DONI MACHTE SICH auf den Weg zurück ins Büro und bat Elena, im Bagatella auf ihn zu warten. Er gab ihr die Adresse und empfahl ihr, Renato, dem Barmann, zu sagen, dass sie eine Bekannte von ihm sei.
Im Justizpalast schaute Doni noch kurz in der Kanzlei des Berufungsgerichts vorbei, um sich eine Akte zu holen. Er konnte die Kanzlei nicht ausstehen, doch die Unordnung in diesen Räumen beruhigte ihn ein wenig. Überall waren Aktenbündel mit der stillschweigenden Übereinkunft verstreut, sich jeweils nicht darum zu scheren. Es war ein Albtraum fortwährender Katalogisierung, ein Reich ewiger Veränderung und Überlagerung. Für jedes Jahr eine andere Farbe und dazu das sehr konkrete Gefühl, dass das Chaos umso größer wurde, je weiter man voranschritt und den Dingen auf den Grund ging.
Daher beschloss er, die Akte in seinem Büro durchzusehen, doch es gelang ihm nicht, sich zu konzentrieren. Er öffnete die Testament-Datei, las sich den Passus über die Gerechtigkeit noch einmal durch und ging dann in die Bar des Justizpalastes. Dort war niemand, den er kannte. Er holte sich einen Kaffee und aus dem Automaten einen Schokoriegel, den er auf der Treppe auswickelte. Er ging bis in den Keller hinunter. Haufenweise kaputte PCs. Fotokopierer, von denen man nicht wusste, wie man sie entsorgen sollte. Kalkfleckige Gänge, die an Metalltüren endeten. Feuchtigkeitsflecke.
In der Mitte eines leeren Raumes blieb er neben verchromten Rohren stehen. Er sprach Vorname und Nachname laut vor sich hin, und erst, als er das Echo hörte, bemerkte er, wohin er ohne jede Absicht geraten war.
Ein unter einem ständigen Durcheinander angehäuftes Durcheinander. Der wimmelnde Justizpalast, der ewig einsturzgefährdet war, aber doch nie einstürzte.
Als er ins Bagatella kam, saß Elena in einer Ecke und las den Corriere della Sera, ein Notizbuch neben sich und einen Stift zwischen den Fingern. Die Bar war gut besucht, Renato steuerte auf Doni zu.
«Ihre Verwandte ist schon da», sagte er.
«Danke», sagte Doni. «Wir sind aber nicht verwandt.»
«Ach so, na dann.»
Doni fiel ein, dass Renatos Sohn Krebs hatte.
«Wie geht es Ihrem Sohn?»
«Schlechter. Kaum noch Hoffnung.»
«Das tut mir sehr leid.»
«So ist das eben.»
Sie schwiegen einen Moment, dann setzte sich Doni zu Elena an den Tisch. Sie faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den Stuhl neben sich.
«Also», sagte sie.
«Also.»
«Was machen wir jetzt?»
Doni atmete tief durch.
«Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll.»
«Aber Sie haben doch gehört, was Mohamed erzählt hat. Es liegt auf der Hand, dass Khaled unschuldig ist. Ich rufe jetzt Yasmina an und frage, ob sie das Geld bekommen hat.»
«Das beweist noch gar nichts.»
«Aber natürlich tut es das! Machen Sie Witze?»
Doni presste seine Hände auf den Tisch, wie um seine letzten Kräfte an einem festen Punkt zu sammeln, sie zu orten, zu verdichten und real werden zu lassen.
«Elena, zum letzten Mal. Wir befinden hier nicht darüber, wer wen in einer Straßenschlägerei verprügelt hat, und weder Khaled noch Mohamed sind mir besonders ans Herz gewachsen. Meine Situation ist viel komplizierter.» Er erinnerte sich an alles, was ihn bis dorthin gebracht hatte, und er spürte Besorgnis und dann Angst, etwas, das er bisher so deutlich noch nicht empfunden hatte, ein Gefühl außer Kontrolle, als wäre das letzte Wort schon gesprochen und als wäre er geliefert, dazu verurteilt, sich zu entscheiden, während er noch jede Entscheidung hätte umgehen können. Er versuchte sich zu beherrschen und verbarg seine Hände unter dem Tisch.
«Meine Situation ist sehr kompliziert», wiederholte er. «Ich bin im öffentlichen Dienst und muss mich an die Vorschriften halten, auch wenn dir dieses Wort nicht gefällt und ich dir schon ansehe, was du antworten möchtest. Aber ich habe darüber zu befinden, ob und wie es weitergeht. Wir können noch so viele Details in der Hand haben, und es ist trotzdem nicht gesagt, dass wir uns für den richtigen Weg entscheiden. Ausnahmen immer, Fehler nie.»
Elena schaute die fleckige Kaffeetasse an, die vor ihr stand. Doni sah, dass die Lippen der jungen Frau bebten, und für einen Moment glaubte er, sie würde sofort losschreien.
Stattdessen sagte sie: «Ich habe Ihren Artikel über Borsellino gelesen.»
«Wie bitte?»
Schweigen. Die Luft flimmerte.
«Ich wollte es Ihnen längst sagen. Sie haben für eine Lokalzeitung in Ancona einen Artikel über Borsellino geschrieben. Ich weiß nicht, wie Sie das geschafft haben, doch vermutlich ist es für einen Staatsanwalt nicht so schwer, auf die Seite eins einer Lokalzeitung zu kommen, jedenfalls war es ziemlich leicht, den Artikel im Netz zu finden. Er muss jemandem gefallen haben. Ich zitiere: Und besonders in solchen Fällen, in Situationen, in denen nicht nur Recht und Gesetz, sondern die gesamte Moral fundamental bedroht sind, treten Helden auf den Plan. Was für traurige Zeiten, in denen der Held jemand ist, der Recht sprechen soll und in einer Demokratie stirbt. Was für traurige Zeiten, in denen der Held ein ermordeter Richter ist.»
Doni staunte nicht schlecht.
«Du hast das auswendig gelernt?»
«Nur diese Sätze. Das ist ein guter Artikel, Dottore, aber gestatten Sie mir eine Bemerkung. Sie verlassen sich zu sehr auf Helden.»
Doni fühlte sich geschmeichelt, doch seine Besorgnis erhöhte sich um einen weiteren Grad. Er hatte diesen Artikel auf Anregung eines mit ihm befreundeten Journalisten geschrieben, und tatsächlich hatte er großen Anklang gefunden – er selbst hatte ihn in angenehmer Erinnerung, so dass er ihn auch in seiner Testament-Datei zitierte. Doch er hätte nicht gedacht, dass er im Internet zu finden war und Elena ihn lesen konnte.
«Inwiefern?», fragte er.
«Wie soll ich sagen, Sie glauben, es sei richtig, dass es Menschen wie Borsellino gibt, dem sie diesen Artikel gewidmet haben, Menschen, die es auf sich nehmen, für alle zu bezahlen. Ihrer Ansicht nach ist es also richtig, dass es viele schlechte Menschen gibt, viele halbwegs gute und einige hochanständige, die sich das Elend der anderen aufbürden und vor die Hunde gehen.»
«Das habe ich nie gesagt, und auch nicht gedacht.»
«Ich weiß, Dottore. Meiner Meinung nach steckt ihr Unterbewusstsein dahinter, es schlummert dort irgendwo in einem Winkel.»
«Mein Unterbewusstsein kenne ich ja wohl besser als du.»
Elena lächelte.
«Gerade das glaube ich nicht. Schließlich ist es unbewusst.»
In der Bar wurde es leerer, und bald würde Renato anfangen, die Stühle hochzustellen.
«Wie dem auch sei», fuhr Elena fort. «Es geht um etwas anderes. Es geht darum, dass diese Menschen, diese Helden, die Sie zu Recht lieben und preisen, mit den Waffen in den Kampf gezogen sind, die ihnen zur Verfügung standen. Leichten Waffen, Dottore. Niemand hat ihnen gesagt, es sei herrlich, die Verantwortung auf sich zu nehmen, und selbst wenn irgendwer das gesagt haben sollte, tja, dann war es wohl ein Heuchler. Und dennoch, was haben sie getan? Sie sind trotzdem in den Kampf gezogen. Sie waren aus Fleisch und Blut, und so sind sie gestorben, sie hatten nur leichte Waffen – die gleichen wie Sie oder ich. Intelligenz, Aufrichtigkeit, Opferbereitschaft und vor allem die Überzeugung, dass kämpfen immer noch besser ist als aufgeben, denn Leute, die aufgeben, hat es in diesem Land schon immer zu viele gegeben. Doch keiner der Helden war ein Heiliger, Dottore. Keiner von ihnen hatte Lust, so zu enden, glauben Sie mir. Keiner von ihnen wollte umgebracht werden.»
«Trotzdem war es ihr Schicksal, und sie haben sich ihm mit Würde gestellt.»
«O nein. Sie irren schon wieder. So heben Sie sie auf einen Sockel und wälzen die ganze Last auf sie ab: Ah, die da, die da, das sind Helden!» Elena fuchtelte mit der Hand. Ihr Gesicht war rot angelaufen. «Nein, die Antwort ist viel einfacher. Sie haben es getan, weil es richtig so war. Das ist alles. Ohne Großbuchstaben, ohne Abstraktionen.» Sie seufzte.
«Versetzen Sie sich in meine Lage. Ich habe keinen festen Job, ich bin eine Frau, ich habe kein Geld, und ich werde mich kaum noch irgendwie verbessern können. Trotzdem suche ich weiter nach der Wahrheit, solange ich kann. Warum?»
«Weil es richtig so ist?»
«Genau. Leichte Waffen, Dottore.»
Renato kam an den Tisch und kündigte an, dass er in zehn Minuten schließen werde. Elena nutzte die Gelegenheit, um ein kleines Bier zu bestellen. Renato sah sie schief an, doch sie ließ nicht locker, und so gab er schließlich nach. Sie trank ihr Glas in einem Zug aus. Auch Doni hätte gern noch etwas getrunken, verschob es aber auf den Abend, wenn er wieder zu Hause bei Claudia sein würde. Claudia. Wo sie wohl gerade war?
Sie traten auf die Straße hinaus. Zwei Tauben flogen mit einem Flügelschlag auf. Mailand: Da lag ihre Stadt, da war das Nest, das er sich gebaut hatte, ein heiler Raum, leer und einsam.
Bevor sie sich voneinander verabschiedeten, sagte Elena: «Vergessen Sie nicht. Es gibt keine Helden. Und das Böse hat nichts mit Recht und Gesetz zu tun. Das Böse ist nichts als Leiden. Das ist alles.»
«Das klingt sehr evangelisch», sagte Doni, der nicht wusste, was er sonst sagen sollte, und nur noch wegwollte.
«Ja, das ist mein Evangelium.»
«Und was wäre dann das Gute, in dieser Theorie?»
«Rettung», sagte sie und verschränkte die Arme. «Rettung für jeden, der sie verdient.»