33

Zehn Tage, nachdem Irina sie alle hergebracht hatte – zehn überlange Persephone-Tage –, lud Anna die Neuankömmlinge ein, sich das Wrack der Elektrod CMIX anzusehen. Vielleicht hatte es so lange gedauert, bis sie ihnen im Hinblick auf den größten Schatz der Kolonie vertrauten, dachte Malenfant.

Josh ergriff die Gelegenheit sofort beim Schopfe, und Malenfant verstand, warum. Josh, der Wissenschaftsfreak, war Raumfahrer genug, um es interessant zu finden, das Wrack eines exotischen, nukleargetriebenen Raumfahrzeugs aus einer anderen Zeitlinie bestaunen zu können, egal unter welchem Vorwand.

Deirdra war ein komplizierterer Fall – wie immer –, und Malenfant, der mit Emma darüber sprach, versuchte, ihre Reaktionen auf Neu-Akademgorodok zu verfolgen. Sie schien von allem fasziniert zu sein, was ihr auf diesem riesigen Rätsel von einer Welt begegnete. Also tauchte sie auf, um sich die Elektrod anzusehen. Das Wrack dieses großen, auffälligen Weltraumoper-Wals von einem Schiff hätte die Neugier jedes denkenden und fühlenden und darum halbwegs fantasiebegabten Wesens erregt, dachte er, aber sie interessierte sich weitaus weniger für die russische Technologie als Josh und die anderen. Am meisten faszinierte sie offenbar die Hinter grundgeschichte der Russen, so wie sie von Malenfant, einem Mann aus einer früheren Zeit, und den anderen Mannigfaltigkeitswanderern fasziniert gewesen war, die sie getroffen hatte.

Jetzt beunruhigte sie der Zusammenprall der kosmistischen Werte, die sie derart anzuziehen schienen, mit den schäbigen Kompromissen, die diese Russen bei ihrem Versuch, hier zu überleben, hatten eingehen müssen. Nun, das gehörte alles zum Erwachsenwerden, nahm er an.

Sie wirkte besorgt. Nahm kaum noch Blickkontakt auf. Suchte das Lager ab, schaute zum staubigen Horizont, wo man manchmal das Randgebirge, ja sogar den Funken der Methanfackel sah, als suchte sie etwas anderes, etwas Fehlendes, was sie nicht einmal definieren konnte.

Malenfant ermahnte sich, sie im Auge zu behalten.

Und ihrem Beispiel zu folgen, falls nötig. Ihre Instinkte hatten sie alle schließlich so weit gebracht.

Emma hingegen wollte nicht mitkommen. Sie habe andere Prioritäten, hatte sie Malenfant erklärt.

»Das Baby«, hatte sie ihm an diesem Morgen über ihrer einen kostbaren Tasse Kaffee am Tag zugeflüstert, die sie dem schrumpfenden, zehn Jahre alten Vorrat der Elektrod zu verdanken hatte.

»Die kleine Maria? Was ist mit ihr?«

»Bartholomew ist beunruhigt. Nadeschda, die Mutter, auch. Sie entwickelt sich nicht so, wie sie sollte.«

»Nun, das ist eine Supererde …«

»Jawohl, vielen Dank, Doktor Malenfant«, sagte sie mit schwerer Stimme. »Ich denke, Nadeschda hat das alles schon ganz allein herausgefunden. Aber ich glaube, es fällt ihr schwer, Bartholomew zu akzeptieren. Oder jedenfalls, ihn an die Kleine heranzulassen.«

Malenfant dachte darüber nach. »Also bleibst du in der Nähe, um zu vermitteln.«

»Für den Augenblick.«

Er nickte. »Was solls, dieser große weiße Weltraum-Wal wird so schnell nicht verschwinden, ebenso wenig wie wir. Weißt du, wenn die Leute nicht so verdammt kompliziert wären …«

»Wäre das Leben nicht so verdammt amüsant. Na los, hau schon ab.«

Also haute er ab.

Und stand kurz darauf zusammen mit den anderen im Schatten des Raumschiffs.

Selbst als abgestürztes Wrack war die Elektrod CMIX noch großartig.

Anna trat zurück und erlaubte den Besuchern, sie ein erstes Mal gründlich und in ihrem eigenen Tempo in Augenschein zu nehmen, begleitet von Vorsichtsmaßregeln wegen der Restradioaktivität, insbesondere im Maschinenraum.

Malenfant schritt das Schiff zunächst einmal von einem Ende zum anderen ab. Hundert große Schritte mit seinen langen Beinen vom stumpfen Bug bis zu den großen Triebwerksglocken am unteren Ende: hundert Meter, wie er vermutet hatte. Ein großer Teil des Rumpfes war im Erdreich verborgen, in das er sich beim Absturz gegraben hatte und aus dem in den seither vergangenen zehn Jahren zäh wirkendes Gras gesprossen war.

Dann ging er wieder zurück, am Schiffskadaver mit seinem gebrochenen Rückgrat entlang. Diesmal zählte er die Hilfstriebwerksdüsen, die aus den Seiten des Raumfahrzeugs ragten: insgesamt zwanzig, obwohl das eine symmetriebasierte Annahme war; da das Schiff auf der Seite lag, konnte er sie nicht alle sehen. Vorne beim Bug warf er einen Blick in die Überreste von Kabinen und vermutlich in ein Steuerdeck.

Noch langsamer ging er ein weiteres Mal am Schiff entlang. Hinter der Brücke und den Mannschaftskabinen im Bug sah er mittschiffs durch noch vorhandene Glasscheiben, dass die zentrale Sektion in eine Art Gewächshaus verwandelt worden war. Schalen mit vertrockneter Erde, verschoben und kaputt. Überall Rohrleitungen. Das Glas war zum großen Teil fort, offenbar beim Absturz zerbrochen; teilweise hatte man es durch Planen aus Pterosaurierleder ersetzt, um das Wetter draußen zu halten.

Und in der Sektion dahinter, wo Rumpfverkleidungen zerrissen oder abgefallen waren, sah er Strukturträger, die eine Reihe großer, kugelrunder Tanks trugen – jeder mit einem Durchmesser von ungefähr fünf Metern, schätzte er. Aufgereiht wie Erbsen in einer Schote füllten sie den Rumpf fast von einer Seite zur anderen aus. Es waren offenkundig Treibstofftanks für das große Triebwerk. Sie hatten irgendein Gas enthalten, das von den Fusionsenergien überhitzt und durch die Raketendüsen hinausgeschleudert werden konnte, um das Schiff vorwärtszutreiben. Dahinter, am Heck des Schiffes, befand sich wohl der Maschinenraum selbst, hinter massiv aussehenden Hüllenplatten.

Anna beobachtete ihn die ganze Zeit. Beobachtete auch die anderen, während sie ihre eigenen Erkundungen an stellten.

Schließlich gesellte er sich wieder zu Anna vorn an der Nase, wo der Name des Schiffes in metallenen Buchstaben prangte:

ЭЛЕКТРОД CMIX

Sie lächelte ihn an. »Sie haben gesagt, Sie seien selbst Pilot gewesen.«

»Sehr aufmerksam von Ihnen. Mittlerweile wissen Sie ja, dass mein Shuttle ein Schiff mit chemischem Antrieb war. Obwohl ich den Eindruck habe, dass wir in mancher Hinsicht vielleicht höher entwickelt waren.«

»Wirklich?«

»Elektronik. Steuersysteme. Materialwissenschaften.« Er machte eine Handbewegung zur Gewächshaus-Sektion. »Möglicherweise auch Lebenserhaltung.«

»Unser Ziel war es, den Weltraum zu begrünen. Die Konstruktion eines Schiffes muss die eigenen Ziele reflektieren, ebenso wie die verfügbare Technologie.«

»Ja, sollte man meinen«, sagte er trocken. »Irgendwann erzähle ich Ihnen mal was vom Bieterverfahren bei NASA -Subunternehmern.« Er deutete auf den Namen. » Elektrode . Richtig?«

Sie lächelte erneut, wenn auch ein wenig dünn. »Ein Name, der von Schulkindern ausgesucht wurde. Eigentlich von Lesern einer Wochenzeitschrift mit Superwissenschaftsgeschichten. Warum? Weil der Name aufregend klingt. Superwissenschaftlich, verstehen Sie? Selbst wenn er nichts mit Raumfahrt zu tun hat …

Ach! Wenn Sie dieses traurige Schiff doch nur in seiner Blütezeit gesehen hätten, auf der Startrampe im tiefen Kasachstan. Die Reihen von Kindern, die zusahen und auf den Start warteten. Der große Ziolkowski war selbst Lehrer, wissen Sie. Er lebte gerade lange genug, um Russlands erste Flüssigtreibstoff-Stratosphärenraketen, die Raketen der Kosmist -Serie, die im Wesentlichen auf seinem Entwurf, seiner Theorie basierten, 1935 fliegen zu sehen. Er bestand immer darauf, dass man den Kindern unsere Entwicklungen der Raumfahrttechnik erklären müsste …«

Also hatte Ziolkowski mit chemischen Treibstoffen experimentiert, zumindest in Annas Realität. Und in Malenfants Realität wahrscheinlich auch. Der Gedanke blieb in Malenfants Hinterkopf haften; er schien bedeutsam zu sein.

Josh kam durchs klebrige Gras herbei. Deirdra folgte ihm noch besorgter.

»Malenfant«, sagte Josh eifrig, »der große Maschinenraum am hinteren Ende des Schiffes, an der Basis …«

»Was ist damit?«

»Er ist völlig leer!«

Anna blitzte ihn an. »Ich habe euch doch gesagt, ihr solltet da hinten Abstand halten. Die Restradioaktivität …«

»Oh, ich war vorsichtig«, versicherte Josh. »Ich bin selbst in Schiffen mit Nuklearantrieb geflogen, vergessen Sie das nicht. Ich habe bloß einen Blick reingeworfen, da waren Risse im Rumpf … Aber das reichte, um zu erkennen, dass dort drin so gut wie nichts mehr übrig ist. Nur Stummel von Rohrleitungen, Elektronik an den Wänden. Da gibt es nichts zu bergen, Malenfant!«

Anna schien noch immer verärgert zu sein. »Was haben Sie denn erwartet? Wir haben Notfallprozeduren befolgt, als klar wurde, dass die Elektrod durch ihren Zusammenstoß mit dem blauen Reifen am Himmel stark beschädigt worden war …«

Josh schob die staubige Brille auf seiner kurzen Nase nach oben. »Darüber habe ich nachgedacht. Wir wissen, dass die blauen Reifen Lebensformen hierherbringen und miteinander vermischen. Aber vielleicht haben sie auch noch andere Funktionen. Vielleicht waren unsere Abstürze gar keine Unfälle . Vielleicht versuchen die Reifen auch, Technologie … fernzuhalten. Alles Hochentwickelte jedenfalls. Das heißt, diejenigen versuchen es, die hinter den Operationen der Reifen stecken – Ihre Ingenieure, nehme ich an, Malenfant. Also lassen sie die Reifen in der Luft patrouillieren und alles zerstören, was herunterkommt. Um eine Art Quarantäne aufrechtzu erhalten.«

»Ja«, sagte Anna. »Das leuchtet ein. Sie interessieren sich für uns , als Lebensformen, als Komponenten einer Ökologie. Eines Lebenssystems. Unsere Technologie könnte da störend wirken.«

Malenfant wandte sich an Anna. »Eure Landung. Ihr seid mit dem blauen Reifen zusammengestoßen. Und nach dem, was Josh gesehen hat, vermute ich, dass ihr den Nuklearkern abgeworfen habt? Notfallprozeduren?«

»Ja, über dem Meer – dem tiefen Meer im Westen, zwischen den Kontinenten, die ihr Kaina und Judecca nennt, nicht über den flachen Kontinentalschelfen. Natürlich müssen wir trotzdem Schaden angerichtet haben; radioaktive Stoffe werden noch jahre- oder gar jahrzehntelang aus dem Wrack austreten. Aber wenn wir ihn nicht abgeworfen hätten, hätten wir den Absturz wahrscheinlich nicht überlebt und dieser Welt noch mehr Schaden zugefügt. Unter den gegebenen Umständen konnten wir bei unserem Absturz nicht einmal mehr steuern, weil der atomare Antrieb auch unsere Lageregelungstriebwerke mit Energie versorgt hatte.«

Malenfant dachte darüber nach. »Sie meinen diese kleineren Düsen an den Flanken des Zylinders?«

»Ja, die sind mir aufgefallen«, sagte Josh. »Ganz schön wuchtige Dinger, was?«

Malenfant runzelte die Stirn. »Aber nutzlos ohne den atoma ren Antrieb. Wie auch der Rest dieses Wracks.« Er verspürte eine niederschmetternde Enttäuschung. Ein zerstörtes Triebwerk war eine Sache; das konnte man reparieren. Aber ein auf dem Meeresboden gelandetes Triebwerk ließ sich nicht mehr bergen. War er also schließlich doch auf dieser Welt gefangen – nachdem er tausend Kilometer weit gewandert war, um hierherzukommen?

Er blieb ruhig. Finde einen anderen Weg, Malenfant. Visualisiere das Ziel.

»Tja, falls wir jemals vorhaben, von hier wegzufliegen, werden wir auf die Torwächter achten müssen. Die Reifen. Ob sie zielstrebig vorgehen oder nicht. Vielleicht schießen sie startende Schiffe ebenso ab wie Neuankömmlinge. Wenn wir einige systematische Erkundungen durchführen, erkennen wir vielleicht Muster und können ihre Ankunft vorhersehen …«

Anna schüttelte verärgert den Kopf. »Unsinn. Sie reden von irrelevanten, hypothetischen Dingen. Wir können diesen Ort nie mehr verlassen. Kommt, folgt mir. Ich zeige euch den Rest von dem, was aus meiner Elektrod geworden ist.«