ZWEI TAGE SPÄTER klopfte es an Donis Bürotür. Es war früher Nachmittag und sehr heiß. Die Temperaturen waren in die Höhe geklettert.
Die Flure des Justizpalasts waren von körnigem Licht durchflutet, und der abgestandene Geruch nach Zigarettenrauch im Treppenhaus war nun fast unerträglich. Alles schien noch statischer zu sein als sonst, ein Schwebezustand, der schon an Schönheit grenzte, der reinste De Chirico: eine Metaphysik, die ihren Höhepunkt im Sommer erreichen sollte, wenn Doni durch die ungemein hohen, menschenleeren Flure ging wie durch die Straßen einer Stadt in der Stadt.
«Herein», sagte er.
Eine blonde, junge Frau um die zwanzig trat ein. Sie drehte sich kurz um und überlegte, ob sie die Tür schließen sollte, dann tat sie es, schnellte wieder nach vorn und blieb stehen.
Wieder so etwas, was die Leute nicht wussten oder nie für möglich halten würden. Die Verrückten. Die Stammgäste, wie ein Kollege sie nannte.
Eigentlich konnte jeder x-Beliebige in den Justizpalast gelangen. Natürlich gab es eine Eingangskontrolle, doch an der vorbeizukommen, war nicht schwer. Doni hatte schon öfter Besuch gehabt, von Größenwahnsinnigen, von verkalkten Greisen, von Obdachlosen, die von Weltverschwörungen faselten, und sogar von einem kleinen Jungen, der während einer Besichtigung seine Schulklasse verloren hatte.
Immer wieder beherbergte der Palazzo einen Unbefugten. Jemanden, dessen Anwesenheit nicht erlaubt war, dem es aber trotzdem gelungen war, in den Bauch der Justiz einzudringen – weniger ein Bakterium als vielmehr eine Zelle, die aus einer anderen Welt hereingeschneit war, ein harmloses, doch illegales Element.
Immer wieder klopfte zuweilen jemand an die Tür der Richter und Staatsanwälte und gab seinen Senf zum Besten. Er fragte, redete, quasselte, egal was. Wie war das nur möglich? Doni verstand es nicht. Doch vielleicht gehörte auch das zur Logik des Palazzos, dieser Zone, in der die Regeln unsicher waren, das ganze Gegenteil von dem, was er sein sollte: Nägel und Risse, wie immer.
Die junge Frau sah ihn an, ohne zu lächeln.
«Dottor Doni?», fragte sie.
«Ja. Und wer sind Sie?»
«Elena Vicenzi, Journalistin. Ich habe Ihnen vor zwei Tagen eine Mail zum Fall Ghezal geschrieben.»
Doni kniff kurz die Augen zusammen, dann erinnerte er sich. Sie hatte nicht viel mit dem Foto gemein, das er online gefunden hatte. Diese Frau wirkte jünger, und sie hatte vor allem kurzes Haar. Er beschloss, auf der Hut zu bleiben, und nickte nur.
«Sie haben mir nicht geantwortet», sagte sie.
«Nein», sagte Doni. Und dann mit härterer Stimme: «Nein, ich habe Ihnen nicht geantwortet. Könnte ich Ihren Ausweis sehen?»
«Wie bitte?»
«Ihren Presseausweis, bitte. Wie sind Sie denn hereingekommen?»
Sie war sprachlos. Dann wühlte sie in ihrer weißen Einkaufstasche und nahm die Papiere heraus. Sie reichte sie ihm.
«Ich bin Publizistin», sagte sie. «Wie ich Ihnen geschrieben habe, arbeite ich freiberuflich.»
Doni warf einen kurzen Blick auf den Ausweis.
«Und wie sind Sie hereingekommen?», fragte er noch einmal.
«Na ja … Ich habe an der Rezeption nach Ihnen gefragt, und man hat mir den Weg beschrieben. Das war’s.»
«Das war’s.»
«Eigentlich ganz einfach. Hätte ich gar nicht gedacht.»
«Wem sagen Sie das.»
Einen Moment lang schwiegen sie. Doni schaute auf und bemerkte ihr geblümtes Kleid, ein bisschen im Stil der Sechziger und für diese Gelegenheit unpassend. Sie war sehr dünn.
«Jedenfalls bin ich vorbeigekommen, eben weil Sie mir nicht geantwortet haben, die Zeit drängt. Ich muss kurz über Khaled Ghezal mit Ihnen sprechen.»
Doni schüttelte den Kopf. «Auf gar keinen Fall.»
Sie trat einen Schritt vor.
«Dottore, ich weiß ja. Sie denken wahrscheinlich, ich bin verrückt oder will nur ein Interview. Aber so ist es ganz und gar nicht.»
«Das ist eine Frage jenseits aller …»
«Das weiß ich doch.» Sie ließ nicht locker. «Ich weiß, ich weiß, bitte hören Sie mir nur einen Augenblick zu. Ich bin in diesen Dingen nicht geübt, und glauben Sie mir, es ist das erste Mal, dass ich an einen Staatsanwalt schreibe und dann auch noch einfach so aufkreuze … Also, das ist absolut unüblich und keineswegs die Norm, nicht wahr?» Sie lächelte, scheinbar entwaffnet, sprach jedoch sofort weiter: «Tja, also. Wie ich Ihnen in meiner Mail bereits erklärt habe, ist Khaled wirklich unschuldig. Er hat nicht geschossen. Er war nicht mal am Tatort, als es passierte. Er ist ein anständiger Kerl und hat nie was Unrechtes getan, noch nie in seinem Leben hat er eine Pistole in der Hand gehabt. Ich kenne Leute, die das bestätigen können. Sie wissen das genau, und sie wissen auch, wo er an jenem Abend war, wo er sich aufhielt und was er tat. Ich kann mir denken, dass das alles verrückt klingt, mit dem Kuddelmuddel, der nun zum Vorschein kommt, doch es ist die Wahrheit. Sie müssen mir glauben.»
Doni wartete einen Augenblick, dann entschied er sich für einen sarkastischen Ton.
«Aber ich glaube Ihnen ja. Wenn Sie so viele Beweise haben, brauchen Sie sie nur Ghezals Anwalt zu übergeben, er wird sie in der Berufung alle vorlegen.» Er grinste. «Falls Sie es noch nicht begriffen haben, ich bin hier der Böse.»
«Ja.»
«Auch ich habe Berufung eingelegt. Ich bin es, der die strafmildernden Umstände, auf die in erster Instanz erkannt wurde, für schwächer hält als die belastenden. Wussten Sie das?»
Sie starrten sich an, ohne den Blick abzuwenden.
«Ja. Ja, ich weiß.»
«Und weiter?», fragte Doni.
Sie schüttelte den Kopf und griff sich an den Hals. Dann senkte sie den Blick.
«Ich habe kein Vertrauen zu Dottor Caterini.»
«Was meinen Sie damit?»
«Rechtsanwalt Caterini, Khaleds Verteidiger. Ich traue ihm nicht.»
«Und warum nicht?»
«Weil … Na ja, weil ich schon bei ihm war. Er ist ein Idiot. Verzeihen Sie, doch auf mich hat er den Eindruck gemacht, als könnte er eine Frage nicht von einer Behauptung unterscheiden. Er hat mich nach zehn Minuten mit der Begründung weggeschickt, er habe bereits genügend Material für eine niedrigere Strafe beisammen, und überhaupt seien alle Möglichkeiten ausgelotet, es gebe keinen Grund, noch weitere Personen hinzuzuziehen, der Fall sei schon schlimm genug, man müsse den Schaden begrenzen, es sei zwar eine Tragödie und so weiter, gewiss, aber mehr sei nicht drin.»
Doni entschlüpfte ein Lächeln. Genau das dachte auch er über diesen Anwalt – womöglich dachten sogar alle so. Über Enrico Caterini, den Sohn eines alten IKP-Kämpfers, Rhetorik im Überfluss und fast nichts dahinter.
«Er kam mir, wie soll ich sagen, ideologisch verbohrt vor. Als wäre Khaled ein armer Teufel, der aus Versehen oder schuldhaft in eine größere Sache hineingeraten ist, er und alle unglückseligen Immigranten seinesgleichen.»
Donis Lächeln wurde breiter. Das war ja noch besser. Diese junge Frau ging den Anwälten der Linken nicht auf den Leim.
«Aber Khaled braucht keine Bestätigung der Strafe. Khaled ist unschuldig, verstehen Sie? Deshalb kann ich mich nur auf Sie stützen, so absurd das auch klingen mag.» Sie hielt kurz inne, doch Doni antwortete nicht. Nervös kratzte sie sich die Wange, dann fügte sie hinzu: «Außerdem … Nun ja, keiner der Zeugen will vor Gericht erscheinen. Sie alle haben Angst, ihre Aufenthaltserlaubnis zu verlieren, oder fürchten Repressalien.»
«Typisch.»
Doni stand von seinem Stuhl auf und ging um den Schreibtisch herum.
«Hören Sie», sagte er. Wieder hatte er seinen Tonfall geändert. «Ihren, sagen wir, Gemeinsinn in allen Ehren und auch Ihr Engagement für diesen komplizierten Fall, doch es gibt Verfahrensregeln. Und dieses Gespräch verstößt gegen alle Vorschriften. Ich habe nicht die Absicht, es fortzusetzen.»
«Und warum nicht?»
«Das habe ich Ihnen doch gerade erklärt.»
«Aber ich sage die Wahrheit.»
«Das spielt keine Rolle.»
«Das spielt keine Rolle? Was spielt dann überhaupt eine Rolle?»
Doni seufzte. Er konnte nicht glauben, dass er bis an diesen Punkt gekommen war.
«Die Justiz ist eine komplexe Maschinerie», sagte er. «Sie arbeitet nach präzisen Mechanismen, und diese Mechanismen dürfen nicht ignoriert werden. Natürlich ist die Wahrheit das einzig Wichtige, allerdings nur, wenn sie alle vom Gesetz vorgeschriebenen Stationen durchlaufen kann. Es ist traurig, es ist schlimm, aber so ist es nun mal. Die Alternative dazu wäre das Chaos. Und jetzt bitte ich Sie …»
«Demnach gilt ein Mensch, der unschuldig ist, nur deshalb als schuldig, weil irgendwer nicht die Kraft hatte, Kopf und Kragen für ihn zu riskieren? Denn darum geht es hier doch, Dottore. Wenn meine Zeugen vor Gericht erscheinen, sind sie geliefert, so oder so. Es kommt heraus, dass sie keine Aufenthaltserlaubnis haben, und sie müssen zurück, oder aber der wahre Schuldige findet sie und bringt sie um. Doch wen juckt das schon, nicht wahr? Es sind ja bloß Kanaken!»
Doni stand der Mund offen.
«Was erlauben Sie sich? Darum geht es hier doch gar nicht.»
«Im Grunde schon. Und wie. Wenn jemand nicht als Zeuge auftreten kann, weil sein Leben in Gefahr ist, muss das Gesetz ihn schützen.»
«Und das tut es auch.»
«Aber nur in der Theorie, Dottore, machen wir uns doch nichts vor. In der Praxis reißt sich niemand ein Bein aus, um illegale Einwanderer zu beschützen oder ihnen Sicherheiten zu geben. Sehe ich das falsch?»
«Hören Sie, ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.»
«Auf meinen Ausgangspunkt. Sie müssen mit diesen Leuten reden. Und ich schwöre Ihnen, dass ich mich hier erst wegrühre, wenn Sie die Polizei gerufen haben, denn in dieser Sache geht es nicht nur um mich oder Sie. Das ist mein voller Ernst.»
Doni war klar, dass er sie nicht so ohne weiteres loswerden würde. Er hätte natürlich die Polizei rufen müssen, doch dazu hatte er keine Lust. Er hatte es satt, und er hatte es besonders satt, sich mit einem Eindringling herumplagen zu müssen, der überhaupt nicht hätte da sein dürfen, der schon vorher hätte abgefangen werden müssen.
Zudem versprach der Tag, monoton und anstrengend zu werden, und eigentlich gefiel Doni die Art der jungen Frau. Er beschloss, eine letzte Taktik anzuwenden, die einzige, für die er bekannt war: Zuhören. Geduldig, teilnahmsvoll, feinfühlig. Sich alles anzuhören, von Anfang bis Ende.
Bei Straftätern funktionierte das. Es gibt im Grunde keinen Verbrecher, der nicht verstanden werden will, und in jungen Jahren hatte Doni gedacht, dies sei wohl die Ursache dafür, dass die Bösen in den Comics stets lange Monologe hielten, in denen sie ihr Motiv und alles Übrige gestanden. Wir alle wollen verstanden werden, dachte Doni, denn wir alle sind mutterseelenallein, und wenn ich mich schon so fühle, warum dann nicht auch ein Dealer oder einer von der Camorra?
Diese Theorie krankte an einer gewissen Menschenliebe, und Doni sollte dies in den folgenden Jahren schnell klarwerden. Doch eigentlich hatte sie stets funktioniert.
Also breitete er die Arme aus und sagte: «Hören Sie. Normalerweise würde ich das Wachpersonal anweisen, Sie mit Fußtritten hinauszubefördern, denn wenn es etwas gibt, woran ich glaube, dann an die Notwendigkeit, ungestört für die Menschen zu arbeiten. Doch sei’s drum, es ist fast noch Mittagszeit. Was halten Sie davon, wenn wir in der Nähe ein Brötchen essen gehen? Meine Zeit ist äußerst knapp bemessen, doch da mir Ihr Anliegen sehr dringlich zu sein scheint, will ich mal eine Ausnahme machen.»
«Wirklich?», fragte die Journalistin.
«Ja.»
«Danke! Danke, Sie wissen ja nicht, wie wichtig das ist.»
«Eine halbe Stunde, nicht länger. Und ich werde nichts weiter tun als zuhören.»
«Natürlich.»
Doni nickte. Er drehte sich um, weil er nach seinem Mantel greifen wollte, beschloss dann aber, ihn im Büro zu lassen.
Der Oberstaatsanwalt und die Journalistin gingen zusammen durch die Flure des Justizpalasts.