«UND NUN», sagte der Alte, «bitte ich für einen Moment um Ihre Aufmerksamkeit. Hören Sie? Meine Damen und Herren? Ich bitte für einen Moment um Ihre Aufmerksamkeit!»
Paoli, der Generalstaatsanwalt, war aufgestanden und schaute lächelnd in die Runde. Er schlug mit der Gabel gegen sein Glas, so dass die Richter und Staatsanwälte von ihren Tellern aufblickten. Recalcati schaute Doni von der anderen Seite der Tafel verschwörerisch an und verzog das Gesicht.
Seit Paoli Chef war, veranstaltete er einmal im Jahr ein Essen in dieser Trattoria in der Ebene von Pavia. Er glaubte, das fördere den Zusammenhalt des Teams.
«Zunächst einmal herzlichen Dank, dass Sie gekommen sind», sagte er. «Wie Sie wissen, liegt mir viel an unserem gemeinsamen Essen. Ich bin kein großer Redner, weshalb ich mich darauf beschränken möchte, Ihnen zu sagen, dass wir auch dieses Jahr gute Arbeit geleistet haben, trotz der unzähligen Steine, die uns von der Regierung und anderen in den Weg gelegt werden. Doch um Himmels willen, mehr sage ich nicht, sonst werde ich noch abgesägt und es heißt, ich sei ein kommunistischer Spinner.» Einige deuteten aus purem Mitleid ein Lachen an. «Doch darüber wollte ich gar nicht reden. Darüber reden wir tagtäglich schon mehr als genug. Heute will ich Ihnen meinen Enkel Davide vorstellen, eine Freude, die ich gern mit Ihnen teilen möchte.»
Für einen kurzen Moment wurde es sehr still im Innenhof des Restaurants, und allen wurde klar, zu wem der Junge mit dem Downsyndrom gehörte, der neben dem Generalstaatsanwalt saß. Der Enkel stand auf. Er hatte Schlitzaugen, ein plattgedrücktes, ausdrucksloses Gesicht und dünnes, fahlblondes Haar, das ihm in die Stirn fiel.
Davide war dank der Verbindungen seines Großvaters in einer renommierten Klinik in Frankreich behandelt worden. Ihr Motto lautete, wie Paoli begeistert erzählte: Normaler als die sogenannten Normalen. Man garantierte eine Wiederherstellung der kommunikativen und geistigen Fähigkeiten zu neunzig Prozent: Ihr Junge, zitierte Paoli weiter, wird in der Lage sein, ein glückliches Leben zu führen.
Als Beweis für die erzielten Resultate hatte man Davide eine Reihe von Behindertenwitzen beigebracht. Das war der letzte Schritt, das Sahnehäubchen. Wer über seine Probleme lacht, hat sie schon hinter sich, wurde von Seiten der Klinik beharrlich behauptet.
Nun legte der Chef seine Hand auf die Schulter des Jungen und forderte ihn auf zu sprechen. Davide Paoli betupfte sich das Kinn mit der Spitze seiner Serviette und begann unbekümmert zu erzählen: «Drei Behinderte in einer Klinik. Der Arzt beschließt, sie auf die Probe zu stellen, um zu sehen, ob sie wirklich geheilt sind. Er schickt sie in drei separate Zimmer und gibt jedem ein Kaninchen, um zu sehen, wie sie es behandeln …»
Tiefste Stille. Nicht einmal ein Husten war zu hören. Doni schaute zu dem Stückchen Landschaft auf, das sich hinter der Pergola auftat. Ich bin gar nicht hier, sagte er sich. Das hier passiert gar nicht.
Als der Witz zu Ende war, brach Paoli in schallendes Gelächter aus. Sein Enkel setzte sich wieder und begann mit viel Geschick das Fleisch zu zerschneiden. Jemand lachte gequält. Dellera klatschte. Recalcati fing Donis Blick auf, und es war, als schaute er in einen Spiegel.
Paolis Stellvertreterin, eine Frau mit Adlernase aus dem Friaul, die in der Zeit der Terroranschläge mit Colnaghi zusammengearbeitet hatte, trat ihre Zigarette im Gras aus und murmelte: «Der hat ja nicht mehr alle Tassen im Schrank.»
Als der Kaffee kam, lockerte sich die Tafelrunde. Einige Richter in Hemdsärmeln hockten auf den Fersen zwischen zwei Stühlen. Andere vertraten sich auf dem Rasen vor dem Restaurant die Beine, und manch einer warf einen Blick in das kleine Betonbecken, in dem ein Schwarm Forellen schwamm. Der Nachmittag kühlte sich ab. Auf der leeren Landstraße raste ein rotes Auto dem flachen, dunstigen Horizont der Ebene entgegen.
Dellera kam mit einem Zahnstocher im Mund und einem Glas Grappa in der Hand zu Doni.
«Drei Richter an einem Gericht, aber man muss erst sehen, ob sie wirklich geheilt sind», sagte er.
«Du liebes bisschen.»
«Paradox, oder?»
«Ich weiß nicht, was ich sagen soll.»
«Wer hätte das gedacht, von Paoli.» Er trank einen Schluck Grappa. Der Geruch war so stark, dass er bis an Donis Nase drang. «Eigentlich bezeichnen wir ja jeden als verrückt.»
«Mehr oder weniger.»
«Was für ein Leben dieser arme Kerl wohl geführt hat?»
«Ein schlimmes, nehme ich an.»
«Aber man muss schon sagen, dass er jetzt ziemlich normal wirkt.»
Zusammen beobachteten sie, wie sich der Junge unbefangen bewegte und den Freunden seines Großvaters flüchtig zulächelte. Sein Gesicht verriet keine besondere Regung. Auch kein Unbehagen oder eine wie auch immer geartete Einsamkeit. Der Geburtsfehler war innerlich ausgemerzt worden, nur die körperlichen Anzeichen blieben erhalten wie ein überflüssiger Fluch.
«Würde mir so was passieren, ich würde mich umbringen», sagte Dellera.
«Mein Gott, wie zynisch du bist.»
«Ach was. Ich eigne mich bloß nicht besonders zum Vater.» Er trank noch einen Schluck und fragte dann: «Übrigens, wie läuft eigentlich das Berufungsverfahren von diesem Kerl?»
«Welchem Kerl?»
«Dem Onkel, der das Mädchen vergewaltigt hat.»
«Ach so. Gut. Also, ich arbeite dran.»
«Herrje, wenn es etwas gibt, was ich wirklich nicht mit der nötigen Distanz behandeln kann, dann sind es Pädophile.»
«Ja, es ist schrecklich.»
«Und sonst?»
«Und sonst geht alles seinen Gang», sagte Doni und trat ein paar Schritte beiseite. «Entschuldige, aber ich möchte ein bisschen allein sein.»
«Probleme?»
«Nein. Nur Lebensüberdruss.»
«Ganz der alte Doni», sagte Dellera und hob sein Glas. «Na dann prost.»
Doni ging über den Rasen und hielt dabei Abstand von einer kleinen Gruppe. Er betrachtete die sich in der Ferne verlierenden Felder und die Flecken der Robinien, die hier und dort wie grüne Temperatupfen aufleuchteten. Er hatte einen Kollegen um eine Zigarre gebeten und rauchte sie nun in aller Ruhe. Bei jedem Essen bat er jemanden um eine Zigarette oder eine Zigarre und rauchte dann. Nicht dass es ihm besonders schmeckte, doch ihm gefiel die Ästhetik der Geste, die Situation.
Da spürte er einen festen Griff an seinem linken Arm. Er drehte sich um. Es war Paoli.
«Na, Doni, wie geht es uns?», erkundigte er sich.
«Alles bestens.»
«War das Essen gut?»
«Wie immer.»
«Eine deftige, aber gute Küche, was? Kommt aus meiner Heimat, Piacenza.»
«Ja, ich muss zugeben, dass sie für mich ungewohnt ist.»
Paoli bohrte ihm einen Finger in die Brust. «Das glaube ich gern, so dünn, wie du bist.» Dann lachte er und fügte hinzu: «Ach, und denk an die Tagung in Rom, ja?»
«Wie bitte?»
«Die Tagung. Also bitte, sag jetzt nicht, du hast sie vergessen.»
Doni erinnerte sich an den Auftrag.
«Nein, Exzellenz, nur keine Sorge. Nächsten Donnerstag.»
«Genau. Man legt großen Wert darauf, weißt du.»
«Ja, ich habe schon im Sekretariat Bescheid gesagt, dass man mir einen Flug buchen soll.» Das war gelogen. «Und auch das Hotel.» Auch das war gelogen. Er nahm es sich nun im Stillen vor.
«Na wunderbar.» Paoli strahlte ihn an. «Bist du noch deprimiert wegen des Postens in Varese?»
«Ach was, ich bitte dich. Vielleicht ist es am Ende sogar besser so. Zwischen den Anhängern der Lega Nord hätte ich mich nicht gerade wohl gefühlt.»
«Eben. Und lass mal, das nächste Mal bist du an der Reihe.»
Doni zuckte mit den Schultern und lächelte.
«Du warst immer einer der Besten, hier bei uns.»
«Danke, Exzellenz. Ich versuche nur, meine Sache gut zu machen.»
«Richtig so. Sei unbesorgt, du wirst dich aus diesem Jammertal schon noch aufschwingen können.»
Doni nickte. Paoli klopfte ihm auf die Schulter und schaute zur Tafel hinüber.
«Und, was hältst du von meinem Enkel?», fragte er.
«Ein toller Kerl. Wirklich, toll.»
«Nicht wahr? Ich bin sehr stolz auf ihn.»
«Ja, es ist unglaublich.»
«Du hättest sehen sollen, welche Fortschritte er im letzten Jahr gemacht hat. Ich freue mich, dass ich ihn hierher mitgenommen habe. Er hat bei Tisch nicht mal gekleckert. Früher war das immer eine Katastrophe.» Er nickte gedankenverloren. «Diese Klinik kostet ein Vermögen, doch sie ist gut, das muss man schon sagen. Er kann jetzt in die Gesellschaft zurück.»
Doni schaute diesen kleinen, untersetzten Glatzkopf an. Er war ein ausgezeichneter Generalstaatsanwalt. Ein bedeutender, kluger Mann. Warum also gab er seinen Enkel vor den Kollegen dermaßen der Lächerlichkeit preis? Merkte er nicht, wie melodramatisch er war?
Doch vielleicht, so überlegte Doni weiter, war das der Preis der Macht. Jeder Mann in einer verantwortungsvollen Position muss seinen wunden Punkt verbergen – den Winkel seines Herzens, wo die Welt ihn treffen und ins Banale ziehen könnte.
Irgendeine Form der Liebe, auch die selbstverständlichste. Irgendeine Form von Verwundbarkeit.