Ich brauche Ihre Erlaubnis nicht, um zu trauern, Colonel Malenfant.
Aber nein, ich wollte nicht … Tut mir leid. Es ist unmöglich, das Richtige zu sagen. Aber sehen Sie, Geoff, auch ich habe Leute verloren, die unter meinem Kommando standen.
Nicola Mott. Die zweimal gestorben ist, unter Ihrem Kommando und unter meinem.
Josh war sein eigener Herr. In technischer Hinsicht war er kompetenter als ich, und er kannte die Gefahren wahrscheinlich besser als jeder andere hier unten. Trotzdem hat er die Arbeit an dem Projekt fortgesetzt. Er war kein Actionheld. Aber ein Held war er auf alle Fälle.
Und dennoch war ich nicht an seiner Seite.
Hey, Sie haben ganz allein das Sonnensystem erkundet. Grandiose Leistung. Ich weiß, wie sehr Josh das bewundert hat. Wie sehr er Sie bewundert hat, Sir.
Ich … ach, verdammt. Ich war zu lange allein. Hatte zu viel Zeit, um vor mich hinzubrüten, verstehen Sie … Ich will ganz offen sein, Malenfant. Manchmal habe ich mich gefragt, ob Sie ihn nicht überfordert haben. Aber es ist auch durchaus möglich, dass wir genau dieselben Entscheidungen getroffen hätten, wenn ich dort unten bei euch gewesen wäre, auf dem Boden. Und bevor Sie mir das Wort aus dem Mund nehmen, Malenfant, ja, wir können Lieutenant Morris jetzt am besten dadurch ehren, dass wir Ihre verdammte Rakete fertig bauen und euch von diesem elenden Planeten herunterholen.
Wir alten Fürze denken wirklich sehr ähnlich, nicht wahr?
Alte Fürze? Sie sind es doch, der ein Raumschiff baut, das von Fürzen angetrieben wird.
Ha! Eins zu null für Sie. Okay, ertappt. Aber ich sage Ihnen, worüber Josh bestimmt auch noch gern etwas erfahren hätte, wenn er bis zu Ihrer Rückkehr am Leben geblieben wäre: Was Sie bei der Erde gefunden haben.
Ah. Die Einsatznachbesprechung.
Also gut.
Es ist nicht unsere Erde, Malenfant.
Nicht in ihren elementarsten Details. Das ist das Erste, was man festhalten muss. Zunächst ist sie etwas massereicher als unsere. Eine Umdrehung dauert nur acht Stunden, keine vierundzwanzig. Und – sie hat keinen Mond. Nun, so viel konnten wir schon aus der Ferne erkennen.
Ich habe den Planeten einige Tage umkreist und auf vielfältige Weise Daten zusammengetragen, unter anderem durch spektroskopische Untersuchungen und dergleichen – ein Blick auf die Streuung des Sonnenlichts durch die Atmosphäre eines Planeten an dessen Horizont kann einem etwas über die Luftzusammensetzung verraten –, und ich habe auch Radarerkundungen weiter Teile der Oberfläche vorgenommen.
Es ist eine Welt voller Wolken, mit dicker Luft. Hundert Bar, Malenfant. So hoch ist der Atmosphärendruck an der Oberfläche, das Hundertfache des Drucks auf Höhe des Meeresspiegels auf meiner und Ihrer Erde. Vom Weltraum aus gesehen ist sie sogar sehr hell, wie die Venus, aber die Oberfläche ist ständig verborgen.
Die Zusammensetzung der Luft unterhalb der Wolken unterscheidet sich jedoch von der unserer eigenen Erde. Sie be steht zum großen Teil aus Stickstoff, Kohlendioxid und Wasser. Und es gibt sehr hohe, recht hübsche Methanwolken, Malenfant! Wenn wir dort wären, könnten wir Ihren Treibstoff abschöpfen, indem wir kurz in die Atmosphäre eintauchen.
Aber kein Sauerstoff in der Luft. Kein freier Sauerstoff.
Richtig. Ein weiterer entscheidender Unterschied zu unserer Erde. Trotzdem habe ich nach Leben gesucht. Wäre Josh Morris bei mir gewesen, hätte er das mit Nachdruck von mir verlangt. Es gibt Lebensformen, die keinen Sauerstoff benötigen – für die er sogar schädlich ist. Und ich dachte, ich hätte schon von den orbitalen Untersuchungen her brauchbare Indizien dafür, dass es dort unten derartiges Leben geben müsste. In diesem Höllenloch von einer Erde.
Was für Indizien?
Das sollten Sie wissen, Malenfant. Ich habe es Ihnen gerade erzählt …
Methan. Diese hohen Wolken.
So ist es. Sie sind ein Indiz für eine andauernde Produktion des Gases, und seien es auch nur Spuren, in den tieferen Luftschichten. Methan ist instabil, wissen Sie. Reaktiv. Das heißt, es verbindet sich bereitwillig mit anderen chemischen Stoffen – natürlich genau das Prinzip, das ihr euch für den Antrieb eures Stinkbomben-Töfftöffs zunutze machen werdet. Also müsste es eigentlich abgebaut werden. Deshalb ist das Methan in der oberen Atmosphäre höchstwahrscheinlich ein Anzeichen für Leben, zumindest für methanogenes Leben – etwas, das dieses Methan produziert – in den tiefe ren Luftschichten, den flachen Meeren, auf dem Land … vielleicht sogar unter der Erde.
Aber was sollte ich machen? Ich kreiste hilflos um den Planeten, ohne eine Landefähre. Wenn ich eines von Josh Morris gelernt habe, dann, dass man nah herangehen muss, um sicher sein zu können, dass es überhaupt Leben gibt, sofern es nicht den ganzen Planeten umhüllt, wie auf unserer Erde.
Ja. Ich weiß noch, wie wir bei Persephone eintrafen – Persephone I, der Version draußen in der Kometenwolke. Ihr hattet eine Basis auf Melinoe, diesem kleinen Mond …
Und Josh, der dort stationiert war, hatte Leben in den oberen Eisschichten dieses Mondes gefunden. Ich weiß. Er hätte sich danach gesehnt, mit seinem Probenset und seinen Notizbüchern dort unten zu sein, selbst wenn wir ihn mit dem Fallschirm hätten absetzen müssen.
Und darum – nun, ich habe mich auf mein Glück verlassen und bin mit der armen Harmonia in die Atmosphäre eingetreten. Bin hinuntergeglitten bis zur Stratosphäre, um Proben aller Lebensformen zu sammeln, die sich in den oberen Luftschichten finden mochten. Ich meine, ich habe eine direkte Probenentnahme durchgeführt – mithilfe der Andockschaufel.
Ein Abstieg in die Atmosphäre. Wow. Ein ganz schönes Risiko.
Allerdings. Aber ich war der Meinung, dass es sich lohnen würde.
Ich war vorsichtig. Die Atmosphäre reichte bis in große Höhe und wurde nur langsam dicker – was mir half, wie Sie sich vorstellen können. Ich flog mit dem Hintern, habe mich großenteils vorangetastet. Übrigens gab es brutal starke Winde, die mich beharrlich von Osten nach Westen schieben wollten. Mein Flug durch die oberen Luftschichten dauerte nur ein paar Stunden. Aber ich ließ jedes Instrument im Schiff Ausschau halten, zusätzlich zu meinen eigenen beiden Glubschern …
Ich sah Land, ich sah Meer, ich sah vulkanische Gebiete, die riesigen Wunden glichen, feuerrot, und Gase ausstießen. Die Oberfläche ist heiß, fast am Siedepunkt von Wasser. Aber es gibt flüssiges Wasser auf dieser Oberfläche. Flachmeere – tatsächlich ist ein Großteil der Oberfläche von Wasser bedeckt. Es gibt kleine, verstreute Kontinente, keiner größer als Australien, soweit ich erkennen konnte, sodass das Antlitz des Planeten eher einem gewaltigen Archipel ähnelt.
Und ich sah Leben.
Keine Tiere, nicht einmal Vegetation, wie wir sie kennen. Keine Wälder, Malenfant, kein Grasland. Lediglich … Teppiche. Rötliche Kleckse auf felsigem Grund. In den Flachmeeren ebenfalls. Ganze Bänke, die an die Hänge einiger großer Vulkane spülten; vielleicht ernährte sich das Zeug von ihren Gasen oder ihrer Hitze oder von Mineralien, die durch Risse in der Kruste nach oben transportiert wurden.
Rötliche Kleckse?
Das ist alles. Aber sie waren überall. Und an manchen Stellen mehr als Kleckse. Selbst von hoch oben aus glaubte ich, Strukturen ausmachen zu können – Spuren von Netzen. Aber mit Sicherheit kann ich es nicht sagen, und auf den ziemlich verschwommenen Fotos, die ich gemacht habe, war nichts zu erkennen.
Es ist mir jedoch gelungen, Spuren dieses Lebens einzufangen. Ich bin über ein vulkanisches Gebiet geflogen – dort gab es Geysire, heiße Quellen, die Wasser und Dampf ausstoßen, nicht viel anders als in manchen Teilen von Island; vulkanische Hitze wirkt auf unterirdisches Wasser ein und erzeugt Wolken, die hoch in die Luft steigen. Ich bin darüber hinweggeflogen, durch Geysir-Dampfwolken, verstehen Sie, in der Hoffnung, etwas von diesem Dampf und dem darin enthaltenen Detritus würde vielleicht hoch genug aufsteigen, dass ich eine Spur davon einsammeln konnte.
Und hat es funktioniert?
Das kann ich voller Stolz bejahen. Aber sonst hätte ich Ihnen wahrscheinlich auch nichts davon erzählt, nicht wahr? In den Schwaden aus heißem, wässrigem Stickstoff, die ich abgeschöpft habe, gab es eine sehr niedrige Konzentration von biologischen Stoffen. Aber einige davon waren lebensfähig – ich meine, lebendig.
Thermophile. Wärmeliebende Organismen.
So ist es. Nur Mikroben, aber offensichtlich bestens an ihre Umgebung angepasst und fähig, selbst einen Ritt in die oberen Luftschichten auf der Dampffontäne eines Geysirs zu überstehen. Zäher als Sie oder ich, Malenfant!
Und ich glaube, dass ich in diesem Augenblick angefangen habe, die Wahrheit zu erkennen. Vielleicht haben Sie’s auch erraten.
Welche Wahrheit?
Wir reden immer so leichtfertig von »unseren« Erden, Malenfant. Meine Erde, Ihre Erde, als wären das die einzig denkbaren Möglichkeiten. Nun kam mir der Gedanke, dass ich da etwas Tiefgründigeres, etwas Bedeutsameres sah. Ich hatte den Eindruck, hoch über so etwas wie einer konservierten Erde dahinzufliegen … Und die Anwesenheit der Besucher in diesen tristen Landschaften verstärkte diesen Eindruck noch.
Besucher?
Ah. Ich habe sie noch nicht erwähnt. Hielt es für besser, Ihnen die Neuigkeit erst einmal vorzuenthalten. Alles zu seiner Zeit, Malenfant.
Eine konservierte Erde? Inwiefern konserviert?
Eine Erde ohne Mond.
Wir sind wieder bei der Entstehung des Sonnensystems. Jedenfalls dieses Sonnensystems. Ich weiß noch, dass ich mit Deirdra darüber gesprochen habe, nach der Rückkehr von meinem vorherigen Ausflug zu den anderen Welten, Venus und Merkur.
Ich erinnere mich. Wir anderen haben später darüber diskutiert.
Die andersgearteten Schicksale aller inneren Planeten in diesem seltsamen Sonnensystem müssen gleichzeitig korrigiert worden sein. Und mit demselben Korrekturprozess. In einem Zeitalter, als die inneren Planeten noch darum kämpften, geboren zu werden.
Zu jener Zeit gab es eine große Menge planetarer Embryos, die im inneren System herumwirbelten, Malenfant – Baby-Welten, manche so groß wie der spätere Mars. Die Planeten, wie wir sie kennen, gingen aus einer Reihe vernichtender Kollisionen und Vereinigungen hervor.
Nun gut. So entstand die Erde – jedenfalls eine Erde. Eine Kugel aus Gestein und Eisen, alles geschmolzen aufgrund der Energie der gewaltigen Kollisionen. Das Innere konsolidierte sich rasch, das heiße, schwere Eisen sank ab und bildete den schweren Kern unter einem Gesteinsmantel und einer sich verfestigenden Kruste. Nach dem raschen Verlust einer primitiven Wasserstoffatmosphäre, einem Überbleibsel des formgebenden protoplanetaren Nebels, bildete sich durch die Ausgasungen gewaltiger Vulkane eine dicke neue Atmosphäre.
Nach diesem anfänglichen Entstehungsprozess scheint sich das Leben zumindest auf der Erde sehr schnell etabliert zu haben. Josh hat mir immer begeistert davon erzählt, dass wir selbst in den ältesten Gesteinen, die auf unserer Erde entdeckt wurden, Spuren von Leben gefunden haben.
Aber woher kam es?
Vielleicht entstand es spontan, auf der Erde. Vielleicht wurde es von woanders her ausgesät – vom jungen Mars vielleicht, der sich schneller abgekühlt haben dürfte als die Erde und darum früher günstige Bedingungen für das Leben geboten haben sollte.
In diesem System hier gibt es keinen Mars.
Richtig. Aber wenn es woanders entstanden wäre , hätte die Erde durch Gesteinsbrocken besät werden können, die durch Einschläge von der einen oder anderen Welt weggesprengt worden wären. Eine zufallsbedingte Verbreitung Leben tragender Fragmente.
Oder es wurde mit Absicht ausgesät, wollen Sie andeuten. Von irgendwelchen Akteuren.
Tja, möglich wäre es wohl. Wir haben darüber spekuliert, Malenfant, über einen himmlischen Bauern, der zwischen den glühend heißen, noch nicht vollständig ausgebildeten jungen Welten herumläuft und irgendwelche Lebenssaaten ausbringt.
Und auf dieser Erde habe ich letztendlich Leben gefunden. Und zwar unsere Art von Leben.
Da sind Sie sich sicher, ja?
Nein, verdammt noch mal. Ich bin zwar ein Hansdampf in allen Gassen – so wie wir alle bei der RASF –, aber kein Fachmann für Biologie, geschweige denn für Biochemie. Ich bin jedoch so sicher, wie ich es nur sein kann.
Sehen Sie, ich habe beobachtet, wie diese kleinen, aus der Luft geschöpften Mikroben wuchsen und sich in den ihnen zugeführten Nährstoffen vermehrten – einer Suppe aus Gesteinspulver in einer Atmosphäre aus Stickstoff und Wasser. Natürlich brauchten sie kein Licht. Sie brauchten die Sonne nicht. Sie waren chemoautotroph, bezogen ihre Energie also aus der Wärme und dem Mineralgehalt des Gesteins. Und ich stellte fest, dass sie hitzetolerant waren – sie konnten sogar sehr hohe Temperaturen vertragen.
Natürlich habe ich all das nur herausgefunden, indem ich große Mengen von ihnen vergiftet oder gebraten und damit umgebracht habe.
Mein alltagsbiologisches Wissen reicht aus, um zu erkennen, was Sie da beschreiben. Wir haben sie Archaeen genannt. Die ältesten Bakterien, die ältesten Lebewesen auf der Erde. Angepasst an große Hitze, eine giftige Umgebung …
Giftig für Sie und mich, das schon. Aber nicht für sie. Nun, so sahen sie aus; so funktionierten sie. Aber woraus bestanden sie? Mit dieser Frage habe ich mich im Labor meines einsamen Raumschiffs auf meine ungeschickte Weise ausführlich beschäftigt.
Nachdem ich eine stattliche Anzahl meiner Gäste umgebracht hatte, nahm ich sie nun rabiat auseinander, um etwas über ihre Biochemie zu erfahren. Ich stellte rasch fest, dass sie der unseren glich: Kohlenstoffchemie in Wasser. Ich erkannte Proteine, Lipide, Kohlehydrate, Aminosäuren, sogar Nukleinsäuren – Malenfant, das war eindeutig ein Fall von Leben auf der Basis von Proteinen in Wasser, das unserem auf der Ebene der Grundbestandteile in jeder Hinsicht so ähnlich war, wie es nur ging. Aber wie groß war die Ähnlichkeit auf der Ebene höherer Komplexität?
Das versuchte ich herauszufinden.
Aminosäuren. Lassen Sie sich das durch den Kopf gehen. Diese Moleküle sind die Bausteine unserer Art von Leben und prägen seine Funktionsweise. Die Chemiker kennen mehr als dreitausend Aminosäuren. Unsere Art von Leben beruht auf nur einundzwanzig davon – und es gibt noch eine weitere Selektionsmöglichkeit, nämlich nach der linkshändigen oder rechtshändigen Orientierung ihrer Strukturen. Man hat also einen Satz von einundzwanzig aus mehr als sechstausend Möglichkeiten.
Und ich stellte fest, dass derselbe Einundzwanzig-Säuren-Satz, der von unserem Leben benutzt wird, auch von den Archaeen der hiesigen Erde benutzt wird. Genau derselbe . Überlegen Sie mal, wie wahrscheinlich das ist! Also, die Anzahl aller möglichen Einundzwanzig-Säuren-Kombinationen …
Sicherlich könnten nicht alle diese Kombinationen eine funktionsfähige Biochemie hervorbringen.
Nein, sicherlich nicht. Vielleicht nur sehr wenige. Aber es ist schwer zu glauben, dass es, chemisch gesehen, nur einen einzigen möglichen Aminosäurensatz gibt, mit dem es klappen würde. Nicht nur das, auf den höheren Ebenen sind die Nukleinsäuren, die Proteinstrukturen …
Auch dieselben wie bei uns?
Sie haben’s erraten. Das ist es, was ich herausgefunden habe.
Und ich bin noch weitergegangen.
Es ist mir gelungen, Stränge des Genmaterials, der DNA meiner robusten Gäste zu separieren. Die habe ich mit Strängen terrestrischer DNA aus Proben verglichen, die ich meiner Ansicht nach ähnlichen Organismen von der Erde entnommen hatte. Wir haben eine richtige Sammlung solcher Exemplare an Bord der Harmonia , alle in winzigen Scheibchen gelagert …
Die Genetik ist nicht identisch – wie nicht anders zu erwarten. Aber der grundlegende genetische Mechanismus von DNA , RNA und Proteinen ist eindeutig ähnlich. Und die Ähnlichkeit der genetischen Codierung scheint mir ebenfalls groß zu sein – jedenfalls wenn man bedenkt, dass seither etliche Milliarden Jahre evolutionärer Divergenz verstrichen sind. Die Genetik ist in gewissem Maße konservativ. Sie, Malenfant, haben rund sechzig Prozent Ihrer Gene mit der durchschnittlichen sauerstoffhassenden, wärmeliebenden unterirdischen Mikrobe auf der Erde gemein.
Und nicht nur das – die Biochemie, der Aminosäurensatz, ist ebenfalls identisch mit jener von Lebensformen, die wir woanders entdeckt haben. Ich meine, bei der ersten Persephone, Malenfant. Auf Melinoe, deren Mond, wie der arme Josh entdeckt hat. Denken Sie darüber nach. Es ist unglaublich!
Wow. Okay. Sie haben mich davon überzeugt, dass diese schwere, erstickte, sich schnell drehende Erde in der heutigen Zeit die Heimat von Lebewesen wie unseren Archebakterien ist – den ersten Lebewesen auf unserer Erde. Was wir nicht sagen können …
Was wir nicht sagen können, ist, ob diese spezielle Erde diese Grundbausteine des Lebens selbst hervorgebracht hat. Oder ob sie von einer anderen Welt kamen, einer anderen Erde in einem anderen Winkel der Mannigfaltigkeit – vielleicht von Ihrer oder meiner Erde – oder woanders her, vielleicht von einem Mars. Oder sogar von Melinoe. Aber ich gelange zunehmend zu der Überzeugung, dass es nur ein einziges Ursprungsereignis gegeben haben kann. Irgendwo da draußen in der Mannigfaltigkeit. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein im Entstehen begriffenes System des Lebens immer und immer wieder genau denselben Aminosäurensatz aussucht, scheint mir grotesk gering zu sein. Ein Ursprung, entweder hier oder … woanders.
Hm. Da ist was dran. Die Sache wird immer mysteriöser.
Und es gibt noch immer vieles, was wir nicht wissen. Ich habe die hiesige Erde übrigens Nullachtfünfzehn genannt, Malenfant. Die Nullachtfünfzehn-Erde. Im Nullachtfünfzehn- System.
Nullachtfünfzehn?
Wegen dem, was als Nächstes geschehen ist. Oder vielmehr, was bei dieser Erde offensichtlich nicht als Nächstes geschehen ist. Sie scheint von weiteren kosmischen Evolutionen … unberührt geblieben zu sein.
Sie hat nämlich keinen Mond.
Und das bedeutet, dass es keinen Einschlag gegeben hat, bei dem ein Mond hätte entstehen können, Malenfant. So wie es hier auch keinen finalen, das Antlitz des Planeten prägenden Einschlag auf dem Merkur gegeben hat. Und auf der hiesigen Venus vielleicht ebenso wenig …
Lassen Sie mich raten. Jemand hat bei der Migration der Riesenplaneten die Finger im Spiel gehabt. Die all diese Impaktoren im System herumschleuderte.
Vielleicht eine Modifikation durch ganz geringfügige Anstöße. Die Persephone-Raketen, die eine relativ unwichtige Welt hierhin und dorthin schieben und damit eine Kaskade von Störungen verursachen. Das halte ich für am wahrscheinlichsten. Während sich die inneren Planeten bildeten, zogen die äußeren Planeten nämlich die ganze Zeit wie Panzer im Manöver ihre spiralförmigen Bahnen und stürzten den verbliebenen Schwarm von Planetesimalen ins Chaos. Darüber haben wir schon gesprochen. Diese gewaltige Jupiter-Migration war der Motor der Weltenmaschine und in Deirdras Zeitlinie auch der Motor für die Verschiebung Shivas und Persephones – jene Verschiebungen, die zur Entstehung des Zerstörers führen würden, zum Ende ihrer Erde.
Okay. In unserem System bekam der Mars also einen Schlag gegen den Nordpol, bei dem ein Krater entstand, der sich bis zum Äquator erstreckte. Merkur wurde ein großer Teil seines Mantels abgerissen. Die Venus erwischte es so schwer, dass sie sich rückwärts zu drehen begann. Und unsere Erde wurde so hart getroffen, dass sich der Mond abspaltete.
Das ist das Modell. Ich habe es nachgeschlagen, obwohl die Schlussfolgerungen in meiner Zeit sich in Details von euren unterschieden haben mögen … Aber nicht hier. Nicht hier. Vermutlich dank der Ingenieure und ihrer Einmischung ist hier nichts von alledem passiert, soweit ich erkennen kann. Natürlich hat der Einschlag für unsere Erde alles verändert. Für unsere Erden .
Die Archaeen haben jedoch offensichtlich überlebt. Auf unserer Erde.
Aber in einer stark veränderten Welt. Die alte Erde, die Nullachtfünfzehn-Erde, die Heimat der Archaeen, gab es nicht mehr. Sogar die Atmosphäre war verloren, weggesprengt – ersetzt durch eine dünnere Luft aus Stickstoff und Kohlendioxid, Stoffen, die von den Vulkanen ausgegast oder von Kometen mitgebracht wurden.
Danach begann sich unsere Erde abzukühlen. Selbst das war schlecht für die Archaeen, als sie aus ihren Schlupfwinkeln krochen; die alten Thermophilen mussten sich von der Oberfläche einer Welt zurückziehen, die einst ihnen gehört hatte. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Als die Luft klar wurde, erreichte Sonnenlicht die Oberfläche, und die ersten Fotosynthese betreibenden Bakterien entwickelten sich. Sie benutzten die Energie des Sonnenlichts, um die Kohlendioxidluft aufzuspalten, konstruierten mit dem Kohlenstoff ihre Körper und setzten Sauerstoff als Abfallprodukt in die Atmosphäre frei.
Sauerstoff. Gift für die Archaeen. Ein doppelter Rückschlag.
Danach schritt die Evolution zügig voran. Bald gab es etwas als Plankton Erkennbares in den Ozeanen. Vor ungefähr einer Milliarde Jahren dann die ersten Schwämme – die ersten vielzelligen Tiere. Und bald darauf wurmähnliche Geschöpfe mit innerem Verdauungssystem.
Unsere Vorfahren.
Ganz recht. Zugleich wurden die Archaeen auf Spuren reduziert, die sich im Tiefengestein festklammerten. Die Geologen nennen es die Große Sauerstoffkatastrophe. Sie hätten es auch Große Sauerstoffausrottung nennen können.
Hier aber nicht. Sie sprechen von Ausrottung. Ich glaube, ich erkenne das Muster.
Was für ein Muster?
Wissen Sie, Lighthill, es ist wirklich schade, dass Josh nicht hier ist, um das zu erörtern. Denn unten auf Persephone erkannte er als Erster, was wir sahen.
Und was war das?
Zufluchtsorte, die Schutz vor der Ausrottung bieten.
Sehen Sie, wir wissen, dass Aussterbeereignisse auf der Erde immer wieder Tabula rasa gemacht haben. Wenn der große Vulkan ausbricht, wenn der Einschlag kommt, der alle Dinosaurier tötet. Ganze Familien von Lebewesen werden eliminiert, die Überlebenden breiten sich aus, und die Evolution fängt wieder ganz von vorn an und füllt leere Nischen in einer veränderten Landschaft.
Ah. Aber auf Persephone …
Wie gesagt, auf Persephone haben wir Dinosaurier gefunden. Und auch andere, sehr exotische, uralte Biota – exotisch hat Josh sie genannt. Wir sind sogar ausgestorbenen Homininen begegnet. Wir haben darüber spekuliert, ob Persephone vielleicht einmal leer gewesen war, dann jedoch künstlich durch ein Besiedlungsprojekt bevölkert wurde – Transfers von gefährdeten Populationen, Spezies, über die Mannigfaltigkeit hinweg an einen Ort, wo sie weiterexistieren konnten.
Hm. Ich erinnere mich, dass Sie davon gesprochen haben. Aber es ist kein simpler Zufluchtsort, oder? Nicht bloß ein Zoo. Wie ich höre, habt ihr eine Neandertalerin gesehen, die auf einem Pterosaurier in den Himmel geritten ist!
Ganz recht. Also gehört es vielleicht zum Projekt, Sachen zu vermischen. Ich weiß es nicht.
Experimentelle Ökologien. Ja, das könnte ich mir vorstellen. Eine Methode, das Potenzial des Ganzen zu sondieren. Aber was die Nullachtfünfzehn-Erde betrifft – ah! Ich verstehe, was Sie meinen. Sie passt ins Muster.
Weil diese Welt, diese Version der Erde …
… ein Zufluchtsort ist, nicht für Höhlenmenschen oder Dinosaurier, sondern für die ersten Bewohner des Planeten. Die Archaeen. Die – hier zumindest – vor dem allerersten Aussterbeereignis bewahrt wurden: der Großen Sauerstoffkatastrophe. Und man könnte eine solch fundamental andere Biosphäre wie die der echten Archaeen in ihrer vollen Blüte, abhängig von einer fundamental anderen Atmosphäre, nur auf einem ganz eigenen Planeten bewahren. So wie wir es hier sehen. Wundervoller Gedanke! Es passt alles zusammen, nicht wahr?
Schade, dass Josh nicht mehr miterleben kann, wie sich diese Hypothese bestätigt. Ganz zu schweigen davon, wie sie mit seiner Entdeckung auf Melinoe zusammenhängt.
Ja. Aber damit bestätigt sich auch eine ergänzende Hypothese, die ich selbst aufgestellt habe.
Worüber?
Über die Besucher.
Ah. Die haben Sie schon erwähnt.
Ich schicke Ihnen die Aufnahmen …
Malenfant? Sagen Sie mir, was Sie sehen.
Hm. Die Bilder sind ziemlich fragmentarisch …
Ja, dafür bitte ich um Entschuldigung. Sie wurden von einem Raumschiff aus aufgenommen, das im Tiefflug durch eine Atmosphäre schoss, die schlimmer war als der dickste Londoner Nebel.
Okay, okay. Sie sind ein heldenhafter Pilot, ich weiß.
Ich sehe etwas, was eher wie … Roboter aussieht als wie etwas Biologisches.
Auf einem Ihrer Bilder sieht man vielleicht ein paar Dutzend, die in einem groben Kreis arbeiten. Jeder hat einen kastenförmigen Kern – nein, es ist komplizierter.
Ich glaube, die Hauptkörper sind Ikosaeder. Zwanzigflächner. Der denkbar komplexeste platonische Körper. Geometrische Perfektion, wissen Sie, mehrfache Symmetrien … Aber ich lese vielleicht zu viel in die verschwommenen Bilder hinein.
Die Dimensionen sind schwer zu erkennen – es gibt nichts, woran man sie messen kann.
Ich habe Radarechos, die darauf schließen lassen, dass sie ein paar Meter groß sind, das ist alles.
Sie haben Gliedmaßen, stimmt’s? Einige zur Fortbewegung, andere, um Dinge aufzuheben? Diese Manipulatoren sehen sehr fein aus. Sehen Sie, wie sie sich teilen – sich gabeln –, wie Zweige an einem Ast. Ich erinnere mich an ein spekulatives Design für einen Mehrzweckroboter, ohne humanoide Gestalt wie Bartholomew … Viele Gliedmaßen, so wie hier. Buschroboter.
Offensichtlich ein sehr praktisches Design. Sehr vielseitig. Und … symmetrisch, sehen Sie das, Malenfant?
Ja. Sie sehen anscheinend genauso aus, wenn sie auf eine Seite kippen oder sogar ganz umgedreht werden.
Als wären sie an eine Umgebung ohne klares Oben oder Unten angepasst.
An den Weltraum, meinen Sie.
Ich glaube schon. Sie reagieren seltsam phlegmatisch auf diese Entdeckung, Malenfant.
Na ja … Es ist bloß Technologie. Und die haben wir ja schon auf der ersten Persephone gesehen, nicht wahr? Diese unmöglichen Türme. Vielleicht bin ich ja ein bisschen abgestumpft. Also, was machen die da unten?
Ich war mir nicht sicher. Aber nun haben wir ja die Vermutung angestellt, dass diese Nullachtfünfzehn-Erde eine Art Reservat für Archaeen ist, nicht wahr. Also sind sie vielleicht Gärtner?
Ha! Kann sein. Sie nehmen Proben. Und jäten womöglich. Reißen alle hässlichen fotosynthetischen Sauerstofffurzer aus, die als Sporen von einer anderen Welt heruntergesegelt kommen. Und fungieren vielleicht als Agenten derjenigen, die … nun, die all das überhaupt erst organisiert haben, wer auch immer sie sein mögen.
Ja. Malenfant, nur damit das klar ist: Sie glauben nicht, dass wir hier die Ingenieure selbst sehen?
Sie etwa? Mir scheinen sie nicht hoch genug entwickelt zu sein.
Ich wette, sie könnten diese Fusionsraketentürme bauen, die wir auf Persephone I gefunden haben. Und ich wette, sie könnten sich selbst bauen – sich in gewissem Maße reproduzieren.
Aber sie sehen so aus, als wären sie lediglich Werkzeuge. Intelligente Werkzeuge, aber eben nicht mehr. Sicherlich nicht fähig, Mannigfaltigkeitstechnologie zu entwickeln – höherdimensionale Portale in Marsmonden oder blaue Ringe … Ich habe so das Gefühl, dass es noch viel mehr zu entdecken gibt.
Ja. Aber ich habe diese Welt – die Nullachtfünfzehn-Erde – trotz all ihrer Fremdartigkeit wertzuschätzen begonnen. Bei meiner Ankunft dachte ich, eine derart hässliche Welt könnte es einfach nicht geben, Malenfant, schon gar nicht eine entstellte Kopie der Erde. Jetzt, nach dieser Mission, denke ich nur, dass diese Nullachtfünfzehn-Erde in mancher Hinsicht die schönste ist, die man sich vorstellen kann – ein Reservat für Lebensformen, die fast fünf Milliarden Jahre alt sind.
Nun ja. Das ist mein Bericht.
Wollen wir jetzt über eure Rakete sprechen?