Die Nacht war schlafarm und traumlos. Was daran lag, dass das Bett für de Jongs Verhältnisse zu kurz war. Er konnte die Beine nur ausstrecken, wenn er in Kauf nahm, dass seine Füße unter der Decke hervorragten und der nächtlichen Kühle ausgesetzt waren. Kein schönes Gefühl. Die Matratze war puddingweich, sodass er sich allein vom Liegen den Nacken verbog. Aber vor allem waren es Gedanken, die ihn vom Schlafen abhielten. Gedankenfetzen, die binnen eines Sekundenbruchteils durch sein Hirn wehten, die aber zurückkehrten, sobald er in einen leichten Dämmerschlaf glitt. Sich festsetzten, auf eine stabile Umlaufbahn einschwenkten. Und dann unaufhörlich kreisten. Giulia und ihr Wulfila – nein, so hieß er gar nicht. Aber wie dann? Es war nicht Wulfila, aber so etwas Ähnliches gewesen. Der Name wollte ihm nicht einfallen, und er grübelte stundenlang zwanghaft über ihn nach, obwohl es wohl kaum etwas auf diesem Planeten gab, das ihn weniger interessierte. Immerhin, dachte er, bin ich Meckelbeck schneller wieder los als gedacht. Was wird er sagen, wenn ich ihm morgen früh schon den Mörder dieser Selbstmorde präsentiere? Und dass ich die schreckliche Wahrheit quasi nebenbei, bei einem Glas Wein, erfahren habe? Würde er sich überhaupt mit einem Spinner als Täter zufriedengeben? Unwahrscheinlich, aber was blieb ihm übrig …
So gegen Morgen – draußen waren die Vögel längst lautstark erwacht – dämmerte de Jong dann doch ein. Und ein Traum schien sich auch noch einzustellen – er handelte von einer Frau, die unter der Dusche stand und Reinhard Meys Über den Wolken plärrte, wobei ihre durchdringende Stimme haltlos und im freien Fall durch sämtliche Tonarten taumelte. De Jong blinzelte und wachte lieber auf, um seine Ohren zu schonen. Die Stimme verstummte aber nicht. Nebenan rauschte eine Dusche. Und die Zimmernachbarin trällerte, schraubte ihre Stimme aufwärts, als hoffte sie, einen dieser Töne da oben zu fassen zu kriegen und sich daran festzuhalten, um gleich wieder ins Trudeln zu geraten … Also doch kein Traum, sondern bittere Wirklichkeit.
Zum Frühstück kam er zu spät. Er hatte wohl nicht bedacht, dass die meisten Führungskräfte Workaholics waren und damit mindestens Frühaufsteher. Was de Jong betraf, so fühlte er sich eindeutig noch nicht fit genug, um bei einer Tasse Kaffee locker über Gewinnerstrategien zu parlieren oder den smarten Unternehmer zu schauspielern. Er hatte ja auch immer noch keine Idee, was für ein Unternehmer er sein wollte. Also war es ihm ganz recht, fast allein im großen Speisesaal zu sitzen und das wirklich bemerkenswerte Frühstück mit allen Schikanen in Ruhe zu genießen. Während er sein Tablett mit Rührei, Schinken und Kirschsahnejoghurt, einem Cappuccino und einem Glas frisch gepressten Orangensaft belud, winkte er dem Personal zu, das schon dabei war, die Tische abzuräumen und sie für das Mittagessen aufzuhübschen. An einem Tisch ganz am anderen Ende des Saales bemerkte er doch noch jemanden: Waldemar und Schrödinger, die in ein intensives Gespräch vertieft schienen. Waldemar nickte ihm zu, und de Jong hob seine Gabel zum Gruß. Diesen Mann, dachte er, schickt mir der Himmel. Meckelbeck, der arrogante Schnösel, schickt mich auf dieses Gewinnerseminar, und schon am ersten Abend habe ich den Mörder, den er sucht. Schön wär’s. Das Problem dabei war ja gar nicht, dass sein Kandidat auf eine intellektuelle Weise nicht alle beisammen hatte – de Jong konnte sich vorstellen, dass der Mann von Hombre TV durchaus eine Schwäche für hochgestochenen Unsinn hatte. Aber mit seinem Gefasel über dunkle Energie und den Gedanken der Herrschenden übertrieb dieser Kerl einfach maßlos.
De Jong biss von seinem Toast ab und zuckte zurück, weil die Rhabarbermarmelade einen seltsamen säuerlichen Beigeschmack hatte. Er griff nach dem Glas und nahm den Brotaufstrich in Augenschein: Sauerkrautcreme aus eigener Herstellung. Das meinen die doch nicht ernst, dachte er und legte die Scheibe Toast beiseite.
Aber da war noch ein anderer Beigeschmack: etwas, das ihn zögern ließ, die Sache auf diese simple Art und Weise abzuschließen. Vielleicht konnte man es Berufsehre nennen, hätte de Jong unmissverständlich klargemacht, dass er mit der privaten Schnüffelei nichts im Sinn hatte. Die altbekannte Tatsache, dass echte Mörder alles taten, um nicht als solche entlarvt zu werden, und dass es sich einfach nicht gehörte, wenn irgendein langschädeliger Kerl daherkam und Morde in wichtigtuerischer Weise für sich vereinnahmte. De Jong war fest entschlossen, als Ermittler nur Täter zu akzeptieren, die gewisse Mindestanforderungen erfüllten.
»Herr de Jong, richtig?« Schrödinger ohne Katze stand neben seinem Tisch und schenkte ihm ein joviales Lächeln. »Einen schönen guten Morgen. Ich hoffe, Sie genießen Ihr Frühstück.«
»Ich auch«, sagte de Jong, der noch dabei war, mit frischgepresstem Orangensaft den Sauerkrautgeschmack zu bekämpfen.
»Nicht dass ich Sie drängen wollte«, Schrödingers Hand legte sich kurz auf de Jongs Arm, »aber wir beginnen in vier Minuten. Seminarraum 2, so wie gestern.«
* * *
Die Arbeitseinheit am Samstag lautete: Wettbewerb und Fairness. Moderiert wurde sie von Melanie Trudeau, die gleich zu Anfang eine Frage in die Runde warf. Und es war wirklich eine Runde. Die Führungskräfte hatten dieses Mal einen Stuhlkreis gebildet. Da de Jong wieder spät dran war, blieb ihm das minutenlange, von Räuspern und Magenglucksen konzertierte Warten auf den Beginn erspart. Wenigstens kam Frau Trudeau schnell zur Sache, ohne auf einer Begrüßungs- oder einer weiteren Vorstellungsrunde zu bestehen. Sie war schlank, trug ihr blondes Haar recht kurz und schien sich in legeren Klamotten, in diesem Fall einer engen Jeans und einer cremefarbenen Bluse, wohlzufühlen. Die Dozentin für Wettbewerb strahlte eine hektische Entschlossenheit aus, was vor allem ihrer durchsetzungsfähigen Stimme geschuldet war. Und die Frage, die sie in die Runde warf, lautete, was man überhaupt unter Fairness verstehen solle. Dazu wolle sie ein Bild heraufbeschwören. Ein Stadion. Läufer, die durchs Ziel gehen. Die Tabelle einer Bundesliga. Oben und unten. Kein Sport ohne Fairness, nicht wahr? Aber zurück zu den Athleten im Stadion: Angenommen, wir erführen, dass einer mit nur einem Bein startet, ein anderer mit Bleigewichten in den Schuhen losmuss und ein dritter gratis hundert Meter Vorsprung erhält, würden wir den Wettbewerb dann immer noch fair finden? Und wäre dieses unwürdige Theater letztlich nicht viel näher an der Realität als die Hochglanz-Werbeclips auf den Sportkanälen? Das waren gleich mehrere Fragen, und deshalb verhängte Frau Trudeau eine kurze Kaffee- und Kekspause, in deren Anschluss sie vorschlug, Kleingruppen zu bilden, die sich jeweils einem Teilaspekt der aufgeworfenen Fragen widmen sollten. Sodass man dann, so gegen zwölf, kurz vor dem Mittagessen, die Ergebnisse in der großen Runde zusammentragen würde.
De Jong war nicht erpicht auf Kleingruppen. Er nutzte das Gedrängel in der Kekspause, um sich vom Acker zu machen. Draußen im Park setzte er sich auf eine Bank, atmete den Duft frisch gemähten Grases ein und lauschte Tonleitern, die von einem Klavier aus irgendeinem Fenster der Schule herüberklangen. Dann zog er sein Handy hervor und rief Hauptkommissar Achim Bühlow an.
»Ja? Wer ist denn da?« Bühlows Stimme wurde von einem Rauschen überdeckt, das de Jong zunächst für Meeresrauschen hielt. Aber es war nur eine schlechte Verbindung.
»Ich bin’s, Niklas«, sagte de Jong.
Rauschen. Und dann kam plötzlich die Stimme viel klarer rüber. »Niklas, dass du mich hier anrufst, das ist ja eine …«
Als ob er das Wort Überraschung irgendwie vermeiden wollte.
»Du bist unterwegs?«, vermutete de Jong.
Jetzt rauschte es wieder. Oder war es ein Sturm? »… hier oben auf dem Berg. Die Tour. Hab ich dir doch erzählt.«
Richtig. De Jong fiel es wieder ein: Bühlow und Kristin wollten ihre Hochzeitsreise nachholen. Dazu wollten sie auf irgendeinen Berg in Griechenland.
»Glückwunsch zur Hochzeit nachträglich«, sagte de Jong. »Du bist auf dem Berg?«
»Ja. Eine geführte Tour. Wir besteigen den Psiloritis.«
»Ach.«
»Das ist der höchste Berg auf Kreta.« Das Rauschen war jetzt ganz weg, dafür meinte de Jong, im Hintergrund rufende Stimmen zu hören. »Alles klar! Bin schon unterwegs«, rief Bühlow zurück. Und dann sprach er wieder ins Telefon. »Aber hör mal, ich kann jetzt nicht so gut, weil die anderen gehen schon weiter, genau …«
»Okay«, sagte de Jong. »Ich halte dich auch nicht auf. Es geht nur um diese beiden Selbstmorde am Hülsbrock-Kolleg. Kleist und Schnelling. Die hattest du doch bearbeitet.«
»Ja, aber die Sache ist abgeschlossen. Keine Fremdeinwirkung. Keine Serie, wie manche behauptet haben.«
»Eine Serie?«
»Es gab am Kolleg schon mal einen Selbstmord, aber das ist niemals eine Serie. Und einen Mord, der nie aufgeklärt wurde: Prof. Kitting, eine emeritierte Lehrkraft, wurde vergiftet. Vor drei Jahren. Also, Niklas, wenn das alles ist, dann …«
»Ulf Meckelbeck, kennst du den? Er sagt, ihr hättet zusammen studiert.«
»Ja. Nein. Davon kann eigentlich keine Rede sein. Der Kerl ist ein Streber. Kein sozialer Typ, mein ich. Hält sich für einen Womanizer.«
»Einen Womanizer?«
»Ja, dass jede Frau mit ihm ins Bett will, ohne dass er mit der Wimper zucken muss. Ziemlich eingebildet, der Kerl.« Bühlow wandte sich wieder an Kristin, die wohl inzwischen ziemlich weit entfernt war: »Jaaha, ich komme sofort nach! Lass mich doch mal eine Sekunde telefonieren. Eine Sekunde, okay?«
»Und was ist mit einem Kerl namens Waldemar? Der behauptet, er habe diese Leute getötet. Ein Spinner.«
»Ja. Vermutlich. Aber …«
»Vermutlich?«
»Da gab es noch ein paar Ungereimtheiten. Und deshalb habe ich ja vorgeschlagen, den Kerl nicht sofort zum Spinner abzustempeln.«
»Ungereimtheiten? Heißt das, du hast ihm diesen Energie-Schwachsinn abgenommen?«
»Ja. Nein, natürlich nicht, aber … können wir später darüber reden?«
»Wie sollte er das gemacht haben?«
»Kristin findet das auch bescheuert. Aber ich denke, bloß weil etwas nicht sichtbar ist, muss es nicht unbedingt Spinnerei sein.«
De Jong wunderte sich. »Also das aus deinem Mund …«
»Wo sind die denn hin?«
»Wer?«, fragte de Jong.
»Scheiße, die können mich doch nicht einfach hier so …« Bühlow brüllte plötzlich los. »Kristin!« Der Widerhall aus den Bergen kam sogar über das Handy an. »Kristin! Wo seid ihr, verdammt? Das gibt’s doch nicht …«
»Achim? Noch mal zu den beiden Opfern …«
»Weißt du was? Die Hattkämper hat bei beiden die Autopsie durchgeführt und zweimal einen lupenreinen Selbstmord diagnostiziert. Frag sie doch einfach, ja?«
»Hast du denn zufällig ihre Nummer? Ich meine die von …«
Es knackte. Bühlow hatte die Verbindung unterbrochen.
* * *
Ferien, dachte de Jong. Hochzeitsreise nach Kreta. Der Junge war wirklich zu beneiden. Aber woher bekam er jetzt die Nummer der Gerichtsmedizinerin? Also behielt er das Smartphone in der Hand und berührte mit dem Daumen unter Kontakte den Namen Eugen Küppers. Hauptkommissar Küppers war Bühlows Onkel und ein langjähriger Kollege de Jongs, mit dem er hin und wieder ein Bier oder mehrere trank. Dazu trafen sie sich, einer uralten Tradition folgend, in einer Everswinkeler Gaststätte namens Knipperdolling. Eugen Küppers hatte auch lange und gern mit dem Gedanken gespielt, die Kripo zu verlassen und sich stattdessen als Fußballtrainer zu verdingen, aber er hatte nie den Absprung geschafft. Jetzt zählte er die Jahre, die ihm noch blieben, und bearbeitete meistens sogenannte Cold Cases – alte Fälle, die nie aufgeklärt wurden und an die sich keiner gern heranwagte, weil alle Spuren im Sand verlaufen waren.
»Niklas, wie steht’s? Was macht das freie Künstlerleben?«
Mit Künstlerleben meinte Küppers in den Tag hineinzuleben. Er sah de Jongs literarische Ambitionen eher skeptisch, besaß aber die Begabung, praktisch alle Menschen darum zu beneiden, wie gut sie es hatten. Völlig unabhängig davon, was sie jeweils taten.
»Tja, weißt du, momentan bin ich auf einer Fortbildung. Für Führungskräfte.«
»Führungskräfte?«
»Als freischaffender Autor bist du das ja auch. In gewisser Weise.«
»Na, wie du meinst.« Küppers schien beeindruckt, aber wollte sich das nicht anmerken lassen und wechselte schnell das Thema. »Ich bin hier gerade an einem ziemlich heißen Fall, weißt du?«
Küppers war immer an einem ziemlich heißen Fall. Obwohl er lauter kalte Akten auf seinem Schreibtisch liegen hatte. Und er verfügte über die seltene Fertigkeit, voneinander komplett unabhängige Mordfälle auf geheimnisvolle Weise miteinander zu verknüpfen und aus ihnen eine Serie zu konstruieren. Dieses Mal bastelte er an einem Täter, den er den »Heimwerkerartikel-Killer« nannte.
»Heimwerkerartikel?«, fragte de Jong, höflich Interesse heuchelnd.
»Eine Rohrzange, eine Stichsäge, Kabelbinder, Holzhammer und Nietenpistole. Da kämen fünf Morde zusammen.«
»Es kämen? Falls was passiert?«
»Na ja, Nietenpistole und Stichsäge sehen auf den ersten Blick eindeutig wie Werkstatt-Unfälle aus. Aber du weißt ja, wie das mit dem ersten Blick so ist.«
»Ja, klar«, sagte de Jong.
Küppers hätte seine Theorie gern in aller Ausführlichkeit erläutert, aber de Jong bremste ihn dezent und vertröstete ihn auf Donnerstagabend, wie üblich im Knipperdolling. Frau Hattkämpers Telefonnummer bekam er nicht, erfuhr aber, dass sie in Hohenholte wohnte, einem idyllischen, kleinen Ort, der sich ganz in der Nähe befand. Und er kam zu dem Entschluss, dass ein Überraschungsbesuch eindeutig die bessere Idee war, als in den Seminarraum zur Kleingruppenarbeit zurückzukehren.
Dabei war ihm bewusst, dass ein Überraschungsbesuch nicht ohne Risiko war. Dr. Hattkämper galt als unberechenbar, manchen sogar als gefährlich – angeblich hatte sie in der Pathologie gelegentlich auf Sauerbruch’sche Art und Weise mit dem Skalpell um sich geworfen. Dass sie extrem launisch war, konnte de Jong aus eigener Erfahrung bestätigen. Allerdings hegte er seit Langem die Vermutung, dass sich hinter Frau Hattkämpers reizbarem, ja streitsüchtigem Äußeren ein Herz aus Gold verbarg. Um auf Hinweise zu stoßen, die diese Vermutung bestätigten, brauchte man allerdings viel Glück und durfte auf keinen Fall einen unpassenden Zeitpunkt erwischen.
De Jong konnte nicht wissen, dass es sich heute genau um einen solchen handelte.
Nach einer entspannenden Radtour von etwa fünfundzwanzig Minuten unter einem sonnigen und fast wolkenlosen Frühlingshimmel erreichte er den Ortsrand von Hohenholte und stellte sein Rad neben einem weitläufigen, recht verwilderten Vorgarten ab. Zwischen einer von Klee und Löwenzahn durchwachsenen Wiese und einem doppelten Carport, in dem nur ein Auto parkte, führte ein Weg aus abgetretenen Steinplatten zum Hauseingang. Er betätigte die Klingel, kurz darauf öffnete sich die Tür. Aber nur einen Spaltbreit. Dr. Hattkämpers Gesicht lugte heraus. Ein Gesicht, das übernächtigt aussah, verkatert und so stockfinster, dass gewöhnliche schlechte Laune geradezu aufhellend gewirkt hätte. Sie starrte ihn an und schaffte es, die Mundwinkel noch weiter herunterzuziehen. »Kommissar«, knurrte sie.
»Exkommissar«, sagte de Jong.
»Haben Sie das Schild nicht gelesen: kein Zutritt für die Kripo am Wochenende?«
»Ich bin nicht von der Kripo.«
»Egal. Schieben Sie ab.«
De Jong ärgerte sich jetzt darüber, dass er nicht daran gedacht hatte, irgendetwas Süßes zu besorgen, Pralinen oder Schokokugeln. So wie man Leckerchen dabeihatte, um einen scharfen Hund zu besänftigen. »Ich hätte nur eine Frage.«
Hattkämper schüttelte den Kopf. »Sorry, aber ich bin nicht in Stimmung für Fragen.«
»Es geht um die beiden Selbstmorde am Hülsbrock-Kolleg. Das ist ganz in der Nähe.«
»Na und?« Aber die Tür ging weiter auf, wahrscheinlich unabsichtlich – sie hatte ihr Gewicht verlagert und für einen Moment die Balance verloren. De Jong nutzte diese einzige Chance und drängte sich an ihr vorbei ins Haus. Hattkämper schüttelte den Kopf, aber leistete keinen Widerstand. »Na, dann kommen Sie mal rein.«
Die Rechtsmedizinerin ging voraus durch einen im Schachbrettmuster gefliesten Flur, auf dem knäuelweise Hundehaare umherwehten. Rechts ab ging es in die Küche. De Jong erhaschte einen Blick auf das Spülbecken, in dem sich gebrauchtes Geschirr stapelte. »Der Kollege Bühlow sagt, Sie hätten eindeutig zwei Suizide festgestellt«, kam er zur Sache.
Die Rechtsmedizinerin schüttelte den Kopf und gab ein schnaufendes Geräusch von sich, drehte sich aber nicht um. De Jong trat hinter ihr in ein geräumiges Wohnzimmer, das mit den üblichen Komponenten ausgestattet war: monströses Sofa über Eck, ein Couchtisch mit Schieferplatte, zwei Sessel im gleichen grauen Farbton. Ein Wohnzimmer, in dem sonst sicher immer alles an seinem Platz war, sodass es nur wenige Dinge brauchte, die nicht am Platz waren, um ein Chaos ausbrechen zu lassen. Eine Jacke, die über den Fernseher gehängt war. Eine leere Weinflasche auf dem Boden, gegen einen der Sessel gelehnt.
»Bin noch nicht zum Aufräumen gekommen«, sagte Hattkämper und unterdrückte einen Rülpser. »So sagt man das doch üblicherweise, oder?«
De Jong nickte. Sie wies auf einen der Sessel, er nahm Platz. Dann goss sie sich ein Glas Whisky ein und ließ sich auf die Couch plumpsen.
Nach rechts öffnete sich hinter einem bogenförmigen Durchgang ein weiterer Raum, der nach Arbeitszimmer aussah. An der Wand hing ein Foto in einem Glasrahmen, der Schlagseite hatte. Soviel de Jong vom Sessel aus sehen konnte, zeigte es ein Paar, das in die Kamera lächelte. Das Glas im Rahmen war zersplittert, der Boden war mit Scherben übersät, nicht nur mit Glasscherben, da waren auch Porzellan und die Überreste eines Blumentopfs samt Inhalt. Als hätte jemand das Foto als Zielscheibe benutzt.
Sie bemerkte seinen Blick und nahm einen Schluck Whisky. »Tja, hab ein paar Wurfübungen gemacht. Danach hab ich mich besser gefühlt.«
»Manchmal ist das nötig«, meinte de Jong.
»Da ist dieser Kerl, mit dem du zwanzig Jahre zusammengelebt hast. Zwan! Zig! Jahre! – Und dann treibt er es plötzlich mit einer jungen und langbeinigen Zicke, die noch davon träumt, Filmstar zu werden. Aber anstatt sich nach ein paar Ficks an den Kopf zu fassen und zur Vernunft zu kommen, packt er seine Koffer und zieht bei diesem Teenager ein.«
»Ja, das ist schlimm«, sagte de Jong. »Ich kenne so was Ähnliches auch …«
Sie hob die linke Hand, die kein Glas hielt, und er verstummte. »Der Hammer kommt doch erst noch: Vor drei Tagen ruft Hildur an und will allen Ernstes, dass ich Taufpate werde. Von seinem ›Stammhalter‹.« Sie schüttelte den Kopf. »Dabei hat er eine Tochter, die dreiundzwanzig ist, und denken Sie, er hätte sie seitdem ein einziges Mal angerufen?« Sie schüttete noch einen Schluck in sich hinein.
»Hildur«, sagte de Jong. »So heißt er?«
»Ganz genau.«
»Na ja, wenigstens nicht Gimli, der Zwerg.«
Hattkämper entfuhr ein Prusten. »Genau das ist er, wenn man’s recht bedenkt.« Ein Grinsen, das immer breiter wurde. »Gimli, der Zwerg.« Sie hielt die Whiskyflasche hoch. »Sie auch einen?«
Obwohl de Jong sich nichts aus Whisky machte, sagte er nicht Nein. »Meiner heißt Alarich.«
Das Grinsen dauerte an. »Auch nicht schlecht. Woher haben Sie den?«
»Giulia«, erklärte de Jong. »Meine Ex. Sie ist bei ihm eingezogen. Wohnt hier in dieser Stadt und meldet sich nicht mal.« Er bekam sein Glas Whisky.
Eine Weile saßen die beiden einander gegenüber und starrten vor sich hin, hingen ihren jeweiligen Dramen nach.
Schließlich hob Dr. Hattkämper ihr Glas. Sie stießen an. »Falls Ihnen irgendeiner Ihrer Kollegen …«
»Exkollegen, wenn überhaupt«, berichtigte de Jong.
»Egal. Falls einer behauptet, ich könnte entscheiden, ob jemand Selbstmord begangen hat oder nicht, dann irrt er. Streng genommen.«
»Er irrt streng genommen?«
»Ich bin Medizinerin. Sehe mir Leichen an. Stelle die Todesursache fest. Nicht mehr und nicht weniger.«
»Das ist doch schon eine ganze Menge«, sagte de Jong.
»Auf den ersten Blick ist alles da, was wir für einen Selbstmord brauchen«, sagte Hattkämper. »Sowohl Schnelling als auch Kleist verstarben an einer Mixtur aus diversen Sedativa – Cyclobarbital, Diphenhydramin, Perazin und Valium. Ein Cocktail übrigens, den Sie lange Zeit im Internet nachlesen konnten. Da hatte die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben eine Anleitung zum Freitod eingestellt. Beide Opfer wiesen zudem einen hohen Promillegehalt Alkohol im Blut auf.«
»Welche Zweifel an einem Selbstmord bleiben da überhaupt noch übrig?«, meinte de Jong.
»Nun ja«, die Rechtsmedizinerin kratzte sich am Kopf, »vielleicht hauptsächlich die Tatsache, dass beide kurz hintereinander auf fast identische Art und Weise dahingeschieden sind.«
»Sie meinen, ein Selbstmord für sich ist glaubwürdig; zwei deuten auf Mord hin?«
Sie schüttelte den Kopf. »Juristisch gesehen gibt es eigentlich keine Zweifel. Aber aus einer anderen, sagen wir mal ganzheitlichen Perspektive betrachtet, kann ich allenfalls Vermutungen anstellen. Dann ist die physische Todesursache nur eine von vielen Komponenten.«
»Von wie vielen?«
»Stellen Sie sich vor, da ist einer mit grottenschlechtem Selbstwertgefühl und obendrein von depressiver Wesensart. Und jemand sagt ihm mit voller Absicht ins Gesicht, dass er hässlich wie die Nacht sei. Und dass er niemanden kenne, der peinlicher sei als er. Daraufhin stürzt sich unser armer Tropf von der Brücke.«
»Trotzdem«, sagte de Jong. »Für die Kripo klarer Selbstmord.«
»Aber ein Selbstmord, der auf eine gewisse Weise fremdverschuldet ist, nicht wahr?«
Der Exkommissar nippte nachdenklich an seinem Whisky. Es war eine weiche, allgemeine Nachdenklichkeit. Vom scharfen Nachdenken hielt ihn das Getränk ab.
»Also nehmen mal wir an, da hätte jemand eine psychologische Technik entwickelt, Menschen, die ohnehin kaum Spaß am Leben haben, den Rest an Spaß auch noch zu nehmen. Dann hätten wir sozusagen einen Mörder, der Selbstmorde anstößt.«
»Und gegen den das Gesetz machtlos wäre.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Dem Verblichenen bliebe nur noch, aus seinem Grab zu steigen und den Seelenfrieden des anderen zu stören.«
»Für einen derart geplanten Suizid«, meinte de Jong, »würde sprechen, dass es eine dritte Person gibt, der man einen Abschiedsbrief zugeschickt hat. Als Drohbrief sozusagen.«
»Als Rechtsmedizinerin«, sagte Hattkämper, »kann ich Ihnen nur raten: Warten Sie ab. Wenn diese dritte Person auch auf meinem Tisch landet, kann ich Ihnen vielleicht mehr sagen.«
De Jong stieß ein letztes Mal mit ihr an, dann stellte er sein Glas auf dem Tisch ab. »Ich danke Ihnen für den kompetenten Rat, Doktor.«
»War mir dann doch ein Vergnügen«, sagte sie und begleitete ihn zur Haustür. »Gimli, der Zwerg. Wieso bin ich nicht selbst draufgekommen?«