ER ERWACHTE KURZ nach Tagesanbruch. Claudia schlief abgewandt auf der Seite. Er betrachtete sie im Dunkeln und versuchte, ihre Gesichtszüge zu erkennen. Das Zimmer war überheizt, der Atem seiner Frau ging ruhig und gleichmäßig. Er strich ihr übers Haar.
Doni verließ das Haus und nahm die U-Bahn, ohne ein konkretes Ziel. Er fuhr mit der roten Linie in Richtung Bisceglie. Nach drei Stationen stieg er aus und änderte seinen Kurs. Er wartete auf den Gegenzug und fuhr wieder nach Norden. Er hatte nichts zu lesen dabei und hielt seine Aktentasche auf den Knien.
An der Station Porta Venezia begann das junge Mädchen ihm gegenüber – große Brüste, die Augen einer Balkanbewohnerin – ihr Kind zu stillen, das sie auf dem Arm hielt. Sie verschob Bluse und Unterhemd ein wenig, und das Kind klammerte sich an ihre rechte Brust. Doni war perplex, es war Jahrzehnte her, seit er eine Frau in der Öffentlichkeit hatte stillen sehen. Als er ein kleiner Junge war, hatte es das häufiger gegeben.
In Sesto Marelli, außerhalb der Stadtgrenze, stieg er aus. Er sog den frischen Morgenwind ein und trank einen Kaffee in einer Bar an der Hauptstraße. Drinnen stritt sich ein junges Paar, die beiden waren noch keine dreißig. Er war groß und hatte kurzes Haar. Sie war blond und sehr elegant. Die zwei schrien sich hemmungslos an und bezichtigten sich gegenseitig der Untreue.
Doni fiel die Frage, die Renato ihm im Bagatella gestellt hatte, wieder ein: ob seit ihrer Jugend alles schlechter geworden sei. O ja, befand er.
Er ging in südlicher Richtung weiter und nahm an der nächsten Station wieder die U-Bahn. Er suchte sich einen Platz neben der Tür. Mit ihm stiegen eine Menge Immigranten und einige Studenten ein. Alle Sitzplätze waren besetzt. Doni roch den Gestank nach Achselschweiß und Leben.
Ein Junge mit Kopfhörern und verträumter Miene. Eine Südamerikanerin mit drei Kindern. Plastiktüten voller Fleisch. Zwei junge Chinesen mit verschränkten Armen. Ein Mann mit Krawatte, der seinen iPod befragte.
Ja, das kannte er. Das war Mailand. Die Stadt, in der sich jeder fremd fühlen konnte, selbst wenn er in ihr aufgewachsen war. Die Stadt, in der die Liebe mühsam abgerungen werden musste und nichts auf Anhieb gewährt wurde. Eine grausame Stadt, die jedoch niemals log.
Und wonach strebten all diese Leute? Nach Glück, wonach sonst. Auf und ab im Gewirr der Straßen, zu spät oder zu früh unterwegs, sich ständig mit irgendetwas herumschlagend, ständig auf der Suche nach einem winzigen Stück Boden unter den Füßen, nach Stabilität, nach etwas, das nicht unter ihnen wegbrach. Und wie viele von ihnen – die Lautsprecherstimme sagte die Station Pasteur an, niemand stieg aus, niemand stieg ein –, wie viele von ihnen suchten jetzt und hier nach Gerechtigkeit?
Doch Gerechtigkeit war wie eine Egge, die die Erde umbrach und dabei hier und dort unweigerlich Stellen ausließ: Flecken von Vogelmiere, Steine, die zu klein waren, um entfernt zu werden, Stellen, an denen der Zweifel weiterkeimte.
Doni fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Als die Lautsprecherstimme die Station Loreto ansagte, stieg er aus.
Er bog in die Via Padova ein.
Zur Sache. Alle dreißig Sekunden schloss er die Augen für eine Weile, um nur die Geräusche wahrzunehmen. Fahrradklingeln, Fetzen auf Spanisch, Arabisch, Filipino. Eine Straße, die viele Namen hatte, die auf die unterschiedlichsten Arten benannt wurde. Räderquietschen. Metall, das auf Metall traf – Doni schlug die Augen auf: Er stand vor einem Supermarkt, zwei Angestellte luden Paletten ab.
An der Verkehrsinsel ein Stück weiter begann er sich wirklich umzuschauen. Er betrat ein chinesisches Lebensmittelgeschäft und schlenderte zwischen den Regalen umher. Büchsen, Schachteln und Päckchen mit fremden Esswaren standen neben Reis, Flaschen mit Soßen und Getränkedosen. Die Schriftzeichen unterbrachen das westliche Bild der Straße und öffneten einen Raum, zu dem Doni keinen Zugang hatte. Dies mochten die Namen von Gemüsesorten sein, doch sie sahen aus wie die Namen von Göttern.
Draußen traf er auf einen fliegenden Händler, der einen zweirädrigen Karren zog. Darauf hatte er zwei Dosen befestigt, über denen ein Wollpullover lag. Er blieb stehen und fragte Doni, ob er einen Snack wolle. Dabei nahm er den Pullover weg. Stückchen von hartgekochtem Ei, vielleicht, und Brot. Vielleicht. Doni lehnte ab und ging weiter.
Was machst du hier bloß. Was machst du hier bloß. Er musste mit jemandem sprechen. Er fragte eine Frau mit weißer Schürze, die, die Hände in die Seiten gestützt, seelenruhig vor einer Bar stand, nach der Uhrzeit. Sie gab ihm Auskunft, und Doni freute sich, einen klaren, einfachen, exakten Satz zu hören. Ich frage dich, wie spät es ist, und du antwortest mir.
Vor einem kleinen Platz parkte ein Militärtransporter. Doni hielt an, um sich am Kiosk eine Zeitung zu kaufen, und musterte drei bewaffnete Zwanzigjährige in ihren Tarnanzügen, wobei er einerseits dachte, dass sie gut dort standen, denn Sicherheit ging über alles, doch sich andererseits fragte, wie man denn auf die Idee kommen konnte, ausgerechnet ungeschulte Soldaten auf die Straße zu stellen.
Er setzte seinen Weg fort. Ein Pornokino im Stil der Siebziger. Noch ein Zeitungskiosk. Heruntergekommene Bars in Schockfarben, Neonrosa und flackerndes Blau. Auf der anderen Straßenseite ging ein Mann in einem grauen Regenmantel, das Haar im Nacken lang, die Hände in den Taschen, und schrie: «So läuft das eben, sagen sie. So läuft das. Na, ich werd’ euch zeigen, wie das läuft! So nicht!» Er blieb stehen und zeigte mit dem Finger auf die ganze Straße, um sie in seine Entrüstung einzubeziehen.
Doni sah Obstkisten vor den Geschäften. Eine zwischen Wohnblocks eingekeilte Baracke und einen großen Supermarkt, vor dem zwei Bettler lungerten. Den ramponierten Asphalt des Bürgersteigs. Bröckelnden Putz. Fenster ohne Rollläden und Gestalten, die wie im Traum auftauchten und verschwanden. Die Sonne trüb hinter den Wolken, wie die Kerzenflamme bei La Tour. Die Verkündigung der Gefallenen.
Er suchte nach etwas, was ein Bedauern verheißen könnte. Nach einem Zeichen, einem Symbol, das das Geheimnis dieser Straße offenbarte, nach etwas Ergreifendem, das Mailand rächen könnte. Es konnte doch nicht alles nur Schaffen, Bewegung und Aktion sein. Es musste doch noch andere Worte geben, um diese Stadt zu beschreiben. Doch das Verständnis auf dieser Ebene war schwer – es war gefühlsbetont. Eine Kunst, in der er nicht geübt war. Was konnte er im Grunde von sich erwarten. Er war einer, der Urlaub nahm, um doch wieder ins Büro zu gehen.
Vor lauter Ankämpfen gegen das Böse, überlegte er, denkst du, die ganze Welt ließe sich nur darauf reduzieren, auf den Gegensatz zwischen Räuber und Gendarm, ein Spiel mit denkbar einfachen Regeln: Am Ende denkst du, dass außerhalb des Justizpalastes nichts existiert, dass die Tausenden Seiten eines Urteils gegen die ’Ndrangheta absolut alles umfassen, was es im Universum zu sagen gibt und was die Leute aus Ignoranz oder Bequemlichkeit nicht wahrnehmen. Und dass sogar die Schönheit – sogar Musik, Kunst, Liebe – nur flüchtige Lichtfünkchen sind, nur unbeständige Bruchstücke, Teilchen, die so instabil sind, dass sie in Sekundenschnelle vergehen: nichts Wahres, nichts Wesentliches, nichts, was dem Ansturm des Schmerzes widerstehen könnte.
Auch deshalb war er hier, auch deshalb.
Er wandte sich nach links und spürte das nahegelegene Wasser, den Naviglio della Martesana. Er kam ans Kanalufer, verfallene Dämme, ein bisschen Schilf und hinter ihm ein Park und ein Platz voller Wohnwagen. Ein kleiner, künstlicher Hügel durchschnitt die Landschaft. Auf den Bänken der eine oder andere Junge mit dem Rucksack zwischen den Füßen: die Schule schwänzen, im Freien Zigaretten rauchen.
Doni ging ein Stück am Kanal entlang. Auf der anderen Seite standen Häuser am Wasser, und ab und an war ein trostloses Gärtchen zu sehen, mit blauen Plastiktonnen, wie sie sein Onkel benutzte, um Mist zu pressen.
Er kehrte zur Via Padova zurück, diesem zweiten Kanal, den er befahren musste, und nahm wieder Kurs aufs Stadtzentrum. Die Häuser und Straßen wurden plötzlich uninteressant. Er musste hier weg. Er landete in einem Gewirr kleiner Straßen hinter dem Viale Monza. Eine Weinhandlung und ein von zwei dicken Italienern geführtes Lebensmittelgeschäft wetteiferten darum, wer als Erster den Rollladen hochgezogen haben würde.
Doni kehrte in einem Dönerladen ein, um einen Pfefferminztee zu trinken. Er nahm die Tasse mit hinaus zu den Tischen vor dem Geschäft und atmete tief durch die Nase ein – den Geruch nach Gewürzen und Leder. Als er ausgetrunken hatte, hielt er noch einen Augenblick inne, um diesen Abschnitt der Straße zu betrachten und auf das Rattern eines Zuges ganz in der Nähe zu horchen, Gleise, die in Beton erstickten.
Vielleicht tat es nichts zur Sache, und mit Sicherheit wog es nicht ein Gramm der Gewalt auf, doch als er sah, wie das Licht in dieses Viertel einbrach, während er zur Station Rovereto unterwegs war, um nun zur Arbeit zu hasten, erblickte er ein Stückchen Schönheit und Wahrheit, und es spielte keine Rolle, dass es schmerzvoll war und entstellt. Nur hier, wie in einem Pulsschlag durch die Körper der Betrunkenen und Verrückten und durch leere Flaschen und verbrannte Matratzen, nur hier war ihm der Gedanke möglich, dass es noch Wahrheit gab.