DREI TAGE VOR dem Berufungsprozess sah er Elena Vicenzi wieder. Er rief sie an und sagte, er würde sich gern mit ihr verabreden und sie beruhigen, niemand werde ihr etwas tun.
Sie trafen sich gegen Abend im Stadtzentrum. Elena kam mit dem Fahrrad, obwohl es nach Regen aussah. Dicke, bleigraue Wolken und ein ozonhaltiger Wind.
Sie gingen in dieselbe Bar, in der Doni auch beim ersten Mal mit ihr gewesen war, doch der Barmann sagte, man werde gleich schließen. Sie fanden ganz in der Nähe, in Richtung der Universität, einen Pub, der ihm noch nie aufgefallen war. Elena bestellte ein Bier, Doni ein Glas Rotwein. Sie erzählte ihm von einer Frau in ihrer Buchhandlung, die nach dem Buch «Der Fänger» von dem Schriftsteller «Roggen» gefragt habe, und Doni musste lachen. Es war wie die Begegnung eines alten Lehrers mit seiner ehemaligen Schülerin, und erst nach einer Viertelstunde entschloss sie sich, zum Thema zu kommen.
«Ich schaffe es nicht, Sie nicht darum zu bitten», begann sie.
«Ich habe noch keine Entscheidung getroffen», unterbrach Doni sie.
«Aber Sie haben sich doch ein Bild von dem Fall gemacht.»
«Mehr als eines.»
«Und glauben Sie immer noch, dass Ihre Berufung korrekt ist?»
Doni antwortete nicht. Sie wartete, dann zuckte sie mit den Schultern. Das Schaufenster des Pubs überzog sich unversehens mit Regenflecken. Durchsichtige Sommersprossen, die den Blick auf die Straße verwehrten.
«Sie wissen, wie es sich abgespielt hat, nicht wahr?»
«Ich habe eine Rekonstruktion. Keine Fakten.»
«Oh, bitte. Ich bitte Sie.»
«Ich sage nur, wie die Dinge liegen. Wir haben keine Fakten. Es gibt ernstzunehmende Anhaltspunkte, die merkwürdig sind, doch keine gesicherten Fakten.»
«Ihrer Ansicht nach wurde Mohamed also wegen eines merkwürdigen Anhaltspunktes ermordet?»
«Das habe ich nicht gesagt.»
Elena stieß einen tiefen Seufzer aus.
«Hören Sie, wenn Sie nicht wollen, kann ich gar nichts tun, und im Grunde kann ich Ihnen das nicht mal verübeln. Sie haben mir gesagt, dass Sie viel riskieren, und ich glaube Ihnen, und natürlich haben Sie weitaus mehr zu verlieren als ich. Eigentlich kennen wir uns ja nicht einmal richtig und sind trotzdem zusammen in eine so große Sache hineingeraten. Komisch, nicht?» Sie lächelte. «Doch das hier geht nicht nur Sie und mich etwas an. Es geht uns alle an. Jedes Mal, wenn wir so tun, als ob nichts wäre, stirbt ein Stückchen der Welt. Also müssen wir alles einsetzen, was wir haben.»
«Leichte Waffen», sagte Doni.
«Genau. Ich habe meine, Sie haben Ihre.»
Doni betrachtete die Autos, die durch die Via Larga fuhren. Eine endlose Prozession von Leuten im Feierabendverkehr. Im Brunnen auf der Piazza Santo Stefano benetzte ein indischer Rosenverkäufer seinen Strauß.
Alles schien auch ohne sie beide bestens zu laufen, auch ohne die Pflicht zu einer Entscheidung, auch ohne jede innere Qual: die tiefe, alles überdeckende Barmherzigkeit der Welt.
«Ich will dir etwas zeigen», sagte er.
«Was denn?»
«Du wirst schon sehen.»
Elena nickte. Sie wirkte ein wenig abgespannt. In dem immer heftiger werdenden Regen gingen sie zum Justizpalast. Elena hielt sich schützend die Handtasche über den Kopf. Doni führte sie in die Via Manara und trat dicht an die Wand des Palazzos heran. Er hob den Arm.
«Siehst du diese Flecken?», fragte er.
«Was für Flecken?»
«Die Flecken in den Steinquadern. Siehst du sie?»
«Ach so. Ja.»
«Das sind keine Flecken. Das sind Nägel.»
Sie wandte sich zu ihm und schaute ihn an.
«Nägel?»
«Ja. Sie sind da, weil die Wände sonst einstürzen würden. Als der Justizpalast aufgestockt wurde», er wies auf das schwarze Dach, «begann das Gebäude nachzugeben, es besteht die Gefahr, dass der Marmor nicht hält. Darum diese Nägel.»
«Das ist ja absurd.»
Doni zuckte mit den Schultern.
«Warum wollten Sie mir das zeigen?»
«Das wollte ich dir gar nicht zeigen. Oder zumindest nicht nur das. Nun ja, seit wir uns kennen, denke ich über diese Nägel nach. Aber wie gesagt, die wollte ich dir gar nicht zeigen. Komm.»
Sie gingen die Straße entlang bis zur Rückseite des Gebäudes. Doni bat Elena, sich umzudrehen. Die rückwärtige Fassade sah aus wie ein zweiter, in den ersten gravierter Verfall.
«Lies die Inschrift», sagte Doni.
«Welche Inschrift?»
«Die dort. Fiat iustitia …»
«Fiat iustitia ne pereat mundus», las Elena.
«Weißt du, was das bedeutet?»
«Es möge Gerechtigkeit walten, damit die Welt nicht untergeht?»
«Genau.»
«Das Gymnasium liegt schon zwölf Jahre zurück, aber ich halte mich noch ganz gut.» Sie lächelte.
«Ja», sagte Doni. «Nur schade, dass in diesem Satz ein Fehler steckt.»
«Ein Fehler?»
«Ja. Der Originalsatz lautete anders, man hat ihn während des Faschismus verändert – wahrscheinlich, weil er zu stark war, zu absolut. Zu unbegründet, in gewisser Weise. Doch das Interessante ist, dass man ihn nie wiederhergestellt hat. Ganz als wollte dieser Palazzo, wie soll ich sagen, die falsche Version der Dinge bewahren, obwohl das natürlich nicht so ist.» Er seufzte. «Ich will nicht den Eindruck erwecken, dass ich diesen Ort hasse oder ihn absurd finde. Nur manchmal … Ich weiß nicht.»
«Wie lautete der Satz denn ursprünglich?»
Doni kniff leicht die Augen zusammen und schaute zur Fassade.
«Fiat iustitia et pereat mundus», sagte er, wobei er das et betonte. «Es möge Gerechtigkeit walten und wenn die Welt auch untergeht. Es möge Gerechtigkeit walten, komme, was da wolle.» Er wandte sich wieder zu Elena. «Das wollte ich dir zeigen. Nur wenige wissen davon, und ich spreche sonst mit niemandem darüber. Aber es ist schon sonderbar, nicht?»
«Ja.»
«Was hältst du davon?»
«Ich denke, dass es sonderbar ist.»
«Ja, wirklich.»
«Ja.»
Sie schwiegen lange, den Blick auf die Reliefschrift der Fassade geheftet, auf die dicken Buchstaben und den Fehler, den sie, die Zeiten überdauernd, enthielten. Kein einziges Auto mehr auf der Straße. Kein einziges Geräusch außer dem Prasseln des Regens auf dem Asphalt.
Nach einer Weile gab Elena dem alten Staatsanwalt die Hand.
«Danke für alles», sagte sie. «Ich hoffe, wir sehen uns wieder, irgendwann.»