eine Gänsehaut auf meinen Armen und Beinen. Und die ganze Zeit über sah sie mich an, direkt in meine Augen, als würde sie mich anflehen. Als wäre das, was sie redete, zwingend notwendig.
„Was sagt sie?“, fragte ich Andrei, ohne meine Konzentration auf Mini zu unterbrechen. Die ältere Frau gestikulierte in Richtung Eingangstür, vermutlich zu dem dichten Wald direkt davor. Ich hatte keine Ahnung, warum oder woher ich wusste, worauf sie sich bezog, weshalb ich es so stark empfand, aber es war so real wie die Luft, die ich tief in meine Lungen einsog.
Ich hörte – und fühlte – das Auf und Ab von Minis Stimme, den Tonfall und die Tonhöhe ihrer Worte, die mir verrieten, dass sie ein Märchen erzählte.
Ich blickte Andrej an, und er hörte seiner Großmutter mit einer Verzückung im Gesicht zu, als würde auch er es zum ersten Mal vernehmen. Ich schaute wieder zu Mini, deren alte, weise Augen immer noch auf meine gerichtet waren. Schließlich hielt sie inne, lehnte sich zurück und trank ihren Tee aus, während sie offensichtlich darauf wartete, dass Andrei übersetzte, was sie gerade gesagt hatte.
Ich schaute ihn erwartungsvoll an.
Er fuhr sich mit der Hand über das Kinn und schüttelte den Kopf.
„Was hat sie gesagt?“, fragte ich ungeduldig, ohne dass es so klingen sollte, aber mir war, als würde ich mit Spannung auf das Finale einer Geschichte warten.
„Sie hat etwas erzählt, was sie gehört hat, als sie jünger war. Über einen der Wölfe im Wald, der die Dorfbewohner erschreckt.“
Mini sagte noch etwas, und aus irgendeinem Grund wusste ich, dass sie damit meinte: „Erzähl ihr alles.“
Doch seltsamerweise hatten sich die Haare in meinem Nacken aufgerichtet, während Andrei einen „Wolf“ erwähnt hatte.
„Ihre Geschichte handelte von Wölfen. Aber sie sind anders. Sie sind …“ Er sagte wieder etwas zu ihr, und sie antwortete sofort gleichmäßig und deutlich. „Lykaner. Sie behauptet, es sind keine Wölfe, sondern Lykaner. Halb Mensch, halb wolfsähnliche Kreatur.“
Mein Herz begann aus irgendeinem Grund zu rasen, und ich ertappte mich dabei, wie ich aus dem Fenster schaute. Wie seltsam, allein dadurch so zu reagieren.
„Lykaner sind eine Spezies, die es schon seit Jahrtausenden gibt, weit vor den Menschen, und sie werden auch noch da sein, wenn die Menschen nicht mehr da sind.“ Andrei begann, mit Mini zu reden, und ich konzentrierte mich wieder auf sie. Er atmete aus. „Es tut mir leid. Ich verstehe nicht, warum sie darauf besteht, dass ich dir das erzähle. Es ist nicht, um dir Angst zu machen. Sie sagt, du musst wissen, was in den Wäldern lauert, denn dass du hier bist, wäre kein Zufall.“
Ich schluckte und runzelte die Stirn. „Das begreife ich nicht. Kein Zufall?“
Er zuckte mit den Schultern, als ob er es auch nicht verstehen würde. „Sie sagt, nichts ist Zufall. Alles geschieht aus einem Grund. Wir werden geboren, um eine Art Schicksal zu erfüllen.“
Mini redete wieder, und ich sah ihr zu, aus irgendeinem Grund so vertieft, dass ich mich tatsächlich nach vorne lehnte und an ihren Worten hing, die ich nicht verstehen konnte.
„Sie sagt, sobald sie in deine Augen sah, wusste sie, dass du aus einem bestimmten Grund hier bist, dass du dazu bestimmt bist, deine Wahrheit zu erfüllen. Sie sagt, es steht in deinen Augen geschrieben.“
Ich hob meine Hand und hielt inne, als ich an einem Augenwinkel ankam. Ich verstand nicht, was sie meinte, aber es war klar, dass sie ihre Ansicht sehr leidenschaftlich vertrat.
Ich hätte das alles auf den Irrsinn einer älteren Frau aus einem fernen Land schieben können, die mir eine Geschichte erzählt, die sie als Kind gehört und an der sie ihr ganzes Leben lang festgehalten hatte. Aber dann hob Mini ihre Hand, gestikulierte zu ihren eigenen Augen und zeigte danach auf meine. Sie begann wieder zu sprechen, ihr Tonfall wurde nun weicher und sanfter. Nachdem sie Andrei zum Übersetzen aufforderte, ruckte ich den Kopf in seine Richtung, um mehr zu hören.
„Meine Großmutter sagte, dass blaue Augen, die so hell sind, dass sie keine menschliche Schattierung sind, sondern wie die der Lykaner aussehen, ein bestimmtes Schicksal bedeuten.“
Es stimmte, meine Iris hatte einen seltsamen Blauton, der fast blaugrün aussah. Soweit ich wusste, hatte keine andere Person in meiner Familie diesen Farbton oder etwas, das ihm auch nur vage ähnelte. Als Kind hatte ich Komplimente dafür bekommen, staunende Blicke von Männern und Frauen, und während ich älter wurde, wusste ich es zu schätzen. Ich würde sagen, dass meine Augen wahrscheinlich mein bestes Attribut waren, da ich ansonsten in jeder Hinsicht unauffällig war.
Aber so etwas Absonderliches wie das hier zu glauben, was auch immer das war – ganz abgesehen von der ganzen Wolfs-, Lykaner- oder sonstiges-Folklore –, dass ich hier eine Art vorbestimmtes Schicksal hatte, nur wegen der Farbe meiner Augen? Unfassbar.
Das behielt ich allerdings für mich. Es war eindeutig, dass Mini von ganzem Herzen glaubte, was sie sagte, und ich war nicht in der Lage, jemanden zu korrigieren und ihm zu sagen, dass ich niemand Besonderes war. Ich hatte kein großes Schicksal vor mir. Ich war einfach nur hier, weil ich weg musste, eine Art Mangel in meinem Leben spürte … eine Art Sog, der mich dazu brachte, etwas zu erkunden und weiterzugehen.
Mir war klar geworden, dass ich hatte weg müssen, dass ich mich wie zu Hause fühlte, als ich beschloss, nach Dobravina zu gehen, wie ich spürte, dass es genau der Ort war, an dem ich sein sollte. Und dieses Gefühl verstärkte sich, nachdem ich in diesem Land gelandet war, und noch mehr, als ich in das Dorf gekommen war.
Ich blieb noch etwa eine halbe Stunde. Das Gespräch wurde von Andrei in eine neutralere, „sicherere“ Richtung gelenkt. Doch alles, woran ich denken konnte, war das, was Mini gesagt hatte.
Nachdem ich mich noch einmal bei ihr bedankt hatte, ging ich nach nebenan, blieb allerdings draußen stehen und starrte auf die dichte Baumreihe, die ich in der Ferne sehen konnte. Der Mond stand hoch am Himmel, nicht ganz voll, aber er warf ein silbriges, glühendes Licht über alles. Schatten schlängelten sich zwischen den Stämmen, und tief im Wald war es stockdunkel. Die Bäume waren so eng beisammen, dass ich nichts sah als diese Tintenschwärze.
Meine Haut spannte und fühlte sich heiß an. Mein Herz schlug in einem gleichmäßigen Rhythmus, und ich ertappte mich tatsächlich dabei, wie ich mich fast dem Wald näherte, als ob irgendein unvorhergesehenes Ereignis mich dazu brachte. Aber ich schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können, und zwang mich – ja, ich musste mich zwingen –, in die Hütte zu gehen.
Ich fand mich in meinem Zimmer wieder und lehnte mich an die Wand. Meine Gedanken waren noch wirrer als zuvor.
Ich machte mich für die Nacht fertig. Ich dachte an die Geschichte, die Mini erzählt hatte.
Und dann lag ich in meinem Bett, das Licht ausgeschaltet, und die Geräusche der Dunkelheit vor meinem Fenster halfen nicht dabei, mich in den Schlaf zu lullen.
Ich wusste, dass es für mich keine erholsame Nacht geben würde. Nicht, wenn es sich anfühlte, als hätte ich eine elektrische Leitung berührt.