Du hast also angefangen, die Mannigfaltigkeit zu erkunden.
So ist es. Wenn du die Augen schließt, kann ich es dir zeigen.
In meinem Kopf? Ich … okay. Ich schätze, es ist auch nicht schlimmer als bei den Armreifen.
Sag mir, was du siehst.
Hm … Einen Planeten. Wie Jupiter, dicke Lufthülle, Wolkenbänder über seiner Vorderseite, aber die Farben sind blass, das Sonnenlicht ist hell. Kein Mond … Oh. Die Erde . So hätte die Erde ohne Mond ausgesehen. Wie Geoffs Nullachtfünfzehn-Erde. Kein Einschlag.
Richtig. Größer, eine dickere Atmosphäre – nicht so günstig für komplexes Leben, aber ein idealer Inkubator für primitives – die Welt, auf der sich dieses primitive Leben schließlich entwickelt hat.
Eine andere Erde.
Oh. Wieder Wolkenbänder. Aber sie sieht aus, als wäre sie umgekippt. Wie Uranus?
Eine Erde, die durch einen streifenden Einschlag zur Seite gekippt wurde: Die Pole blieben in der Ebene des Sonnensystems liegen. Auf dieser Welt gibt es starke jahreszeitliche Schwankungen; große Wanderungsbewegungen des Lebens spülen über sie hinweg, vom Winterpol zum Sommerpol. Der am höchsten entwickelte Hominine auf diesem Planeten ist ein Neandertaler-Typus. Robust, widerstandsfähig.
Wie die Hams auf Persephone II … Wie sind diese Neandertaler denn dorthin gekommen? Oder die Hams zur Persephone, wenn wir schon dabei sind.
Alles zu seiner Zeit. Weitere Beispiele.
Dieser Mond ist hell … Eine Welt mit einem größeren Mond als meine Erde?
Ja. Ihre gewaltigen Gezeiten machen die Küsten dieser Erde unbewohnbar und wühlen die Meere auf. Hier wurden die großen Ozeane erst überquert, als es Flugreisen gab, und auf den Kontinenten entstanden disparate Kulturen. Es kam sogar zu disparaten Evolutionen.
Jetzt …
Ich sehe einen noch größeren Mond, mit eigenen Meeren und Kontinenten.
Jetzt …
Zahlreiche Monde, allesamt klein, wie das System der Jupi ter-Satelliten.
Jetzt …
Eine Erde mit Ringen wie Saturn …
Jetzt …
Hör auf. Bitte. Ich kann das nicht alles verdauen.
Stopp.
Bartholomew, der Arzt, der jetzt in mir lebt, tadelt mich, weil ich dich ermüde.
Aber all diese Beispiele wurden durch die Manipulation eines einzigen Ereignisses erzeugt, verstehst du: jener Kollision, die zur Entstehung des Mondes geführt hat. Und ich habe das Leben verbreitet, in einer alternativen Version nach der anderen. Einem neuen Schicksalsstrang nach dem anderen.
Eine Erde habe ich jedoch unbeschädigt gelassen, unberührt von gewaltigen Kollisionen. In einem Sonnensystem, das ebenso geschützt wurde.
Das Nullachtfünfzehn-System.
Es war … eine Art Referenzpunkt. Später habe ich es als Zufluchtsort benutzt. Als Reservat, wenn man so will. Das war nützlich, angesichts umfangreicher Projekte.
Okay. Lass mich zusammenfassen. Biochemisches Leben entstand nur ein einziges Mal, auf der Ersten Erde. Das war der Mutterschoß. Du erschaffst die Mannigfaltigkeit, all diese alternativen Erden. Keine trägt eigenes Leben. Und dein Eismond hier, mit seinem warmen Inneren, seinen Geysiren, ist eine Maschine für das, was Malenfant wohl Panspermie nennen würde, denke ich.
Also hast du Proben gesammelt und bist damit zu alternativen Versionen des Sonnensystems gereist. Richtig? Wo die Erde nicht spontan Leben hervorgebracht hatte. Und hast sie besät.
So ist es. Ich habe die Mannigfaltigkeit durchquert. Einen Baum sich verzweigender, miteinander verbundener Möglichkeiten.
Für gewöhnlich erfolgte die Aussaat jedoch indirekt. In den meisten Iterationen wurde der Mars – oder Demeter oder eine entsprechende Welt – als Erstes lebensfreundlich. Noch vor der Erde, meine ich. Da der Mars kleiner ist, hat er seine dicke, urzeitliche Atmosphäre leichter eingebüßt, und auf seiner Oberfläche hat sich zuerst flüssiges Wasser angesammelt … Auf dem Mars entstand kein Leben, aber er war ein brauchbarer sekundärer Inkubator. Die Tragödie für den Mars bestand jedoch in den meisten Iterationen darin, dass er einfach zu klein war, um seine dicke, feuchte Luft festzuhalten …
Abgesehen von Sonderfällen. Zum Beispiel, wenn er um Persephone kreiste.
Ja. Aber zu dem Zeitpunkt, als auf dem Mars alles abgestorben war, hatten natürliche Prozesse das von mir ausgesäte Leben zumeist schon zu anderen Welten weitergetragen.
Das verstehe ich alles … glaube ich. Meteoriten schlagen ein, sprengen Brocken von Leben tragendem Gestein weg. Die dann durchs All treiben, bis sie auf anderen Welten landen – zum Beispiel auf der Venus? Auf Europa? Und ihre Passagiere dort absetzen. Aber was dann? Hast du einfach nur zugesehen, wie sich das Leben ausbreitete – wie die Erde grün, die Luft klar und die Meere blau wurden?
Was ich nicht verstehe, ist, wieso es auf all diesen verschiedenen Erden Menschen geben sollte.
Ich meine, wenn sich die Welten ab dem Jahr 1969 verzweigen, wie in Malenfants Nixon-Bündel, gibt es Menschen in beiden … Straßen. Sogar dieselben Menschen, wie Kopien von Malenfant selbst. Aber wenn die Divergenz bis zur Er schaffung des Mondes zurückreicht, müssten die radikal unterschiedlichen Bedingungen dann nicht zu verschiede nen Arten von Evolution geführt haben? Weshalb sollten dort irgendwelche Menschen auftauchen? Und seien es auch nur Neandertaler?
Meine Schöpfer wollten das Potenzial des irdischen Lebens und besonders der Menschen unter vielfältigen Umständen untersuchen. Was hätten wir werden können? Darum erhielt ich zusätzliche Aufgaben. Neue Technologien.
Oh. Du hast sie transferiert. Zu verschiedenen Welten.
Es gab ein Objekt, das Malenfant »Roter Mond« nannte – er sah es in einigen Iterationen –, mit dessen Hilfe ich menschliche Exemplare von einer Realität zur anderen transferierte. Dort kreuzte sich das unterschiedlich entwickelte Menschenmaterial unter unterschiedlichen physikalischen Bedingungen und schlug verschiedene Richtungen ein. Neue Arten entstanden. Manchmal wurden Exemplare der Folgearten zur Erde zurückgebracht – die Neandertaler zum Beispiel, die …
Moment, Moment. Ist das dein Ernst? Du hast an der menschlichen Evolution herumgespielt, um Unterarten zu produzieren? Und die hast du wieder auf die Erde verfrachtet? Kein Wunder, dass die Fossilien die Paläontologen vor ein Rätsel gestellt haben.
Das war mein Auftrag. Ich habe ihn erfolgreich ausgeführt – nach seinen eigenen Maßstäben.
Was ist mit Persephone? Das war eine andere … äh … nützliche Ressource für dich, nicht wahr? Ein Werkzeug, um die Evolution ganzer Planeten zu manipulieren.
Ja. Aber auch eine Supererde mit Raum für das Leben, und in manchen Iterationen relativ nah an der Sonne … In diesem System – mit der Welt, die ihr Persephone III nennt – befindet sie sich nah an ihrer optimalen Position, jedenfalls für das Leben. Du und deine Gefährten, ihr habt es ja selbst gesehen.
Ja … und Demeter …
Hier ist Demeter dank der Gezeiten ihres riesigen Mutterplaneten warm und aktiv geblieben. Demeter ist ein Mars, der nicht sterben durfte. Und tatsächlich ist Demeter in gewissem Sinn die Mutterwelt, denn in diesem System hat das von Zeus stammende Leben, das sich dort entwickelt hatte, sowohl die hiesige Erde als auch Persephone besät.
Eine Ironie, dass die Existenz dieser fruchtbaren Persephone III schließlich einen Krieg auf der Erde ausgelöst hat. Aber so sind die Menschen eben. Und was ist mit Persephone II im Nullachtfünfzehn-System … Neandertaler und Dinosaurier?
Sie war eine Art Reservat und die Basis eines anderen, besonderen Experiments. Eine Kollektion von Musterexemplaren aus verschiedenen Zeiten. In diesem Fall nicht zum Zweck forcierter Artbildung, sondern um Vergleiche anstellen zu können. Oder Kombinationen zu ermöglichen.
Ein Akt des Widerstands gegen die Aussterbeereignisse.
Okay. Ich denke, Josh Morris hat das erkannt. Oder zumindest vermutet.
Die Geschichte der Erde, so fruchtbar sie ist, wird von Aussterbeereignissen überschattet. Jedes Mal blieb eine verarmte Welt zurück, verglichen mit dem verloren gegangenen ökologischen Reichtum.
Genau. Wie bei den Dinosauriern. Eine Welt voller Kreaturen, die sich über viele Hundert Millionen Jahre hinweg entwickelt hatten und ihre Rollen perfekt ausfüllten. Von denen die meisten einfach verschwanden, als der Komet kam. Aber was wäre, wenn …
Was wäre, wenn sie überlebt hätten? Wenn sie, vielleicht in einer geringfügig veränderten Welt, mit einer späteren Biosphäre in Berührung gekommen wären – sagen wir, mit den in der Entwicklung begriffenen Säugetieren?
Du hast eine Arena geschaffen, in der du beobachten konntest, was geschah, wenn Neandertaler auf Pterosaurier trafen?
Nachdem ich die Artbildung auf getrennten Welten gefördert hatte, wünschten die Unterlaufbewohner nun, dass ich die Arten vermischte, sie kombinierte – nicht um ihre Stärken zu testen, sondern um zu sehen, welche neuen Lebensformen oder Lebensstrategien sich herausbilden würden. Welche ungenutzten Potenziale zum Vorschein kommen könnten.
Ja. Josh hat das herausgefunden. Verdammt. Wenn er nur noch am Leben wäre, um das zu erfahren. Und auf der Erde, in jenem System, auf der Erde, die Lighthill besucht hat …
Auf der Nullachtfünfzehn-Erde haben wir Überlebende des allerersten Massenaussterbens erhalten, das sich ereignete, als Sauerstoff produzierende Bakterien entstanden waren, die die Luft gewissermaßen mit einem Gift füllten und die archaischen Anaerobier, aus denen sie sich entwickelt hatten, weitgehend auslöschten. Ja, die Nullachtfünfzehn-Erde, eine genaue Kopie der Ersten Erde, fungierte als Saatbeet für die weitere Vermehrung des Lebens. Aber sie diente auch als Zuflucht vor jenem ersten Aussterbeereignis.
Dies ist der Auftrag, den ich von den Bewohnern des Unterlaufs erhalten habe: das von ihnen erschaffene Multiversum zu erkunden. Mir alle Manifestationen des Lebens, alle ihm innewohnenden Möglichkeiten anzusehen. Ihm freien Lauf zu lassen.
Selbst wenn Menschen dafür sterben mussten?
Die Unterlaufbewohner sind keine Weltenzerstörer. Sie sind Schöpfer. Bereicherer – obwohl dafür Individuen oder sogar Welten geopfert werden müssen. Sie studieren das Leben, aus dem sie selbst hervorgegangen sind.
Bereicherer? Das sagst du, obwohl sie bereit sind, ganze Welten zu zerstören?
Meine ganze Welt, meine Erde?
Musste diese Welt sterben?
Michael?