SALVATORIS ZIMMER WAR das genaue Gegenteil seiner Person: winzig, hell, aufgeräumt. Er bot Doni ein Bonbon an. Der lehnte ab und setzte sich nicht.
«Also?», fragte er.
«Also», sagte Salvatori lang ausgestreckt auf seinem Lehnstuhl. «Heute Morgen war ein junger Kerl von der Guardia di Finanza bei mir. Hier die Fakten: Vor einer Woche war dieser Typ – einundzwanzig, höchstens zweiundzwanzig Jahre alt – bei einer Steuerprüfung bei einem Geschäftsmann aus Bollate dabei. Er, noch zwei andere und ein Brigadiere. Dabei kam heraus, dass der Geschäftsmann ein kleines Loch in seiner Buchführung hatte: etwa die Hälfte seines Gewinns.»
«Wie ungewöhnlich.»
«Nicht wahr? Und was hat der Brigadiere natürlich getan? Zunächst hat er dem Kerl ein bisschen Angst eingejagt, dann hat er ihm zu verstehen gegeben, dass man sich ja eigentlich auch einigen könnte.»
Doni nickte.
«Sie beginnen also zu feilschen, und am Ende kassiert der Brigadiere zehntausend Euro von ihm. Er nimmt die jungen Kerle beiseite und sagt: ‹Tausend für jeden von euch, der Rest ist für mich.› Die anderen beiden reiben sich die Hände, und mein Bursche gerät in Panik. Doch er sagt keinen Mucks. Aus Angst, als Blödmann dazustehen. Schließlich nimmt er das Geld, bringt es nach Hause und versteckt es im Schrank.» Salvatori wickelte ein Bonbon aus und steckte es sich in den Mund. «Nach einer Woche hält er es nicht mehr aus und gesteht alles seinem Vater, der ein Bekannter von mir ist und ihm rät, mich aufzusuchen. Ich höre mir seine Geschichte an, schüttle den Kopf und sage ihm, er soll heute Nachmittag wiederkommen, weil ich erst über eine Lösung nachdenken muss.» Er lutschte sein Bonbon und hob das Kinn in Donis Richtung. «Was würdest du ihm sagen?»
«Was gibt es da schon zu sagen? Er hat sich selbst reingeritten. Das Einzige, was er hätte tun können, wäre gewesen, das Geld abzulehnen und den Mund zu halten. Du weißt doch, wie das bei denen läuft, oder?»
«Ich weiß, ich weiß. Das ist es ja gerade.»
«Also bleibt wenig zu tun. Du musst Klage gegen den Brigadiere erheben.»
«Aber das wird dem Jungen schlecht bekommen.»
Doni seufzte.
«Tja, darauf kannst du Gift nehmen.»
«Sie werden ihm das Leben zur Hölle machen.»
«Mehr noch. Er hat seine Kameradschaft aufgekündigt, und solche Nachrichten verbreiten sich im Nu. Falls er Aussicht auf eine Beförderung hatte, ist es damit nun vorbei, und wahrscheinlich zwingen sie ihn sogar, den Dienst zu quittieren.»
Salvatori kratzte sich die Wange.
«Das tut mir wirklich leid, der arme Kerl. Naiv und gutmütig. Seit einer Woche kann er nicht mehr schlafen, und seine Freundin hatte bereits einen Nervenzusammenbruch.»
«Leider gibt es keine andere Lösung.»
«Na ja, theoretisch gibt es eine.»
Doni schob kaum merklich die Lippen vor.
«Theoretisch», fuhr Salvatori fort, «könnte ich die Sache unter den Tisch fallenlassen. Ich könnte dem Jungen raten, den Mund zu halten und das Geld für wohltätige Zwecke oder sonst was zu spenden.»
«Bist du verrückt geworden?»
«Komm schon, er hat das nicht verdient. Jeder macht mal einen Fehler.»
«Ich hoffe, das ist ein Witz.»
«Hör mal, Roberto, ich weiß, wie du darüber denkst. Ich weiß es. Und du hast ja recht. Aber mal kann man doch auch ein Auge zudrücken, meinst du nicht?»
«Nein, natürlich nicht! Sobald etwas zur Anzeige gebracht ist, kann nichts im Himmel oder auf Erden es wieder aus der Welt schaffen. Du musst diesen Brigadiere sofort anrufen. Ruf ihn an.»
Salvatori seufzte.
«Du würdest also nicht nach einem Kompromiss suchen.»
«Was für einen Kompromiss?» Doni war laut geworden. «Wollten wir nicht mit diesen italienischen Verhältnissen aufräumen? Wollten wir nicht mit den Kompromissen in allen Bereichen aufräumen, mit diesem Eine-Hand-wäscht-die-andere? Seit wann sind wir denn so, Michele? Dass wir uns von korrupten Beamten verarschen lassen?»
«Das meine ich nicht. Ich versuche nur, diesen Jungen zu retten und das kleinere Übel zu finden.»
«Es gibt kein kleineres Übel, Michele. Das kleinere Übel ist eine Ausrede. Ein Trick. Man kann sich keine Privatmathematik des Bösen zurechtlegen, verdammt noch mal.» Er bemerkte, dass sich das anhörte wie ein Satz aus seinem Testament. «Hör mal, es tut mir leid für diesen Jungen, doch er ist an einer schweren Straftat beteiligt. Was wollen wir tun? Zulassen, dass das immer so weitergeht? Dass er weiter Geld nimmt? Mir scheint, korrupte Finanzbeamte haben wir schon genug.»
«Ist ja gut», sagte Salvatori. «Ich wollte ja nur deine Meinung hören. Mach doch nicht so ein Drama daraus.»
An diesem Punkt wäre Doni Salvatori am liebsten an die Gurgel gegangen, so lang und breit, wie der da in seinem Stuhl lümmelte. Du blöder Scheißkerl, ist dir eigentlich klar, was du da sagst? Ist dir klar, dass dieses Land wegen solcher Überlegungen vor die Hunde geht? Nicht die Taten sind das Problem. Die Gedanken sind es, die Gedanken. Sie ziehen alles andere nach sich. Wenn jemand nachdenkt und sich dann doch arrangiert, ist das tausendmal schlimmer; es ist ein Verbrechen, das nicht einmal bestraft werden kann, eine Abscheulichkeit, die alle Mittel der Justiz übersteigt, etwas, was zum Himmel schreit.
Er atmete tief durch und versuchte, sich zu beherrschen.
«Es gibt allen Grund, ein Drama daraus zu machen», sagte er.
Salvatori breitete die Arme aus.
«Es ist nur so bedauerlich, solche Dinge sind an der Tagesordnung, und ein armer Teufel muss dann dafür büßen.»
«Gerade deshalb kann es sich ein Staatsanwalt nicht erlauben, eine Straftat mit einer anderen zu vertuschen. Ist das klar? Ausnahmen immer, Fehler nie. Anständigkeit ist gefragt, verflucht noch mal. Anständigkeit.»
«Aber ja doch, ich habe verstanden. Du hast ja recht.»
«Hast du das wirklich verstanden?», wiederholte er.
«Ja doch!»
«Michele», sagte Doni und schaute ihn fest an. «Ich sag’s dir nur einmal. Wenn du ihn nicht anrufst, sorge ich dafür, dass du Schwierigkeiten bekommst. Ist das klar?»
Salvatori hielt seinem Blick nur einen kurzen Moment stand.
«In Ordnung», sagte er. «Ich rufe ihn gleich an.»
Doni machte im Waschraum auf seiner Etage halt und trank einen Schluck Wasser aus der Leitung. Er war verschwitzt und müde. Die lädierte Keramik des Waschbeckens bildete eine sonderbare Landkarte aus Rissen. Doni erblickte darin das Profil eines Mannes.
In seinem Büro schloss er die Tür hinter sich, blieb einen Moment dagegengelehnt stehen und warf einen Blick in die Runde, als wollte er sich wieder mit dem Raum vertraut machen. Über seinem Schreibtisch hingen zwei Bilder. Das eine war eine weitere Reproduktion von La Tour: Der Engel erscheint dem heiligen Joseph im Traum.
Der Heilige war ein kahlköpfiger Greis mit weißem Bart, der auf der rechten Bildhälfte schlief. Daneben streckte ihm ein kindlicher Engel mit dem Rücken zum Betrachter die Arme entgegen. Seine rechte Hand berührte den Bart, die linke war mit der aufwärtszeigenden Handfläche zu einer eleganten Bewegung erhoben. Zwischen den beiden veränderte die übliche Kerze die Lichtverhältnisse von Grund auf. Die Gestalt des Engels verschwand im Hintergrund, und nur das Gesicht war zu erkennen. Die gesamte Darstellung wirkte wie mit Kupfer übergossen.
Das andere Bild war ein Schwarzweißfoto von Colnaghi. Jackett und Krawatte, ein etwas schiefes Lächeln und eine Brille mit schwarzem Rand. Er sah älter aus, als er war. Das typische Gesicht eines Christdemokraten. Darunter stand nur: GIACOMO COLNAGHI 1943–1981.
Doni setzte sich an den Schreibtisch und googelte erneut «Elena Vicenzi». Er fand die Reportage wieder, die online im Espresso erschienen war, und begann zu lesen. Elena hatte einen schlichten, beinahe unpersönlichen Stil, und doch verrieten ihre Sätze ein dringendes Mitteilungsbedürfnis.
Doni las den Artikel zu Ende, markierte ihn vollständig und speicherte ihn als Word-Dokument. Dann öffnete er die Testament-Datei.
Da wären wir wieder, dachte er, als er den ersten Satz auf dem Bildschirm las: Ich, Roberto Doni, schreibe dies …
Er ließ eine Minute verstreichen, dann zog er seine Brieftasche hervor, entnahm ihr das rote Quadrat mit der Telefonnummer der Journalistin, hob den Hörer ab und wählte die Nummer.