DIE DATEI, die er im Büro auf dem Bildschirm hatte, war ein Word-Dokument mit dem Namen Testament. Er hatte sie vor einigen Jahren angelegt, und wenn er niedergeschlagen war, brachte er sie mit kleinen Änderungen auf den neuesten Stand.
Mit der Zeit war das Dokument angewachsen, es hatte sich verzweigt und wie eine Wurzel in die Vergangenheit gegraben, so dass es nun einer kleinen, moralischen Autobiographie glich, durchnummeriert von eins bis fünfzehn. Je mehr Doni sich für diese Worte erwärmte und je mehr die Verfügungen in den Hintergrund traten, um Erinnerungen und Gedanken allgemeiner Art über das Leben zu weichen, umso stärker verdrängte die Angst, nicht verstanden zu werden, die praktischen Erwägungen.
Seiner Ansicht nach gab es nur zwei Gründe, weshalb ein Mensch wie er sich daran machte, einen solchen Text zu verfassen. Der eine lag lange zurück, der andere war neueren Datums.
Der erste ging auf das Jahr 1981 zurück. Es waren die letzten Monate in Ancona, und er steckte in den Vorbereitungen für den Umzug nach Gallarate. Elisa war zwei Jahre alt, und Doni war so glücklich, daß er diesen Zustand nicht einmal genau benennen konnte: Freude war er nicht gewohnt. Er war nach Mailand gekommen, um seine Eltern zu besuchen und sich ein paar Wohnungen in der Stadt anzusehen, und hatte die Gelegenheit genutzt, um mit Giacomo Colnaghi zu Abend zu essen, einem alten Studienfreund, der nun Staatsanwalt war.
Sie waren immer eher vertraute Gefährten als dicke Freunde gewesen – unterschiedliche Leben und unterschiedliche Ansichten in fast allen Dingen: der atheistische Doni und der gläubige Colnaghi, der Sportmuffel Doni und der begeisterte Radfahrer Colnaghi – doch nun waren sie hier, verdammt noch mal: zwei Staatsanwälte um die fünfunddreißig, mit Risotto vollgestopft und beschwipst, wie sie Arm in Arm aus einer Trattoria am Naviglio Pavese kamen. Das Glück, für das Doni keinen Namen gefunden hatte, ließ sich mit diesem Spektrum von Details zusammenfassen: die Aquarellfarben des Abends, das verrufene, romantische Randgebiet des Viertels, zwei Katzen, die in einer Hofeinfahrt schliefen, und der erregende Duft des Sommers. Das war das Leben. Das und nichts weiter: ein Freund, eine Tochter, ein Plan.
Sechs Tage später wurde Giacomo Colnaghi von einer Gruppe, die den Roten Brigaden nahestand, mit drei Pistolenschüssen ermordet.
Doni erfuhr es in einer Bar, wo er einen frischgepressten Orangensaft trank, bevor er sich auf den Heimweg machen wollte. Er schaute auf, und in den abendlichen Fernsehnachrichten erschien Giacomos Bild, darunter verlas jemand ein Bekennerschreiben, und Doni schnappte die Worte katholische, christdemokratische Justiz und junge Richter, doch bereits Sklaven der Macht auf, er legte die Hände auf die Aluminiumtheke, und noch bevor er begriff, noch bevor ihm alles klar wurde, spürte er, wie ihm die Tränen über die Wangen in den Mund liefen.
Der zweite Grund lag zweieinhalb Jahre zurück. Doni und Claudia hatten nachts einen Anruf erhalten. In einem ungestümen Englisch, das Doni nur mühsam entschlüsseln konnte, teilte Elisas Mitbewohnerin ihnen mit, dass ihre Tochter einen Unfall gehabt hatte. Elisa sei von einem Auto angefahren worden, erklärte sie, und nun im Krankenhaus, und tja, also, mehr könne sie nicht sagen, doch sie werde so bald wie möglich wieder anrufen.
Doni und Claudia blieben die ganze Nacht auf und hatten nicht einmal die Kraft, sich zu umarmen. Vier Stunden später klingelte das Telefon erneut. Wieder war die Mitbewohnerin am Apparat, und sie versicherte ihnen mit deutlich kräftigerer Stimme, dass alles in Ordnung sei, Elisa habe sich nur ein Bein gebrochen.
In jener Nacht begriff Doni, dass der Tod weder das ruhige Einschlafen war, das seine Eltern dahingerafft hatte, noch dass er den vielen Formen von Gewalt und Grausamkeit entsprach, mit denen er im Laufe der Jahre zu tun gehabt hatte und die er im Rahmen seiner bescheidenen Möglichkeiten angeprangert und eingedämmt hatte. Nie hatte er ihretwegen so gelitten, wie er es nun wegen Elisa tat, als er sich das Schlimmste ausmalte – den Tod unter dem Skalpell und Claudia, die gestützt werden musste, die Überführung des Leichnams nach Italien und dazu die ganze Bürokratie, die er nur zu gut kannte.
In diesen vier Stunden begriff Doni, dass der Tod ein Anruf war, so wie er vor vielen Jahren begriffen hatte, dass der Tod ein Bild im Fernsehen war. In seinem Kopf brach sich die Vorstellung Bahn, dass es etwas geben müsse, was gegen diesen Anruf und gegen dieses Bild ankämpfen konnte. Irgendetwas. Ein Stück seiner selbst, das notfalls überleben und ein richtiges Wort weitergeben konnte.
Er ging zum Anfang des Dokuments und las zum x-ten Mal:
Ich, Roberto Doni, schreibe dies im Alter von fünfundsechzig Jahren nieder. Ich bin Staatsanwalt in Mailand, derzeit am Berufungsgericht, und lebe mit meiner Frau Claudia in einer Wohnung in der Via Orti.
Ich schreibe dies nicht nur, um für den Fall meines Ablebens Verfügungen über mein Hab und Gut zu treffen (abgesehen von einigen Präzisierungen habe ich dem, was das Gesetz vorschreibt, im Grunde nicht viel hinzuzufügen), sondern auch, weil ich meine Gedanken und Überzeugungen festhalten möchte.
Zuallererst möchte ich erklären, dass ich ein rechtschaffener Mann gewesen bin und stets ehrlich gearbeitet habe, gestehe an dieser Stelle jedoch auch meine Grenzen ein: Ungeduld gegenüber jemandem, der etwas nicht versteht; der im Laufe der Jahre gewachsene Wunsch, Karriere zu machen; die Sucht und die Freude, Geld auszugeben, die ich früher überhaupt nicht hatte, und noch einiges, dessen Aufzählung einer größeren Sorgfalt bedürfte.
Doch alles in allem bin ich ein rechtschaffener Mann. Ich versuche stets, meine Sache gut zu machen. Das hängt mit einem Credo zusammen.
Nun kam seine Lieblingsstelle:
Mein Credo ist sehr schlicht. Ich glaube daran, dass es ein Licht gibt, eine Flamme. Diese Flamme ist die Gerechtigkeit, und wir müssen sie mit unseren Händen vor dem Wind schützen. Dieses Bild ist banal, doch ich bin kein Literat, und abgesehen davon bin ich der Ansicht, dass Banalität in diesem Fall eine Tugend ist, ein Weg, um weiterzukommen. Es gibt ein Licht außerhalb von uns, an einem oftmals fernen, doch stets erreichbaren Ort, und dieses Licht heißt Gerechtigkeit.
Sie abstrakt zu definieren ist unmöglich. Wir müssen uns auf ihre konkrete Definition beschränken, also auf die Befolgung der Gesetze, die uns an die Hand gegeben sind.
Gewiss, Recht und Gesetz können beträchtlich auseinanderklaffen, doch in diesen dunklen Zeiten kann die Befragung des ersten im Verhältnis zum zweiten nur zurückstehen: Das hat mich der Terrorismus gelehrt, der mir, unter anderem, auch einen Freund genommen hat.
Weitere Überzeugungen habe ich zu diesem Thema nicht, ausgenommen den Glauben an Helden. Vor Jahren habe ich einen Artikel über Paolo Borsellino geschrieben. Damals war ich Staatsanwalt in den Marken, und die Mafiamorde erschütterten mich tief. Der Artikel wurde in einer Zeitung veröffentlicht. Ich schrieb nichts Weltbewegendes, ich wollte einfach darauf aufmerksam machen, wie wichtig Helden für die Welt sind. Sie sind notwendig. Das ist schon alles: Die Welt muss gerettet werden, und dies im gegebenen Augenblick.
Das Telefon klingelte, und unwillkürlich schloss Doni die Datei.
«Hallo?»
«Ciao, Roberto, hier ist Salvatori.»
«Michele, wie geht es dir?»
«Mir? Gut», sagte Salvatori. «Und dir?»
«Ich kann nicht klagen. Was treibst du so?»
Salvatori ließ einen Moment verstreichen, so als wüsste er nicht, was er antworten sollte. «Das Übliche, Robbe’, was soll ich schon treiben? Ich arbeite. Wie jeder, der eine mehr, der andere weniger. Jedenfalls bin ich garantiert nicht mit meinem Sohn unterwegs, um Goldbrassen zu angeln, was mir sehr gefallen würde. Es würde mir übrigens auch sehr gefallen, überhaupt einen Sohn zu haben.»
Doni lachte auf und versuchte, Öl ins Feuer der Unterhaltung zu gießen. Das brauchte er jetzt: den alten Salvatori, ironisch, zynisch, jammernd. Gebt mir mehr Salvatoris.
«Weißt du, Michele, hat man Kinder, hat man Sorgen.»
«Ja, ja, schon gut, Kinder und Sorgen, mir als Junggeselle geht es natürlich blendend, und ich kann das Leben genießen. Hör mal», fuhr er fort, «ich rufe dich an, weil ich zu einer Sache deine Meinung wissen möchte.»
«Was ist denn los?»
«Falls du in einer freien Minute mal zu mir raufkommen könntest, erkläre ich es dir.»
«Ist es was Ernstes?»
«Robbe’, wenn es ernst wäre, hätte ich es dir gesagt. Es geht nur um einen Rat.»
Doni versuchte, die Enttäuschung in seiner Stimme zu verbergen.
«Gut. In einer halben Stunde schaue ich mal bei dir rein.»