DONI WOHNTE IN der Via Orti, hinter dem Corso Porta Romana. Von seiner Wohnung bis zum Justizpalast war es nicht weit, zu Fuß in dem Rhythmus, den er in den Lauf der Jahre graviert hatte, genau zwölf Minuten.
Auf dem Hinweg ging er durch die Via della Commenda, am Hauptkrankenhaus mit seiner roten Backsteinmauer entlang, die ihm eine Londoner Prägung gab, und mit den Rettungswagen auf dem Parkplatz. Dann kam die Piazza Umanitaria und gegenüber ein reizender Palazzo in Beige. Manchmal, wenn er zu früh aus dem Haus gegangen war, hielt Doni einen Moment inne, um ein besonderes Vergnügen zu genießen: mitten in Mailand unter Bäumen auf einer Bank zu sitzen. Dann war er nicht mehr dort, sondern in einer Stadt in Mitteleuropa, in einer kühlen, würdevollen Metropole – Wien, München, Paris –, wo Form und Gedächtnis im Schatten einer Abkürzung vereint waren.
Schließlich bog er in die Via Daverio, wo bereits die Rückseite des Justizpalastes zu sehen war, das erhöhte, schwarze Dach mit den in den achtziger Jahren hinzugefügten Stockwerken, die zur Ermüdung der Steinplatten geführt hatten. Von hier aus wirkte der Palazzo wie eine gestrandete Galeone.
Auf dem Rückweg, so wie jetzt, änderte er seine Route und ging durch die Via Pace. Dieselben Straßen, derselbe Schritt, hin und zurück: zwölf Minuten.
So war es nicht immer gewesen.
Einige Jahre zuvor hatte er weiter südlich gewohnt, am Außenring. In einer Querstraße zum Viale Liguria. Im Sommer war er samstags mit Claudia und Elisa an den Navigli, den Kanälen Mailands, frühstücken gegangen. Bei Tee und Gebäck schauten sie auf das langsam dahinfließende Wasser. Dann machte Elisa einen Bummel durch die Buchhandlungen und Boutiquen am Kanal, kaufte einen Armreif aus Holz oder eine Kette, und zu dritt kehrten sie wieder nach Hause zurück – eine Familie.
Und davor? Die Wohnung seiner Eltern, zwei Jahre in Apulien, fünf Jahre in den Marken, wo er sich von unten hochgearbeitet hatte, und dann weitere zehn in Gallarate – die schlimmsten –, in dieser Kleinstadt, die in die Mailänder Gegend geschleudert war wie ein Satellit; hin und zurück im Auto, anderthalb Stunden im Stau, Auseinandersetzungen mit Claudia, weil es so nicht weitergehen konnte in jener Zeit, die ihnen wie ein einziger, langer November erschien.
Doch das war vorbei. Staatsanwalt in Mailand und schließlich Oberstaatsanwalt.
Doni nahm die Treppe, statt mit dem Aufzug hinaufzufahren, und betrat die Wohnung. Claudia war noch nicht zu Hause oder war noch einmal weggegangen.
Da er seine Diät zum Mittag ohnehin schon nicht eingehalten hatte, nahm Doni eine Flasche Müller-Thurgau und einige Gourmetpäckchen aus dem Kühlschrank. Er stellte einen Teller mit drei Scheiben spanischem Knochenschinken, zwei Röllchen Butter, einigen marinierten Sardellen, etwas geraspeltem Parmesan und einigen gefüllten Kirschpaprika zusammen. Bewundernd betrachtete er das Ergebnis.
Dann nahm er ein Weinglas aus der Anrichte und goss sich ein. Er trug alles ins Wohnzimmer und schaltete die Stereoanlage ein. Im CD-Player lag noch die Fünfte von Mahler, und Doni beließ es dabei.
Er stellte den Teller auf den niedrigen Glastisch, trank einen Schluck und ließ den Kopf gegen die Rückenlehne fallen.
Er erwachte vom Klappen der Tür. Nacheinander setzten sich die Stückchen des Abends wieder zusammen. Mahler war nun beim Rondo, der Teller vor ihm war noch unangetastet, und Claudia war nach Hause gekommen.
«Hallo», sagte sie hinter ihm.
«Ciao», sagte Doni vorsichtig.
«Entschuldige, ich war mit der Tür etwas zu laut. Hast du gerade Mahler gehört?»
«Was? Ja. Das heißt …»
«Eine kühne Wahl», sagte sie lächelnd. Während sie sich den Mantel auszog, beugte sie sich vor und warf einen Blick auf den Teller. «Du hast schon gegessen?»
«Nein, nein.» Doni hustete, damit seine Stimme kräftiger wurde. «Ich wollte nur einen Aperitif trinken, doch wie es aussieht, bin ich vorher eingeschlafen.»
Claudia ging um die Couch herum und kam zu ihm. Sie schien gute Laune zu haben und war schöner als am Morgen. Sie nahm eine Scheibe Schinken und biss hinein.
«Wie war dein Tag?», fragte sie.
«Wie immer.»
«Hast du immer noch so viel zu tun?»
«Nicht besonders. Nach dem Santarelli-Prozess scheint alles leichter zu sein.»
«Das kann ich mir vorstellen.» Sie zog sich die Schuhe aus. «Aber bei mir ist es anstrengend, weißt du. Sie haben mir da diese neue Sekretärin gegeben, die hat von Tuten und Blasen keine Ahnung, das kannst du mir glauben. Sie mag vielleicht dreißig, zweiunddreißig sein. Was weiß ich. Doch es ist schon ein Wunder, wenn sie es schafft, ein Fax abzuschicken.»
Doni schwieg. Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte.
Seine Frau schnaufte. «Gut», sagte sie. «Was möchtest du essen?»
«Ich weiß nicht. Pasta?»
Claudia verzog das Gesicht. «Die hatte ich schon zu Mittag. Wir waren in einer hübschen, neuen Bar, nicht weit vom Büro. Da ist die Pasta noch hausgemacht, stell dir vor.»
«Salat?»
«Nein, doch keinen Salat, ich habe Hunger.»
«Tja … Dann eben was anderes.»
«Gut, mal sehen, ich lass mir was einfallen.»
Sie stand auf und ging ins Schlafzimmer. Die letzten Takte der Sinfonie klangen unbehaglich, und Doni fragte sich, wie er mit dieser Geräuschkulisse hatte einschlafen können. Er schaltete die Musik aus und rieb sich das Gesicht mit den Fäusten.
Claudia kam in Jeans und T-Shirt zurück. Sie ging in die Küche.
«Ach, übrigens, ich habe mit Elisa telefoniert», sagte sie im Vorübergehen.
«Aha», sagte Doni.
«Sie kämpft immer noch um die Verlängerung ihres Stipendiums. Wie nervig.»
Doni schwieg. Das Klappern von Töpfen und Tellern.
«Ist auch in Amerika immer das Gleiche», rief Claudia. «Man könnte meinen, das ist nur in Italien so, aber eigentlich ist da gar kein Unterschied.»
«Na ja, wenigstens haben sie sie bis jetzt bezahlt, und gar nicht mal so schlecht.»
«Wie?»
«Ich sage», wiederholte Doni, «bis jetzt haben sie sie ja bezahlt. Und gar nicht mal so schlecht. Oder?»
Claudia antwortete nicht. Doni dachte daran, dass er schon seit Monaten keinen Anruf mehr von seiner Tochter erhalten hatte und dass seine beiden letzten Mails unbeantwortet geblieben waren. Claudia wusste das. Unbekümmert rieb sie ihm ihren besonderen Draht zu Elisa unter die Nase – jaja, die Damen des Hauses, immer dasselbe, und er der arme Roberto, der arme Papa, unflexibel im Gegensatz zu ihrer weiblichen Energie, vernunftbetont und ein bisschen verbohrt im Gegensatz zu ihrer geistigen Offenheit, langsam und systematisch im Gegensatz zu ihrer farbenkräftigen Klugheit – vor allem zur Klugheit Elisas, die nun an der Indiana University Bloomington im Nordosten der Vereinigten Staaten Physik studierte, während sie in Italien versauerten.
Rutscht mir doch beide den Buckel runter, dachte Doni. Er wusch sich die Hände und ging in sein Arbeitszimmer, zur Magdalena.
Über seinem Schreibtisch hing eine große Reproduktion von Georges de La Tours Magdalena. Diesen Künstler liebte er. Von Malerei verstand er nichts, doch seitdem er im Palazzo Reale eine Ausstellung mit dessen Werken gesehen hatte, war er begeistert von ihnen. Sie gefielen ihm aus einem einfachen, fast schon idiotischen Grund: Sie waren voller Kerzen. Auf den Bildern von La Tour hatte das Licht stets etwas Zartes, etwas, das beschützt werden musste.
Doni stützte sich mit den Händen auf die Rückenlehne des Bürostuhls und betrachtete seine Magdalena. Zwei Jahre zuvor hatte sie noch im Schlafzimmer gehangen, doch eines Tages hatte Claudia, während sie ihren Pyjama anzog, beschlossen, dass sie ihr nicht mehr gefiel. Sie führte ihre letzten Träume (aufwühlende Albträume) auf die Düsternis des Gemäldes zurück und bat Doni, es abzunehmen.
Er sah sich das Bild aus der Nähe an. Die Frau war der Kerze zugewandt, deren Licht den Raum ringsumher spärlich erleuchtete. Ihre linke Hand stützte das Kinn, die Rechte in ihrem Schoß lag auf einem Totenschädel, der auf ihrem roten Rock fast von der Dunkelheit verschluckt wurde.
Magdalenas Gesicht war ausdruckslos. Sie betrachtete die Flamme, weiter nichts, und wie jedes Mal spürte Doni einen Schauder: Würde er die Glasscheibe anhauchen, so dachte er, würde die Kerze verlöschen.
Das Abendessen verlief wortlos. Claudia hatte sich schließlich für gesalzene Makrelen entschieden. Sie aß schnell, trank eine halbe Flasche Müller-Thurgau und stand noch vor dem Nachtisch auf.
«Ich habe wahnsinnige Kopfschmerzen», sagte sie. «Macht es dir was aus, den Tisch abzuräumen?»
«Nein, natürlich nicht.»
«Halte dich nicht damit auf, das Geschirr zu spülen, das kann warten. Aber du würdest mir einen Gefallen tun, wenn du abräumen könntest.»
«Keine Sorge. Nimm eine Tablette, vielleicht eine Moment.»
«Haben wir denn noch welche?»
«Sieh mal im Bad nach.»
«Neulich habe ich welche gesehen, doch ich glaube, sie sind abgelaufen.»
«Du kannst ja mal nachschauen. Falls es so ist, suchen wir eine Apotheke heraus, die Notdienst hat.»
«Okay.»
«Es müsste eine ganz in der Nähe geben.»
«Okay, okay.»
Claudia ging mit der Hand an der Stirn aus dem Zimmer. Doni stellte die Teller zusammen, räumte sie mit dem Besteck ins Spülbecken, gab einen Spritzer Spülmittel dazu, ließ Wasser einlaufen und schaute dann aus dem Fenster.
Die Straße war menschenleer und die Nacht mild, mit einem Hauch von Erde in der Luft, als hätte jemand die Stadt aufs Land versetzt. Das Licht der Laternen betupfte die Straße in gleichmäßigen Abständen. Niemand auf dem Gehweg. Ein Vogel schmetterte ein kurzes Lied.
Als er ins Schlafzimmer kam, lag Claudia schon im Bett und schlief. Sie schnarchte sacht, mit leicht geöffnetem Mund auf der Seite liegend. Durch den Rollladen fielen Lichtstückchen.
Doni suchte einen Pyjama heraus und knipste die Nachttischlampe an. Claudia murmelte etwas und drehte sich auf die andere Seite. Auf dem Nachttisch stand ein Foto von Elisa. Doni nahm es in die Hand und klopfte zweimal kurz gegen das Glas des Bilderrahmens. Dann schüttelte er den Kopf und fuhr mit dem Zeigefinger rings um das Gesicht seiner Tochter. Er löschte das Licht und ging zu Bett.