31

Josh rüttelte Malenfant wach.

Malenfant wusste, dass es Josh war, noch bevor er sich auf den Rücken drehte und die Augen aufschlug. Joshs Schüch ternheit machte sich am stärksten bemerkbar, wenn er jemanden berühren musste. Um Malenfant aufzuwecken, packte er ihn also an der Schulter, und Malenfant schreckte aus verschwommenen Träumen hoch, in denen er ein winziger Christus war, der ein riesiges Kruzifix erklomm …

Widerstrebend setzte er sich auf.

Helles Morgenlicht fiel durch die unzureichend abschließende Türplane ins Halbdunkel im Inneren dieser Jurte aus Pterosaurierleder. Er konnte die schlafenden Gestalten von Emma, Deirdra – sie schnarchte leise – und Bartholomew erkennen, der natürlich nicht schlief, aber wie die anderen dalag, um niemanden dadurch zu beunruhigen, dass er die ganze Nacht aufrecht saß. Malenfant rieb sich die Augen; sie fühlten sich sandig und wund an, wie schon die ganze Zeit, seit sie alle zu diesem staubigen Hochland hinaufgestiegen waren.

Obwohl ihre Ankunft in diesem Lager inzwischen eine Woche zurücklag.

Josh hockte an Malenfants Bett. Er trug diese eulenhafte, manierierte, sorgfältig gepflegte Brille, die nun jedoch Kratzer im Glas und einen gebrochenen Bügel aufwies, der wie der Steg mit einem Stück Draht repariert worden war.

»Josh? Was ist?«

»Wassili möchte, dass wir einen Spaziergang machen.«

»Wer? Wir alle?«

»Nur wir drei. Sie, ich, er.«

»Die drei Männer.« Er warf Bartholomew einen Blick zu. »Anwesende ausgenommen.«

»Er möchte uns etwas zeigen, denke ich. Etwas, worüber ich mit ihm gesprochen habe. Und was ich mit Commander Lighthill über Funk erörtert habe.«

»Aber nur wir drei Jungs? Meinen Sie, dass Wassili männliche Gesellschaft vermisst hat?«

Josh runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht.«

Malenfant rief sich ins Gedächtnis, dass Josh aus einer zutiefst patriarchalischen Kultur kam, genau wie Wassili. Selbstverständlich würde Josh in einer rein männlichen Zusammenkunft nichts Ungewöhnliches sehen.

»Na schön. Okay. Solange er den Wodka nicht aufmacht und keine schmutzigen Witze erzählt oder uns mit rührseligen Erinnerungen an sein Vaterland vollschwallt.«

Josh dachte darüber nach. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich nur ungefähr zehn Prozent von dem verstehe, was Sie sagen, Sir.«

Malenfant seufzte. Er schwang die Beine unter einer geflickten Wolldecke hervor – eine Leihgabe der Russen – und begann, auf der Suche nach sauberen – oder zumindest saubereren – Strümpfen in dem Kleidersack zu wühlen, den er als Kissen benutzte. »Aber warum jetzt? Nur weil die anderen noch nicht wach sind? Wie spät ist es denn, verdammt noch mal?«

»Nach Ortszeit sechs Uhr morgens. Oder jetzt kurz danach. Und es ist der erste Tag des Langen Mai hier im Persephone-Jahr fünf.«

Malenfant funkelte ihn an. »Was zum Teufel soll das bedeuten? Wie Sie inzwischen wahrscheinlich wissen, bin ich nicht der beste Rätselknacker, wenn man mich gerade aus dem Schlaf auf einem Haufen schmutziger Wäsche aufgeweckt hat.«

»Sie werden schon sehen.« Josh grinste bloß. »Ich denke, das gehört zu dem, was Wassili uns zeigen will.« Er stand auf. »Wir haben eine Stunde, bevor Wassili aufbrechen möchte. Wollen Sie Frühstück? Ich habe Brennnesseltee aufgesetzt.«

Seit dem Absturz der Charon auf dieser riesigen Welt hatte Malenfant permanent Hunger gehabt. Freudlos dachte er an Pfannkuchen, Ahornsirup, Schinkenspeck und literweise Kaffee – mit Koffein. Er wusste, dass er Brennnesseltee und eine gebackene Kartoffel zu erwarten hatte. Das würde reichen müssen. Aber zumindest waren die Duschen hier wirklich heiß.

Seufzend rappelte er sich hoch, mit wackligen Beinen.

Als Malenfant bereit zum Aufbruch war, begann sich der Rest des Lagers zu rühren. Er ließ sich auf keine Gespräche ein, während er seine vielfach geflickten Stiefel anzog.

Dann verließ er das zentrale Lager – die große Hauptjurte, die Nebengebäude mit Duschen und Toiletten, die Küche mit ihrer separaten Feuerstelle – und traf sich draußen vor dem Osttor des mit angespitzten Pfählen versehenen Holzzauns mit Josh und Wassili Krawetz.

Im Licht der verkleinerten Sonne eines Persephone-Morgens warfen die drei lange Schatten zurück zum Lager. Dahinter ragte die abgestürzte Elektrod mit ihrer fahlweißen Haut auf wie ein gestrandeter Wal mit gebrochener Wirbelsäule. Immer noch großartig.

Wassili sah überzeugend aus, fand Malenfant jetzt, als er ihn in der tief stehenden Morgensonne betrachtete. Er war vielleicht vierzig Jahre alt. Seine Kleidung war ein Flickwerk aus Fell und gewobenen Pflanzenfasern und basierte auf einer Art Overall – ursprünglich vielleicht nicht viel anders als ein NASA -Overall –, der jetzt, nachdem man ihn ein Jahrzehnt lang immer wieder ausgebessert und verstärkt hatte, kaum mehr als ein von Flicken übersätes Palimpsest war. Seine Stiefel waren ebenfalls mehrfach geflickt, mit einer Art Teer wasserdicht gemacht und mit Fell gefüttert. Seine Kopfbedeckung ähnelte einem breitkrempigen Reishut und wäre in jeder Bühnenproduktion von Robinson Crusoe als Requisit benutzt worden. Und er hatte einen klobig aussehenden Revolver im Gürtel stecken.

Josh hingegen wirkte mit seiner häufig geflickten Kleidung und seiner runden Brille wie ein kleiner Junge, der aus einem Baumhaus gefallen war.

Ja, Wassili sah überzeugend aus. Doch obwohl sich sein Gesicht großenteils hinter einem sehr slawisch aussehenden schwarzen Bart mit grauen Strähnen verbarg, lagen Zweifel in seinen Augen. Tatsächlich mied er nach Möglichkeit jeden Blickkontakt, wie Malenfant schon früher bemerkt hatte.

Mal sehen, wie robust deine Persönlichkeit nach zehn Jahren in dieser Wildnis ist, Malenfant. Und denk daran, was Anna dir erzählt hat. Du weißt nicht, was diese Leute durchgemacht haben. Bete, dass du es nie erfahren wirst.

Wassili lächelte jetzt. »Wir gehen zu Fuß. Ich werde euch einiges von dem zeigen, was wir hier gebaut haben. Vieles davon habt ihr schon gesehen. Aber vielleicht bringt ihr andere Fachkenntnisse mit als wir – nun, so muss es sein, wenn einige von euch tatsächlich aus der Zukunft kommen –, und vielleicht seht ihr Alternativen, Wege, wie wir unsere Ziele besser erreichen können.«

Malenfant nickte. »Klingt gut. Gehen wir.«

Sie brachen nach Osten auf, in Richtung Sonne, gingen auf die Gasfackel zu, einen strahlend hellen Funken vor dem zunehmenden Sonnenlicht des Morgenhimmels.

»Sie haben Ihre Ziele erwähnt«, sagte Malenfant.

Wassili zuckte die Achseln. »Das Elementarste ist es natürlich, am Leben zu bleiben. Als Individuen. Hier haben wir schon teilweise versagt, wenn man an diejenigen denkt, die wir verloren haben. Und auf längere Sicht vielleicht, eine dauerhafte menschliche Kolonie auf dieser Welt zu errichten. Falls das möglich ist.«

»Deshalb die kleine Maria«, sagte Josh.

»Ja. Und – andere Experimente. Wir haben getan, was wir tun zu müssen glaubten. Dinge, die wir bereuen. Selbst wenn wir Erfolg gehabt hätten, würde ich es bereuen. So wie wir alle.«

Malenfant spürte, dass er aufrichtig war, auch wenn er nicht ins Detail ging. Vielleicht sprach er davon, was sie den Hams angetan hatten, um sie von hier zu vertreiben. Vielleicht waren diese Russen sogar aufeinander losgegangen. Sie waren keine bösen Menschen. Nur verzweifelte Menschen, die dazu getrieben worden waren, verzweifelte Maßnahmen zu ergreifen.

Nicht zum ersten Mal in seinem Leben war Malenfant froh, dass man von ihm keine Absolution erwartete.

Wassili hatte jedoch nichts davon gesagt, dass sie den Planeten verlassen wollten, bemerkte Malenfant. Er hatte nicht einmal so etwas angedeutet. Kein Wort über Versuche, wieder in den Weltraum zu gelangen. Der Knoten der Angst in Malenfants Innerem zog sich fester zusammen. Wenn diese Russen es wirklich für unmöglich hielten, ihr Schiff zu reparieren – und sie sollten es wissen –, wie zum Teufel sollte ihm dann eine Lösung einfallen, auf die sie nicht gekommen waren?

»Ich habe Malenfant erzählt«, sagte Josh jetzt, »dass heute der erste Tag eures Langen Mai ist.«

»Ha! Ja. Wir haben immer versucht, uns hier die zeitliche Orientierung zu bewahren. Anfangs haben wir die Tage einfach gezählt, indem wir Kerben in den Rumpf der abgestürzten Elektrod gekratzt haben. Aber die hiesigen Tage sind länger als auf der Erde, und auch das Jahr hat eine andere Länge. Persephone ist eine größere Welt als die Erde und verdiente ihren eigenen großen Kalender. Und schließlich habe ich – haben wir eine Lösung gefunden.«

Ich, wir  … Malenfant unterdrückte ein Grinsen. Du meinst »ich«, Wassili. Kalender zu erstellen ist ein echtes Männerding.

»Ein Persephone-Tag hat fünfundzwanzig Stunden; das Jahr ist siebenhundertachtundsiebzig Tage –Persephone Tage – lang, ungefähr zweieinviertel Erdjahre …«

Malenfant war sich des längeren Tages, dieser zusätzlichen Stunde vollauf bewusst. Seit sie an der Küste abgestürzt waren, hatte er Tag für Tag das Gefühl gehabt, er würde verschlafen, als litte er unter einem anhaltenden Jetlag.

»Wie können wir dann auf intuitive Weise die Zeit messen? Ein erdbasierter Kalender ist offensichtlich ungeeignet. Darum haben wir beschlossen, die Sekunde, die Minute als grundlegende Einheiten zu nehmen. Die Dauer einer Sekunde entspricht schließlich dem Pulsschlag eines ruhenden Menschen, ist also ein natürliches Intervall. Aber wir haben eine neue, lange ›Stunde‹ definiert, die aus ungefähr dreiundsechzig Minuten besteht. Auf diese Weise hat ein Persephone-Tag vierundzwanzig lange Stunden. Die Berechnung ist hier und dort um ein paar Sekunden ungenau, und eine weitere Komplikation besteht in der leicht elliptischen Umlaufbahn Persephones, was zu einer Unregelmäßigkeit in der Jahreslänge führt. Künftige Generationen, sofern es welche gibt, werden ein paar Korrekturen vornehmen müssen. Vielleicht wird es ein Muster von ›Schalttagen‹ geben, die alle paar Jahre hinzugefügt oder gestrichen werden – kein Problem. Überlassen wir das einem neuen Papst Gregor!

Aber der große Vorteil unserer dreiundsechzigminütigen Stunden besteht darin, dass sich die Vierundzwanzig-Stunden-›Uhr‹ genauso anfühlt wie auf der Erde. Jeden Tag ist sechs Uhr morgens sehr früh am Morgen, hier wie auf der Erde. Versteht ihr?«

Malenfant grinste, und er sah, dass Josh ebenfalls lächelte. »Okay. Ich bin Nerd genug, um zuzugeben, dass mir das gefällt. Und was ist mit den Monaten?«

»Wir müssen siebenhundertachtundsiebzig Tage verteilen. Also haben wir beschlossen, zwölf lange Monate zu definieren: zehn mit jeweils fünfundsechzig Tagen, zwei mit vierundsechzig. Zusammen ergibt das …«

»Ha!«, sagte Josh. »Also gibt es hier einen dreiundvierzigsten Juli …«

»Da seht ihr wieder den intuitiven Vorteil. Wir haben erwogen, uns eigene Namen für die Persephone-Monate auszudenken, vielleicht auf der Basis von Nationalhelden. Aber keiner von uns konnte sich an sie erinnern. Also haben wir Januar, Februar und so weiter benutzt. Wir haben den ersten Januar als Wintersonnenwende hier in der nördlichen Hemisphäre festgelegt. Die Achse des Planeten ist geneigt, wisst ihr – nicht so stark wie auf der Erde, aber ausreichend für wahrnehmbare Jahreszeiten. Der Lange Januar dauert neun Wochen! Aber wenn der Lange März und der Lange April kommen, weiß man, dass der Frühling naht, genau wie auf der Erde.

Was die Jahreszahlen betrifft, haben wir rückblickend das Jahr null als das Jahr definiert, in dem wir hier gelandet sind – und uns ausgerechnet, auch wieder im Rückblick, dass dies am zweiunddreißigsten Langen Juli jenes Jahres geschehen ist. Und wegen all dem kann ich euch jetzt sagen, dass heute der erste Tag des Langen Mai im Jahr fünf ist.«

Zehn Jahre, dachte Malenfant. Zehn Erdjahre, menschliche Jahre, an diesem Ort.

Josh hatte sich das alles aufmerksam angehört. Jetzt schob er seine Brille wieder auf der Nase nach oben und applaudierte langsam. »Das, Sir, ist großartig.«

Wassili lächelte höflich.

Als sie zur Wasserpumpe gelangten, wurde er langsamer.

»Wir müssen über das Wasser sprechen«, sagte er. »Diese Pumpe hat Juri entworfen – Juri, der gestorben ist. Ich war Pilot, wisst ihr, soweit ich überhaupt ein Spezialgebiet hatte. Ein Pilot ist nutzlos ohne ein funktionsfähiges Schiff, das er fliegen kann.«

»Wem sagen Sie das«, murmelte Malenfant.

»Aber ich leiste meinen Beitrag, so gut es geht … Zum Beispiel, indem ich Juris Pumpe gebaut habe und instand halte.«

Die mehr als eine simple Pumpe war, wie Malenfant rasch feststellte.

Als sie die Vorrichtung genauer in Augenschein nahmen, sah er einen klobig aussehenden Bohrer: eine vermutlich aus der Elektrod geborgene lange Metallstange mit Gewindeschnecke, die senkrecht in ein Gerüst aus Stahl und Holz eingesetzt war. Zwei Holzstangen ragten seitwärts aus dem Konstrukt heraus, und Malenfant sah, dass man diese Stangen mit ein paar Mann kreisförmig um den Bohrturm ziehen oder schieben und dadurch die Schnecke dazu bringen konnte, sich in den sandigen Boden und das darunter liegende Gestein zu graben.

An den Drehgriffen waren rostrote Flecken, sah Malenfant. Vielleicht getrocknetes Blut. Er stellte sich vor, wie menschliche Hände diese Stangen packten – es sah so aus, als hätten sie die richtige Größe für die Hände von Menschen oder Beinahe-Menschen, Hände ohne jeglichen Schutz, Hände, die dazu gebracht wurden, sie um diesen Apparat zu schieben oder zu ziehen, bis die Handflächen bluteten.

Die Hände von Hams? Von Läufern?

Es war nicht zu übersehen, dass der Bohrer schon mehrfach benutzt worden war. Schartige Löcher zernarbten den Boden, die meisten mit Metalldeckeln verschlossen. Aber ein Brunnen war offen. Man hatte ein dickes Rohr hineingezwängt, das oberirdisch im rechten Winkel abknickte und in den Einfüllstutzen eines auf dem Boden stehenden, mit Zapfhähnen versehenen Wassertanks mündete, vermutlich ein weiteres Relikt aus dem Raumschiff. Auch Kabel führten in das Loch hinab; als Malenfant hineinspähte, sah er, dass sie an einem kleinen, tragbaren Stromgenerator angeschlossen waren, der wiederum durch Rohre und daran entlanglaufende Kabel mit einem weiteren Tank verbunden war, dessen Inhalt sich als Brennstoff erwies: Methan, das vor Ort heraufgeholt und in diesem Generator verbrannt wurde.

Malenfant begriff das Prinzip hinter diesem wirren, halb improvisierten Konglomerat. In dieser hoch gelegenen Landschaft mangelte es an Niederschlag und Oberflächenwasser; Regen, sogar Nebel war selten. Aber es war kalt genug, dass Permafrostschichten im Boden erhalten blieben. Gefrorener Schlamm. Und es gab Möglichkeiten, solches Wasser herauszuholen. Aber zuerst musste man einen Schacht bohren, um an das Eis heranzukommen, dann musste man es schmelzen  – deshalb der Generator –, und erst dann konnte man das flüssige Wasser heraufpumpen.

Bohren, schmelzen, heraufleiten, speichern.

»Gute Ausrüstung«, murmelte er.

»Natürlich mussten wir das Wasser zuerst einmal finden«, sagte Wassili.

»Aber ihr müsst damit gerechnet haben, dass es welches gab«, meinte Josh.

Malenfant runzelte die Stirn. »Wieso?«

»Wir sitzen hier auf einem riesigen Mantel-Plume«, sagte Josh. »Die aufsteigende Hitze aus dem Boden muss Wasser zu den Gesteinsschichten an der Oberfläche heraufdrücken, bis es schließlich gefriert – und hier oben ist es so kalt, dass es auch während der langen Sommer gefroren bleibt.«

»Richtig«, sagte Wassili. »Das haben wir auch vermutet. Wir haben sogar Radarechos eingesetzt, um solches Wasser zu suchen. Seine Existenz zu bestätigen. Wir haben es unter einer Kappe aus Eis oder Permafrost gefunden – in flüssigem Zustand.«

»Ja.« Joshs Verstand arbeitete offensichtlich schnell. »Ich sehe, wie das funktionieren könnte. Ein Hundert-Meter-Impuls – drei Megahertz – würde … wie weit hinabdringen? Bis zum Zehnfachen seiner Wellenlänge? Also eine gute halbe Meile oder tiefer. Jedes flüssige Wasser würde ein starkes Signal zurückwerfen.«

Wassili nickte. Er lächelte. »So ist es. Wir haben die Technik improvisiert; unsere Antenne sah aus wie eine riesige Fernseherantenne. Aber es hat funktioniert, wie ihr seht.«

Sie richteten sich auf und gingen weiter.

»Ich erinnere mich undeutlich, in meiner Zeit als Raumfahrtunternehmer eine ganz ähnliche Technik gesehen zu haben«, sagte Malenfant. »Die Rodriguez-Brunnen, die von der US Army in Grönland angelegt wurden. Dieselbe Idee. Wir dachten, wir könnten diese Technik vielleicht adaptieren, um sie eines Tages auf dem Mars zu benutzen. Soweit ich mich erinnere, brauchte man ungefähr ein Kilowatt pro Person für eine Tagesration Permafrost-Schmelzwasser.«

Sie mussten um das Gerät, die Kilowatt herumreden; die Armreif-Übersetzung war unklar.

»Wir kommen mit etwas weniger aus«, sagte Wassili. »Aber wir Russen sind ja schließlich ein genügsames Völkchen, anders als die Amerikaner.« Er zwinkerte Josh zu.

»Schauen Sie nicht mich an«, sagte Josh. »Sie sollten es mal mit dem Wasser in einer durchschnittlichen englischen Privatschule probieren. Man bräuchte ein Kilowatt pro Person, um das zu erwärmen …« Dann blieb er stocksteif stehen und starrte geradeaus. »Wow. Ziegelsteine!«

Malenfant versuchte, sich zu orientieren.

Sie gingen noch immer ungefähr nach Osten, in Richtung der Fackel. Gerade kamen sie an einem großen Solarpark im Norden vorbei, glänzende schwarze Paneele, die am Boden befestigt waren. Rechts von Malenfant verlief die lange Pipeline, die Gas zum Lager transportierte.

Und ja, hier lag ein Haufen Ziegelsteine, goldbraun im zunehmenden Sonnenlicht. In der Nähe stand eine Art Ofen, eine große Eisenkammer mit einer Schwingtür an der Vorderseite – vermutlich eine weitere Umnutzung von Materialien aus dem Wrack der Elektrod  –, neben einem Haufen grob gehackter Holzscheite, die offensichtlich als Brennstoff für diesen Ofen dienten.

»Ziegelsteine«, sagte Josh erneut.

Wassili lächelte. »Ja, wir experimentieren mit der Ziegelherstellung. Wie die Mesopotamier können wir nur mit Erde und Wasser arbeiten. Aber wir machen Schlamm und backen ihn. Nun, mit solchen Materialien haben die Mesopotamier ganze Zivilisationen errichtet.«

Er hob einen Ziegelstein auf; dessen Form und Oberflächenbeschaffenheit waren gröber, als Malenfant zuvor bemerkt hatte.

»Sonnengetrocknet«, erklärte Wassili. »Was wegen der geringen Intensität des hiesigen Sonnenlichts eine Weile dauert. Mit Stroh gemischt, wie man sieht. Für den Augenblick sind sie gut genug – ihr habt ja gesehen, wie wir solche Ziegelsteine verwenden: in mehreren Bahnen als Fundament unserer Bauten. Wir experimentieren mit Brennöfen.« Er deutete auf das improvisierte Gerät. »Als Brennstoff benutzen wir Holzkohle. Wir lassen uns von den Läufern Holz aus Waldstücken an den Hängen des Schildes bringen, möglicherweise habt ihr die Spuren gesehen. Wir haben auch mit verschiedenen Mörtelmischungen experimentiert, aber dafür bräuchten wir Kalk oder so etwas Ähnliches. Wir haben jede Menge halb fertig gestellter Projekte, Experimente, die noch im Gang sind. Manchmal denke ich, wir haben in unserem Jahrzehnt hier wenig erreicht – manchmal viel.«

Josh und Malenfant wechselten einen Blick. Eine weitere Erwähnung der geheimnisvollen »Läufer«. Vor Malenfants geistigem Auge erschien das Bild dieser vertrockneten Leichen draußen auf der Ebene.

»Allein schon am Leben zu bleiben ist eine höllische Leistung«, sagte Josh leise.

Malenfant nickte zustimmend. Konzentriere dich erst einmal auf die Technik .

»Ja, wahrscheinlich«, sagte Wassili. »Wir saßen natürlich an der Absturzstelle unseres Schiffes fest. Dass wir leicht zugängliches Wasser entdeckt haben, war Zufall. Und als wir tiefer bohrten, stießen wir bald auf das Methan. Sonst wären wir vielleicht an einen anderen, fruchtbareren Ort gezogen …  Ich bin ebenso wenig Geologe wie Wasserbauingenieur.«

Josh schaute sich um. Seine Brille vergrößerte seine Augen und verlieh ihm einen geistesabwesenden Ausdruck. »Ihr habt eure Sache gut gemacht. Das Methan ist in geologischer Hinsicht bedeutsam. Ich kann erkennen, dass dieses Land früher einmal Meeresboden war. Das habe ich schon vom Weltraum aus festgestellt. Also könnte es hier Kalkschichten geben. Ein paar Meilen tief. Und darunter Kalkstein. Angesichts der Energien dieses riesigen Planeten haben geologische Prozesse wahrscheinlich viele Schichten in noch größerer Tiefe erzeugt. Wenn Meeresboden subduziert wird – von tektonischer Bewegung unter Kontinentalplatten gezogen –, wird der darauf liegende organische Schlamm verdichtet, und es entsteht Erdöl, zusammen mit Methan und anderen Gasen. Unter Kalksteinkappen gefangen, wartet das alles nur darauf, angezapft zu werden.«

Wassili machte eine Handbewegung. »Ihr seht ja, dass wir das meiste Methan abfackeln, aber wir speichern auch einen Teil zur Stromerzeugung, zusätzlich zur Sonnenenergie, die wir nutzen – wir haben leistungsfähige Batterien aus der Elektrod  …«

Malenfant schaute zu der unverwandt brennenden Flamme hinauf. Scheint pure Verschwendung zu sein, dachte er und fragte sich, welche Größenordnung von Gasvolumen dort Stunde um Stunde herauskam. Wie groß würde das Volumen sein, wenn es verflüssigt wurde –  konnte man es überhaupt verflüssigen, sofern man nur die technologischen Möglichkeiten besaß, die er bereits gesehen hatte? Und wenn ja, was dann?

Darin lag eine schwer fassbare Gedankenkette, die er bewusst losließ; er wusste, dass es für ihn manchmal am besten war, solche Ideen eine Zeit lang in seinem höhlenartigen Geist widerhallen zu lassen.

Wie Schlamm vom Meeresboden, der sich in Methan verwandelt, Malenfant. Passender Vergleich .

Sie kehrten um. Malenfants von der aufsteigenden Sonne geworfener Schatten erstreckte sich noch immer lang vor ihm.

»Ihr habt bestimmt große Pläne«, sagte Josh ein wenig zögernd zu Wassili.

»Große Pläne?«

»Wenn ihr Ziegelsteine herstellt. Wollt ihr massivere Gebäude errichten?«

»Nun ja, wir können nicht ewig vom Kadaver der elenden Elektrod zehren. Möglicherweise wird es künftig mehr als fünf von uns geben.«

»Mehr von euch«, sagte Malenfant gelassen. »Von drei Evas und zwei Adams? Wobei ein Adam schon tot ist.«

Wassili sah ihn düster an. »Es gab andere … Experimente. Sie sprechen von Adam und Eva. Ich bin nicht religiös … aber ich verstehe die Anspielung. Man hat mir versichert, dass wir eine genetisch vielfältige Besatzung sind …« Er schüttelte den Kopf. »Die moralischen Bedenken sind überaus stark. Manchmal habe ich mich gefragt, welches Recht ich habe, eine neue Gattung zu begründen. Wie könnte ich … sie alle beschützen? Aber wenn wir es nicht versuchen, was haben unsere ganzen Mühen dann für einen Sinn? Wir kommen hier nämlich nie mehr weg.«

Weder Malenfant noch Josh hatte eine Antwort darauf.

Und Malenfant wusste, sie würden darauf warten müssen, dass die Wahrheit über die hiesigen Geschehnisse ans Licht kam.

Sie redeten nicht viel auf dem Rückweg zum Zentrum des Lagers, wo die anderen schon auf den Beinen waren, wo Rauchfahnen von den Feuern sich in die Luft kringelten und das dünne Geschrei der kleinen Maria zu hören war.

Und Malenfant dachte unablässig über das Methan nach.