15

Hams Lager befand sich ein paar Kilometer nördlich von Irinas Basis. Größere Nähe wünschten Hams Leute nicht, nahm Malenfant an.

Also gingen Malenfant, Deirdra und Bartholomew – und letztendlich auch Emma – zu Fuß dorthin. Sie folgten dem Fluss, der sich durch sein Kiesbett wand.

Der Fußmarsch fiel Malenfant nach kurzer Zeit leichter. Selbst der Rucksack mit unverzichtbaren Arzneimitteln und Ersatzkleidung für ein paar Tage Abwesenheit fühlte sich bald nicht mehr wie ein Betonklotz mit Riemen an. Sein Kadaver erholte sich, passte sich sogar an die Härten dieser s chweren neuen Welt an, und zwar erstaunlich schnell, wenn man bedachte, was der besagte Kadaver alles durchgemacht hatte, dachte er vergnügt.

Sie erreichten ein höher gelegenes Gelände, eine Art Sandsteinklippe. Hier hatte ein Seitenarm des Flusses, selbst ein kräftiger Strom, da das Wasser auf die höhere Schwerkraft reagierte, sein eigenes Tal eingeschnitten. Dieses schmale Seitental gingen sie in stetigem Tempo entlang, wobei sie sich vom Flussbett fernhielten; die großen, rund geschliffenen Steine des Bettes bildeten einen unangenehmen Untergrund.

»Na«, sagte Emma nach einer Weile, »wie steht’s derzeit mit deinen Geologiekenntnissen, Malenfant?«

»Die waren noch nie so gut wie deine, in welcher Zeitlinie auch immer. Schließlich haben sie dir einen Flug zum Phobos eingebracht.«

»Tja, hier gibt es viele interessante geologische Aspekte.« Sie zeigte auf die Sandsteinklippe – auf Bänder, Schichten in dem rostroten Gestein. »Klassische Ablagerungsformation. All das war früher einmal vom Meer bedeckt. Dieser ganze Sandstein hat sich im Wasser abgelagert, bis das Land emporgehoben wurde und das Meer austrocknete. Jede Menge Erosion auf dieser Hochschwerkraftwelt und ausgeprägte Sedimentschichten. Und auch jede Menge Hebungen.«

»Mit Josh habe ich über all das gesprochen. Müsste es in Sedimentgestein nicht Fossilien geben?«

»Auf der Erde schon. Das ist alles verdichteter Meeresboden. Hier – nun, ich hatte noch keine Zeit, mir diese Ablagerungen unter dem Mikroskop anzusehen. Ich habe ja noch nicht mal ein Mikroskop. Also weiß ich nicht, was unterhalb des Sichtbaren los ist. Aber man kann erkennen, dass dort keine großen Knochen herausragen … Es muss auf diesem Planeten, in diesem Gestein Überreste von Leben geben, wenn sie auch nicht alt genug sind, um schon fossiliert zu sein. Aber ich weiß nicht, wie alt sie sind und wie tief sie hinabreichen könnten. Oder«, sagte sie heftiger, »ob sie in stratigrafischer Hinsicht irgendeinen Sinn ergeben.«

»Du sprichst von Indizien für Evolution. Eine Gruppe von Tieren und Pflanzen, die einer anderen weicht.«

Sie seufzte. »Das ist die Familie-Feuerstein-Version, Malenfant, aber – ja. Man müsste eine ordentliche Abfolge erkennen, wenn sich das Leben hier entwickelt hat. Auch wenn sie von großen Katastrophen wie dem Dinosaurier-Killereinschlag auf der Erde unterbrochen wurde.«

Deirdra nickte. »Und wenn die Lebensformen einfach nur von den blauen Rädern hier abgeworfen werden?«

Emma bückte sich, um Schichten mit einem Finger nachzufahren. »Wenn die Ablagerungen des hiesigen Lebens unordentlich, im Grunde also willkürlich sind, dann gibt es hier vielleicht gar kein kohärentes Fossilarchiv.« Stirnrunzelnd schüttelte sie den Kopf. »Was für mich irgendwie … anstößig ist. Ich denke, Josh hasst es auch. So sollte eine Welt nicht beschaffen sein. All diese Einmischungen

Deirdra war gerade abgelenkt. Sie stand kerzengerade da und schaute das Tal entlang. Sie blickte auf eine dunkle, gedrungene Gestalt, die sie dort sah, wie Malenfant bemerkte.

Emma war noch immer vollauf mit der Geologie beschäftigt. »Die Steine selbst lügen allerdings nie. Diese Landschaft hat viele dramatische Ereignisse gesehen. Es muss hier einmal Eis gegeben haben. Eine Eiszeit, meine ich. Nachdem sich die Sandsteinbetten gebildet hatten und emporgehoben worden waren. All dieser Kies entsteht, wenn Gestein von den Eisschichten aufgebrochen, mitgenommen, ver mischt und dann dort abgelagert wird, wo das Eis schließlich schmilzt …«

»Emma«, sagte Malenfant leise.

»Und der Fluss windet sich jetzt durch ein Tal, das viel zu groß für ihn ist …«

» Emma . Wir haben Gesellschaft.«

Sie blickte endlich auf und erhob sich. Zusammen mit Malenfant und Deirdra schaute sie ihrem Besucher entgegen.

Ihrer Besucherin . Sie war offensichtlich ein Kind, ein kleines Mädchen, aber ansonsten eine Miniaturausgabe von Ham, erkannte Malenfant. Sie trug eine verkleinerte Version des Fellumhangs, mit dem Deirdra herumlief, ebenfalls mit diesem durchgekaut aussehenden Seil zusammengebunden. Allerdings war sie barfuß.

Sie schien noch aufrechter dazustehen als Ham.

Ihr Gesicht war runder, mit weicheren Konturen, aber sie hatte Hams große Nase, seine schweren Brauen. Diese Gesichtszüge, fast wie die eines Klingonen im klassischen Star Trek , dachte Malenfant zerstreut, wirkten bei ihr noch auffälliger als bei Ham selbst. Ihre Haare waren rotblond – offenbar kurz geschnitten, wenn auch auf primitive Weise.

Ihre weit geöffneten Augen waren blau. In ihrem Gesicht lag jene Offenheit, jene seltsame Mischung aus Vorsicht und Faszination, die sehr kleine Kinder an den Tag legen konnten, wenn sie sich einem Fremden gegenübersahen. Dennoch war sie groß, vielleicht so groß wie eine Zehnjährige daheim in Houston. Die einzelnen Aspekte ergaben kein stimmiges Bild, fand Malenfant. Sie schien ein kleines Stück näher am Menschlichen, an seiner Art des Menschlichen zu sein. Und doch auch wieder nicht.

Während sie die Besucher anstarrte, steckte sie einen Finger in ein geräumiges Nasenloch.

Deirdra winkte ihr zu. Vorsichtig winkte das Kind zurück.

»Wir nennen sie Erdbeere«, sagte Emma. »Wir sind ihr schon früher begegnet.«

»Wegen der rotblonden Haare?«, fragte Malenfant. »Okay, aber wie nennt sie sich selbst? Wie nennen sie ihre Angehörigen?«

»Das ist nicht so einfach, Malenfant. Ihre Sprache – ihre wahre Sprache, nicht das Pidgin, das Ham manchmal mit Irina spricht – ist ebenso gestisch wie verbal.«

»Ja«, sagte Deirdra. »Meistens zeigen sie nur auf etwas. Und wenn sie tratschen, weiß jeder, über wen sie gerade reden.«

Emma sagte: »Die Gruppe ist sehr klein und statisch, Malenfant. Eigentlich brauchen sie gar keine Namen. Du wirst schon sehen.«

Malenfant hatte das Gefühl, dass er die Initiative ergreifen musste. Mit einem starren Lächeln ging er auf das Mädchen zu. »Hi. Du kennst mich noch nicht …«

Sie wich nicht zurück, aber ihre Augen wurden noch größer.

»Immer mit der Ruhe, Malenfant«, ermahnte ihn Emma. »Sie ist jünger, als sie aussieht.«

»Wirklich? Sie sieht aus wie … neun oder zehn vielleicht?«

»Erst ungefähr vier, denke ich. Sie wachsen schneller. Und kriegen auch schnell Angst. Oder werden schnell wütend, und das willst du jetzt bestimmt nicht erleben.«

Malenfant lächelte breiter und breitete die Hände aus. »Nenn mich Malenfant. Das tun alle.«

Sie erwiderte lediglich seinen Blick und behielt ihre Haltung ein paar Sekunden lang bei. Dann brach sie in schallendes Gelächter aus, verschränkte die Arme und schaukelte sie vor dem Körper hin und her.

Anschließend drehte sie sich um, offensichtlich eher aufgeregt als verängstigt, und lief in nördlicher Richtung davon.

Malenfant verspürte eine eigentümliche Verlegenheit. »Was zum Teufel war das denn?«

Deirdra lachte selbst und imitierte das Babyschaukeln. »Sie hält dich für einen Säugling, Malenfant. Für ein großes, schlaksiges, kahles, runzliges …«

»Okay, okay.«

»Kind!«

»Nimm’s nicht persönlich«, sagte Emma, die ebenfalls grinste . »Diese Reaktion erleben wir alle. Du wirst schon sehen. Obwohl sie normalerweise nicht laut loslachen.«

Malenfant unterdrückte seinen Ärger. »Also, wenn eine Vierjährige bis hierher gekommen ist, sind wir wohl nah an ihrem Lager. Bringen wir’s hinter uns.«

Steifbeinig ging er davon, ohne abzuwarten, ob die anderen ihm folgten.

Hams Lager – Dorf, Familienwohnstätte, was auch immer – war ansehnlicher, als Malenfant erwartet hatte.

Es lag unter einem nach Süden ausgerichteten Abschnitt einer stratifizierten Klippe. Eine große Lederplane – offenbar das gleiche Leder, das Irina für ihr Tipi benutzt hatte – beschattete eine Art Einbuchtung oder sogar Höhle dahinter. Der Boden vor dieser Abdeckung, ein Kiesbett, trug die Narben alter Feuerstellen, war jedoch frei von Brandschutt, soweit er erkennen konnte.

Das Kind, Erdbeere, wartete auf sie. Trotz ihrer aufrechten Haltung und ihres relativ schlanken Wuchses war sie stämmig und muskulös, mit deutlich sichtbarem Bizeps an ihren nackten Armen. Sie war wirklich eine seltsame Mixtur, dachte Malenfant, der sie jetzt genauer betrachtete, eine Mischung aus einer Vierjährigen, einer Zehnjährigen und einer Catcherin.

Erneut lachte sie über Malenfant. Dann drehte sie sich um und lief in den Schatten der Lederplane.

Die Gruppe machte halt und stellte mit einiger Erleichterung ihre Rucksäcke auf dem Boden vor der Behausung ab. Emma öffnete ihren, setzte eine von den Briten hergestellte Flasche aus rostfreiem Stahl an die Lippen und trank einen Schluck per Tablette gereinigten Wassers.

Irina kam heraus. »Also«, sagte sie.

»Also?«

»Das ist Hams Bau.«

Bau . Er merkte sich das Wort.

»Sie sind heute der einzige Neuankömmling an diesem Ort, Malenfant. Ihre ersten Eindrücke?«

Betrachte es als weitere Übung im Rahmen des Survivaltrainings, Malenfant. Du bist mitten im Nirgendwo ausgesetzt worden. Was kannst du erkennen? Erneut schaute er sich um. »Ich wüsste gern, woher sie dieses Leder haben. Die Größe dieser Plane. Was für ein Tier …«

»Das werden Sie schon noch erfahren.«

»Die Stelle ist gut gewählt. Nah an fließendem Wasser, aber hoch genug, um von Überschwemmungen verschont zu bleiben, würde ich meinen. Der Bau selbst befindet sich in einer Art … Hohlraum? Den ich hinter dieser Plane nicht sehen kann. Er ist nach Süden ausgerichtet, sodass er genug Licht bekommt, obwohl wir uns hier so nah am Äquator befinden, und er bietet Schutz vor den vorherrschenden Winden, schätze ich mal. Gute Stelle. Liegt er auf einem Wildwechsel?«

»Das Wild folgt meist den Wasserläufen. Also ja. Sonst noch etwas?«

Er versuchte, sich von konventionellen Denkmustern zu lösen. Was gab es hier nicht , in diesem kahlen Areal? »Keine Knochenhaufen, keine verwesenden Kadaver. Kein Unrat. Sie sind also sauber.«

»Das nun nicht gerade. Sie sind nicht sauber, nicht um der Sauberkeit selbst willen. Es ist einfach so, dass sie alles nutzen. Jeden Teil eines Tieres, zum Beispiel: Knochen, Mark, Haut, Fleisch, Sehnen. Sogar den Mageninhalt – und den Magensack selbst. Aber sie sind in gewisser Weise hygienisch. Sie wissen, dass sie stromabwärts in den Fluss pissen und ihr Gedärm entleeren müssen, damit alles weggespült wird. Außer wenn sie den Urin behalten wollen, zum Beispiel, um Leder zu gerben. Natürlich haben sie keine Ahnung von Krankheitsmechanismen. Aber sie besitzen gesunden Menschenverstand und heilkundliche Überlieferungen.«

Malenfant sah sie an. Er versuchte, zwischen den Zeilen zu lesen. Diese auf einer fremden Welt gestrandete Person hatte beschlossen, zugunsten dieser Neandertaler-Doppelgänger fern von ihren Gefährten zu leben – den Russen oben auf dem Hochland.

»Haben Ihre Gefährten diese Leute misshandelt? Oder andere wie sie?«

Sie hielt seinem Blick stand, antwortete jedoch nicht.

»Irgendwann müssen Sie uns Ihre Geschichte erzählen. Den Rest.«

»Wenn Sie so weit sind.«

»Wenn Sie mir vertrauen, meinen Sie.«

Sie lächelte. »Gibt es da einen Unterschied? Kommen Sie jetzt.« Sie drehte sich um und ging voran, zu Hams Bau.

Malenfant folgte ihr zusammen mit den anderen. Er sah, dass ihre wässrigen Schatten vor ihnen kurz waren. »Es muss fast schon Mittag sein. Was werden diese Leute jetzt gerade tun?«

Emma grinste. »Brunchen. Hier ist jeden Tag Samstag, Malenfant. Du wirst sehen.«

Irina, Emma, Deirdra und Bartholomew traten vor Malenfant ein, sodass er keine Ausrede mehr hatte, draußen herumzutrödeln.

Vorsichtig schob er sich an der Lederplane vorbei.

Er befand sich in einem schummrigen Raum hinter dem Sichtschutz, trotz der rötlichen Glut einer Feuerstelle, wo ein mit Asche bedecktes Feuer schwelte. Er sah die Leute als Schatten, als nicht näher erkennbare Gestalten, und erhaschte hin und wieder einen flüchtigen Blick auf Kleidung aus Leder und Fell und auf schweißglänzende Haut.

Aber ihm stieg ein stechender Geruch in die Nase. Kein Schweiß – eine Art Adrenalin vielleicht. Die Haare in seinem Nacken stellten sich auf, und er musste den instinktiven Drang unterdrücken, sofort die Flucht zu ergreifen. Du bist kein Beutetier, Malenfant. Zeig hier ein wenig Würde.

Und außerdem gingen seine Gefährten offenbar ganz entspannt weiter. Sie teilten sich auf und begrüßten Leute. Irina ging mit Emma im Schlepptau weiter hinein, zu ein paar Frauen am Ende der Höhle, wie es schien. Sie unterhielten sich dabei lächelnd, mit kurzen Sätzen und Handbewegungen.

Deirdra ging zu Erdbeere, dem Kind, und einem deutlich älteren Weibchen. Die weite Lederkleidung verdeckte ihre Brüste und Genitalien nicht besonders gut. Die drei hockten sich ans Feuer und begannen, wie schwarzes Gummi aussehende Klumpen zu bearbeiten. Deirdra tat das mit den Händen, während die anderen kleinere Stücke mit großen, kräftigen Kiefern durchkauten. Weder Deirdra noch Erdbeere waren dabei besonders effektiv, aber das ältere Weibchen arbeitete energisch, kaute auf dem »Gummi« herum und zog es mit den Händen.

Bartholomew blieb mit Malenfant zurück. Die Einheimischen schienen den ärztlichen Betreuer vollständig zu ignorieren – vielleicht spürten sie etwas von seinem wahren Wesen, der künstlichen Schicht. Vielleicht hatte er den fal schen Geruch für diese großen, geräumigen Nasenlöcher. Aber Bartholomew, kein Mensch, aber offensichtlich auch keine Bedrohung, wurde einfach nicht beachtet.

Während Malenfant dort stand, versuchte er, sie zu zählen. Fünf Erwachsene, so sah es im Halbdunkel aus, dazu Erdbeere und ihre jugendliche Gefährtin sowie ein paar weitere Kinder, die in den Schatten umhertollten. Alle wirkten entspannt. Aber die Augen aller Erwachsenen waren auf Malenfant gerichtet. Allesamt, ohne Ausnahme.

»Bleiben Sie einfach ruhig«, raunte ihm Bartholomew ins Ohr. »Halten Sie die Hände an den Seiten; zeigen Sie, dass sie leer sind.«

»Scheiße. Ich fühle mich wie in einem Wolfskäfig.«

»Keine schlechte Analogie, finde ich«, sagte Emma trocken, während sie zu ihm zurückkam.

»Was machen sie mit diesem Gummizeug?«

»Du meinst das Pech? Es besteht aus Birkenrinde. Man rollt sie zusammen und vergräbt sie unter der Asche einer abkühlenden Feuerstelle. Wenn sie heiß ist, entsteht ein klebriges Zeug, und daraus macht man …«

»Klebstoff?«

»Genau.«

»So befestigt Ham seine Steinklingen an den Holzschäften seiner Speere.«

Nun kam auch Irina zu ihm zurück. »Das machen sie vormittags, Malenfant«, sagte sie mit leiser, ruhiger Stimme. »Sie essen die Reste der gestrigen Mahlzeit. Sie erledigen ihre Pflichten. Sie arbeiten an Werkzeugen oder an Rohstoffen wie dem Pech oder sie schärfen Steinklingen. Sie haben Sex.«

Das überraschte Malenfant. »Ist mir gar nicht aufgefallen.«

»Heute Vormittag nicht. Sie sind sich alle zu sehr Ihrer Anwesenheit bewusst, Malenfant. Ich sollte Sie zu Nikolaus bringen.«

»Nikolaus?«

»Mein Name für den Chef der Junggesellen, der Männer. Der alte Bursche da drüben. Benannt nach unserem berühmten und langlebigen Regenten des russischen Weltreichs.«

Im Schatten, nicht genau erkennbar. Zusammen mit seinen beiden Gefährten, Ham und diesem anderen, jüngeren erwachsenen Männchen.

»Und ich muss ihn kennenlernen?«

»Bevor sie Sie umbringen, ja«, sagte sie milde. »Keine Angst. Ich habe ein Geschenk, das Sie ihm überreichen können.«

Malenfants Herz schlug heftig. »Okay, okay. Ich vertraue Ihnen. Und die Weibchen …«

»Momentan nur zwei erwachsene hier. Die ältere Frau, die ich Alexandra nenne. Die Gattin von Nikolaus. Sie ist etwa vierzig Jahre alt.«

Sah jedoch erheblich älter aus, soweit Malenfant es im Schatten erkennen konnte. Gebeugt, langsam, ergrauend. Zu ihren Füßen turnten weitere Kinder herum. Drei, vier Kinder ? Er hatte keine Ahnung, wie alt sie sein mochten; schließlich hatte er sich bei Erdbeere ja schon krass verschätzt.

»Hier ist das Geschenk, das Sie ihm geben werden.« Verstohlen drückte Irina ihm einen Armreif in die Hand. »Nikolaus ist schon seit eurer Ankunft scharf auf diese Schmuckstücke – vermutlich seit Ham sie ihm beschrieben hat.«

Malenfant warf Bartholomew einen finsteren Blick zu.

Der Android zuckte die Achseln. »Er ist nicht aktiviert. Wir haben noch jede Menge davon.«

»Na schön …«

Irina gab ihm einen Schubs. »Schauen Sie ihm in die Augen. Nikolaus. Nicht als Herausforderer, sondern als Gleich rangiger. Nicht mehr. Und nicht weglaufen , was auch ge schieht.«

»Warum nicht?«, fragte Malenfant, obwohl er die Antwort fürchtete.

»Sie sind ein Hündchen, das sich einem Rudel Wölfe nähert, Malenfant. Diese Leute sind nicht domestiziert. So wie Sie.«

»Domestiziert? Ich? Das ist doch lächerlich.«

»Natürlich. Aber wenn Sie weglaufen, wird man Sie in Stücke reißen.«

Er ging mit ihr zur Rückseite des Hohlraums, wo die Männchen unter der felsigen Oberfläche des Überhangs kauerten. Ihnen unter die Augen zu treten war so, als würde man in eine Batterie von Laserstrahlen hineingehen.

»Also«, sagte Irina. »Sie müssen sich klarmachen, dass Nikolaus nicht die dominante Figur in dieser Gesellschaft ist. Kein Patriarch. Er herrscht über die Männchen, ja.«

»Wer dann? Alexandra?«

»Ganz recht. Die Frauen haben die Macht – sie und ihre kleinen Kinder leben hier. Die Männer kommen und gehen, wenn auch über mehrere Jahre hinweg. Sie suchen sich andere Gruppen von Männchen, die jagen und auf Wanderschaft gehen, bevor sie sich zerstreuen und weiteren Gruppen anschließen. Auch die Weibchen ziehen weiter, aber auf ordentlichere Weise. Sie halten die Familie zusammen. Zum Beispiel, wenn eine Siedlung überschwemmt wird. Manche richten sich vermutlich auch nach den Jahreszeiten; sie folgen der Flora und Fauna, den Herden.

Bei den Männern geschieht das auf instinktivere Weise. Die rangniedrigeren versuchen einfach wegzukommen, so wie einst die jüngeren Brüder der Wikinger nach Britannien und Russland gesegelt sind. Hier ist es nun Zeit für Ham, diesen Ort zu verlassen. Seine Rivalität mit seinem Bruder wegen einer Beziehung mit Lola, dem jüngeren Weibchen, spitzt sich zu. Aber Nikolaus steht auf der Seite des Bruders.«

»Warum? Wieso der eine, nicht der andere?«

»Ich merke schon, Sie waren ein Einzelkind, Malenfant.«

Er wagte es, ihr einen raschen Blick zuzuwerfen. Hatte die mürrische Russin einen Scherz gemacht?

»Und wissen Sie«, fuhr sie fort, »Hams Instinkt umherzustreifen hat ihn vermutlich zu mir geführt. Er muss woandershin – warum nicht zu mir und meinen kuriosen Projekten, zumindest im Augenblick? Außerdem scheinen ihn Pterosaurier auf eigentümliche Weise zu faszinieren.«

»Pterosaurier?«

»Sie werden schon sehen. Sie sind jetzt nah bei Nikolaus.«

Nun, das wusste Malenfant.

Mit einem Ächzen erhob sich Nikolaus, wobei er sich schwer auf Ham stützte – und Malenfant sah zum ersten Mal, dass dem älteren Mann ein Fuß fehlte. Sein Bein endete in einem groben Stumpf, der so aussah, als wäre er mit einer Art Seil umwickelt und schwarz verbrannt.

»Beachten Sie sein Bein nicht«, sagte Irina leise. »Bringen Sie ihn nicht auf den Gedanken, dass Sie ihn herausfordern.«

»Verstanden.«

»Ich habe schon andere Amputierte gesehen. Leute mit schweren Verletzungen, Deformationen, Krankheiten. Wie Sie sehen, haben sie eine praktische Behandlungsmethode für traumatische Wunden. Sie halten sie ins Feuer und versiegeln sie mit Teer. Wir sind gleich da … Überreichen Sie ihm Ihr Geschenk. Sie sind hier als Gleichrangiger, nicht als Bittsteller, nicht als Herausforderer.«

»Kühl, aber würdevoll, denke ich.«

Sie seufzte. »Das wird reichen müssen.«

Also trat Malenfant vor Nikolaus hin.

Das Gesicht war außergewöhnlich, diese breite Nase, die schweren Brauen – der ganze Kopf war aus einer gebeugten Haltung heraus nach vorn geschoben, die an sich schon erstaunlich aggressiv wirkte. Und die Augen, die in die seinen starrten – es war eine Herausforderung von einer Intensität, wie Malenfant sie noch nie erlebt hatte, nicht einmal bei den schlimmsten Hahnenkämpfen der Alphatiere in der Air Force oder bei der NASA . Nicht einmal Ham hatte sich so benommen.

Ein Wolf gegen ein Hündchen. Sie hat das ganz richtig gesehen, Malenfant .

Doch als Malenfant dem alten Mann sein Geschenk hinstreckte, nahm dieser den Armreif an sich. Er betastete ihn, ließ ihn von einem Finger baumeln. Dann kehrte er ihm ohne ein Wort, ohne eine Geste den Rücken zu, eine verächtliche Bewegung, die allein schon in jeder Redneck-Bar eine Schlägerei ausgelöst hätte.

Selbst die jüngeren Männchen wandten sich ab; ihre Neugier galt eher dem Armreif als Malenfant.

Malenfant war jedoch noch am Leben.

»Gut gemacht«, sagte Irina.

Doch nun sah Malenfant, dass Ham und das andere junge Männchen … lachten. Sie sahen Malenfant über die Schulter hinweg an und lachten erneut. Dann deutete das zweite Männchen auf Erdbeere und imitierte deren Schaukelbewegungen.

Emma kam herbei. »Ich glaube, ich verstehe«, sagte sie leise. »Sie haben einen Namen für dich gewählt.«

»Warum gefällt es mir nicht, wie das klingt?«

»Hör mal, Malenfant, lieber einen Namen kriegen als tot sein. Außerdem spiegelt er seltsamerweise das, was Irina zu dir gesagt hat.«

»Was denn?«

»Domestizierung, Malenfant. Das ist der Unterschied zwischen uns und diesen Burschen. Wie Wölfe vor Hündchen. Wir Menschen haben uns selbst domestiziert – ich denke, die Theorie besagt, dass wir uns auf diese Weise entwickelt haben, damit wir besser in größeren Gruppen kooperieren konnten, sogar im globalen Maßstab. Na, und hat das nicht prima geklappt?«

»Okay, okay.«

»Aber die Domestizierung geht mit bestimmten typischen Merkmalen einher. Im Fall des Menschen mit geringerem sexuellen Dimorphismus – männliche Exemplare haben eine schlankere, weiblichere Gestalt – und der Beibehaltung jugendlicher Züge. Schau dir die Kinder an, Malenfant. Ein runder Kopf, ein kleineres Gesicht, ein nicht so stark vorspringender Stirnwulst. Wir haben größere Ähnlichkeit mit ihren Kindern als mit den Erwachsenen. Und du ganz besonders – ich denke, es ist der kahle Schädel …«

»Wie lautet mein Name?«

»Errätst du’s nicht? Großes Baby.«