ELENA PARKTE AN einer Tankstelle, zehn Meter vor der Überführung. Sie startete den Motor. Vor ihnen fuhr ein alter Mann auf einem Fahrrad, die Ellbogen abgespreizt wie Flügel. Das Licht war schwächer geworden.
«Soll ich Sie nach Hause fahren?», fragte die Journalistin.
«Das ist nicht nötig», sagte Doni und schaute auf die Uhr. «Es genügt, wenn Sie mich an der nächsten U-Bahn-Station absetzen.»
Elena kramte in ihrer Handtasche und nahm ihr Telefon heraus. Sie fuhr mit dem Daumen über das Display, als wollte sie Staub wegwischen, dann steckte sie es wieder ein.
«Hören Sie», sagte sie. «Wenn es Ihnen recht ist … Also, wenn es Ihnen recht ist und Sie es nicht eilig haben, würde ich Ihnen die Via Padova gern zu Fuß zeigen.»
«Wie bitte?»
«Ja, also, ich würde gern einen Spaziergang zum Piazzale Loreto mit Ihnen machen. Das dauert höchstens eine Viertelstunde. Nur, um Ihnen ein bisschen von der Straße und ihren Leuten zu zeigen. Die Atmosphäre.»
Doni war hundemüde, und der Gedanke, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, drängte sich immer stärker auf. Es war nun etwas Körperliches, ein Alarm der Drüsen, der einen Druck im Hals verursachte und Doni nach Hause trieb. Meine Frau wartet auf mich, ich muss noch zu Abend essen.
«Ich weiß nicht, wozu das gut sein soll», sagte er.
Elena suchte Zuflucht in ihrem Lächeln.
«Sagen wir, es dient der Vervollständigung der Untersuchung.»
«Es gibt überhaupt keine Untersuchung», sagte Doni. «Die beiden haben nichts Verwertbares gesagt, sie haben nur bestätigt, dass Khaled ein anständiger Kerl ist.»
«Aber das ist doch immerhin etwas, oder?»
«Jeder kann von jedem behaupten, er sei ein anständiger Kerl.»
«Tja, Sie haben sie ja nichts weiter gefragt.»
«Sie wussten nichts weiter. Das ist doch offensichtlich.»
«Sie haben gesagt, was sie wissen.»
«Und was sie wissen, ist nicht einmal der Anflug eines Beweises.»
Sie stützte sich auf das Lenkrad.
«Ja, ja, ich weiß.»
Sie schwiegen und schauten durch die Windschutzscheibe auf die Straße.
«Dieses Viertel», fuhr sie fort, «ist mehr als die Polizeimeldungen über es.»
«Inwiefern?»
«Sie, zum Beispiel, was wissen Sie über die Via Padova?»
Doni breitete die Arme aus.
«Das, was jeder weiß. Immigranten, Armut, Drogenhandel, die Einsatzwagen der Armee auf der Straße.»
«Genau. Die Polizeimeldungen. Aber da ist noch viel mehr, Dottore. Die Fakten sind nur ein Schleier, sie kommen und gehen, das Leben der Menschen liegt aber darunter. Auch ich bin anfangs auf sie hereingefallen. Journalisten glauben, dass sich die Wahrheit in ihnen erschöpft, in dem, was geschieht, und in der Zeit, in der es geschieht. Man braucht es nur zu berichten, und schon ist die Aufgabe erledigt. Doch so ist es nicht.» Sie kratzte sich die Wange und schaute ihn an. «So ist es nicht, da ist noch viel mehr. Gehen Sie mit mir bis zum Loreto? Um mehr bitte ich Sie nicht.»
Sie gingen los. Mit langsamen Schritten. So wie er es in Mailand immer getan hatte, in einem anderen Mailand als diesem, in seiner Jugendzeit, als spazieren gehen hieß, ins Stadtzentrum zu gehen, und vom Zentrum in die unmittelbare Umgebung, hinter der spanischen Mauer, von zu Hause zur Universität und wieder zurück.
Was es zu sehen gab, begriff Doni erst, als auf der Höhe des Trotter Parks eine Frau einen chinesischen Jungen auf Neapolitanisch beschimpfte, weil er ihr auf dem Zebrastreifen mit dem Fahrrad die Vorfahrt genommen hatte. Zwei alte Peruaner lachten.
Und sonst?
Da war dieser Duft. Das Besondere, das ihm entgangen war. Mailand war keine Stadt, die man mit den Sinnen durchstreifte, war nicht die Naturkulisse für einen Spaziergang, das hatte auch Salvatori zu ihm gesagt. Mailand war ohne Aroma, geruchlos – ein Ort, der aus Verweigerungen bestand. Eigentlich liebte er die Stadt genau deswegen: Weil sie alles Mögliche und zugleich nichts war.
Doch die Via Padova entzog sich dieser Theorie. Er war irgendwann mit Claudia in Südfrankreich gewesen. Sie waren zwischen Marseille, Montpellier, Perpignan und Toulouse umhergereist. Und sie hatten sich an den Düften berauscht, noch bevor sie die Bilder genossen. Es war, als führte jeder Windhauch eine ganz bestimmte Nuance mit sich, so als wäre in jedem Sauerstoffmolekül ein Samen verborgen. Jetzt war es nicht viel anders.
Er sah, wie sich ein Marokkaner oder Algerier sein T-Shirt auszog, um einen anderen Mann zum Faustkampf herauszufordern. Die beiden Körper in der Abendfrische schienen zu leuchten. Sie lebten und pulsierten mehr als alles andere. Rings um sie her bildete sich eine Menschentraube, doch die meisten Leute begnügten sich mit einem kurzen Blick, bevor sie weitergingen. Die zwei Männer griffen sich mit kurzen Schlägen gegen die Brust an. Dann hörten sie auf und musterten sich. Er und Elena waren schon an ihnen vorbei, so dass Doni sich umdrehen musste. Der Querschnitt der Straße wie ein Altarbild. Wo war die Polizei geblieben, die er soeben noch gesehen hatte?
Sie gingen weiter. An einer Verkehrsinsel ein parkendes Auto, aus dem laute Musik drang. Drei Südamerikaner ließen eine Flasche Heineken kreisen. Eine Frau, die zu ihnen gehörte, deutete mit ihrem dicken Bauch wackelnd einige Tanzschritte an und brach in Lachen aus. Ein alter Mann führte seinen Hund spazieren. Zwei junge Mädchen saßen rauchend vor einer Wäscherei und schauten in den Himmel.
Er dachte an seine Cousine Lara. Mit zweiundfünfzig Jahren hatte sie angefangen, Anxiolytika zu nehmen. Von einem Tag auf den anderen hatte sie Angst vor anderen Menschen bekommen. Vor egal wem. Es fiel ihr schwer, das zu akzeptieren, denn sie hatte immer ein normales Leben geführt. Sie war Sekretärin in einer Bank. Verheiratet, drei Kinder. Von heute auf morgen hatte sie Angstattacken bekommen. Es liege an den Leuten, sagte sie. An den Menschen: den Menschen von Mailand. Sie konnte diese Geschichte nicht einordnen, sie nicht benennen, also nahm sie Anxiolytika. Dann ging es vorbei.
Ein Dönerladen. Rote Tische im Freien, ein Mann rauchte unter dem Plastikvordach Wasserpfeife. Teller voller Fleisch und Gewürze, Teegläser. Der Fleischer von nebenan schrie dem Besitzer etwas auf Arabisch zu.
Ein südamerikanisches Restaurant, geführt von Chinesen.
Ein bangladeschisches Lebensmittelgeschäft. Dort räumte ein Mann eine Gemüsekiste ins Ladeninnere. Aus dem von weißlichem Neonlicht kaum erleuchteten Dunkel sah Doni das Rot der Paprika blitzen. Weiter.
Die Häuserfassaden wirkten salzzerfressen und die Balkons verwahrlost, doch es lag etwas Würdevolles in dieser Vernachlässigung. Der ganze Ort war anders, und Doni musste wieder an den Justizpalast denken – diese beiden Orte existierten in ein und derselben Stadt.
Auf der linken Straßenseite ein weiteres Lebensmittelgeschäft. Drei junge Burschen saßen vor dem Schaufenster, und der Besitzer reichte ihnen Bier heraus. Das erstaunte Doni zunächst, doch dann sah er, dass die Scheibe zerbrochen war. Es gab sie gar nicht. Der Besitzer verkaufte praktisch auf der Straße.
Als sie am Piazzale Loreto ankamen, nahm Doni seine Tasche von der Rechten in die Linke und gab der Journalistin die Hand. Mit einem kindlichen Lächeln sah sie ihn an. Sie hatten kein Wort mehr gewechselt.
«Und?», sagte sie.
«Was – und?»
«Hat es Ihnen gefallen?»
Doni zuckte mit den Schultern. «Es unterscheidet sich vom Rest der Stadt, das ohne Frage.»
«Es ist eine Welt, die sich nur langsam erschließt.»
«Ich habe eine Straßenschlägerei gesehen, das ist nicht gerade die Art, mit der man mich überzeugen kann.»
Sie lächelte wieder, ohne erkennbaren Grund.
«Na gut. Vielleicht haben wir ja noch eine zweite Chance.»
«Wer weiß. Jetzt muss ich aber wirklich gehen. Auf Wiedersehen.»
Sie schüttelten sich die Hand.
«Nur eines noch, Dottore», sagte sie.
«Ja?»
«Könnten Sie mich duzen?»
«Warum denn?»
«Es ist mir unangenehm, wenn Sie mich siezen.»
Doni seufzte.
«Na gut, Elena.»
«Danke. Schon viel besser.»
«Ich muss jetzt wirklich los.»
«Ja. Natürlich. Entschuldigen Sie, dass ich Sie so lange aufgehalten habe.» Sie fügte hinzu: «Ich hoffe, dieser Abend war nicht umsonst.»
Doni suchte nach einer Antwort. Am Ende sagte er nichts.
«Können wir wenigstens sagen, dass Sie auf unserer Seite sind?», fragte Elena.
Verblüfft starrte Doni sie an.
«Wir können überhaupt nichts sagen.»