Am Mittwoch gegen halb zehn begab sich de Jong ins Sancho Panza, wo er Frühstücksravioli bestellte und ein wenig im Bestsellering for Idiots schmökerte. Eigentlich wartete er auf seinen Klienten, mit dem er gegen zehn verabredet war. Dann sah er ihn auch schon, wie er in einem schwarzen SUV in eine Parklücke kurvte, die er direkt vor der Tür ergattert hatte. Statt auszusteigen, blieb er hinter dem Steuer sitzen, hielt sein Handy ans Ohr und begann zu telefonieren. So wie er dasaß und gestikulierte, wirkte er nicht wie der zerknirschte Meckelbeck, der Albträume hatte, obwohl er kein Auge zutun konnte, sondern war eher wieder der alte, der de Jong nicht dafür bezahlte, dass er Urlaub machte. Er beendete das Telefonat und bekam gleich einen neuen Anruf. Tja, dachte de Jong hämisch, das ist der Fluch ständiger Erreichbarkeit, als auch sein Handy klingelte. Es war Achim Bühlow.
»Na, wie ist das Wetter in Iraklion?«, erkundigte sich de Jong.
»Der Flug wurde gestrichen. Aber jetzt bin ich wieder zurück.« Bühlow klang gar nicht erholt, eher urlaubsgestresst, als hätte man ihm zugemutet, den Rückweg zu Fuß zurückzulegen. »Du hattest doch versprochen, vorsichtig zu sein. Als Privatschnüffler, meine ich.«
»Ja. Und? War ich etwa nicht vorsichtig?«
»Der Kollege Merzenich findet, du hättest ihm ›dazwischenjefunkt‹. Dein Beitrag zu einer laufenden Ermittlung sei nicht gerade hilfreich gewesen.«
»Ach, nein, das findet er also? Und hat er dir auch erzählt, dass seine Nichte heiratet? Und dass das der eigentliche Grund ist, weshalb er an der Selbstmordtheorie festhält? Weil er sich bei allen Hochzeitsvorbereitungen nicht auch noch mit einem Mordfall herumschlagen kann?«
»Also wirklich, ob es ein Mordfall ist, kann man zu diesem Zeitpunkt nicht zuverlässig sagen.«
»Ach, das kann man nicht? Drei Menschen, alle am Hülsbrock-Kolleg tätig, scheiden kurz hintereinander aus dem Leben, noch dazu auf die gleiche Art und Weise. Zwei von ihnen haben auch noch den gleichen Abschiedsbrief hinterlassen. Zufälle gibt’s, was?«
Vom anderen Ende der Leitung kam nichts.
»Sag mal, du bist nicht zufällig auf der Hochzeit bei Merzenichs eingeladen?«
»Ich sage doch nur: Wir können zurzeit überhaupt nichts ausschließen. Natürlich auch keinen Mord. Aber wir haben bisher nicht annähernd eine Spur. Und was diese dauernden Geständnisse Waldemars angeht …«
»Ja, was ist denn damit?«
»Das ist eine merkwürdige Sache.«
»Merkwürdig allerdings. Aber das ist doch keine Spur. Die Tatsache, dass die Selbstmord-Theorie nichts taugt, führt doch nicht dazu, dass man Waldemars esoterisches Geschwafel plötzlich ernst nehmen soll.«
»Oder etwa doch?«
»Wir sollten uns da nicht voreilig festlegen.«
Schon wieder. Man sollte den Kerl nicht sofort zum Spinner abstempeln, so Bühlow erst neulich. Man konnte beinahe denken, der Hauptkommissar hätte Angst vor Waldemar. »Hast du dich mal irgendwie mit ihm angelegt? Mit Waldemar, meine ich.«
»Nein, wie kommst du darauf? Ich kenne ihn doch nicht mal. Aber bisher ist er der Einzige, der ein Motiv hat. Und der behauptet, von den sogenannten Selbstmorden zu profitieren. Also sollten wir ihn nicht vom Haken lassen, auch wenn er uns den einen oder anderen Schwachsinn auftischt. Findest du nicht auch?«
De Jong sagte nichts und wartete.
»Kenneth, ein Freund von mir. Von der Sportgruppe. Wir spielen hin und wieder zusammen Tischtennis. Er ist in einer von Waldemars Gruppen.«
»Gruppen?«
»Da schließen sie ihre Energie zusammen.«
»Verstehe«, sagte de Jong. »Dark Energying. Waldemars ›Aggregat‹.«
»Und Kenneth schwört drauf, dass man was spürt. Sie sind achtzehn Leute in der Gruppe und wünschen sich schlechte Dinge.«
»Schlechte Dinge? Wer wünscht sich nur so was?«
»Für jemand anderen. Nicht für sich selbst. Aber niemand Bestimmten. Ich denke, das ist so eine Art Hobby. Sie wünschen ihm Unglück. Um negative Energie herzustellen. Waldemar sammelt diese Energie und fokussiert sie auf ein Ziel.«
»Verstehe. So begeht er seine angeblichen Morde.«
Bühlow räusperte sich. »Der Fall Kitting«, sagte er. »Kitting und Waldemar waren so etwas wie Erzfeinde. Dann hat Kitting Waldemar den Job weggeschnappt.«
»Worauf es Kitting erwischt hat«, sagte de Jong.
»Er wurde vergiftet. Man hatte Waldemar im Verdacht, weil der ein Motiv hatte. Und sich dahingehend geäußert hatte.«
»Dahingehend geäußert?«
»Als Kitting den Job bekam, hat Waldemar ihm öffentlich gratuliert. Gratuliert in Anführungszeichen. Und dabei wie nebenbei gedroht, dass Kitting schon noch sehen werde, was er davon habe. Dass es dann aber zu spät sei.«
»Was ist das eigentlich für ein Kerl, dieser Kenneth?«, fragte de Jong. »Irgendeine Vermutung, wann ihm ins Gehirn geschissen wurde?«
»Klar, es gibt schönere Freizeitbeschäftigungen«, räumte Bühlow ein, »aber es ist schließlich nicht verboten.«
»Genauso wenig wie es verboten ist, ein Arschloch zu sein«, sagte de Jong und warf einen Blick nach draußen. Meckelbeck telefonierte immer noch.
»Du hältst es für ausgeschlossen, dass sich Frau Trudeau das Leben genommen hat?«, erkundigte sich Bühlow.
»Die Dame war kein bisschen lebensmüde«, behauptete de Jong. »Sie hatte nur einige über den Durst getrunken.«
»Sie würde auch in die Serie passen.«
»In die Selbstmordserie? Hatte Waldemar mit ihr eine Rechnung offen?«
»Davon ist mir nichts bekannt. Aber sie war auch eine ehemalige Schülerin des Kollegs. Genau.«
»Sag mal, ist dir irgendwas bekannt über einen Todesfall im Gasometer? Ungefähr vor zwei Monaten oder so.«
»Ich, eh …«
Jemand klopfte auf den Tisch. Meckelbeck, der zu Ende telefoniert hatte.
»Also gut. Ich melde mich wieder bei dir.« De Jong beendete das Gespräch.
»So!«, trötete Ulf Meckelbeck, wieder anstelle einer Begrüßung, zog einen Stuhl heran und pflanzte sich an den Tisch, de Jong gegenüber. »Ich bin neugierig. Was haben Sie für mich, de Jong?« Ungeduldig klatschten seine Handflächen auf das Holz.
Der Exkommissar konnte es förmlich riechen. Und an der gönnerhaft jovialen Art ablesen, mit der sein Klient sich einen Latte Macchiato bestellte: Meckelbeck war wieder der alte, der Gewinnertyp mit dem Erstwohnsitz auf der Siegerstraße. Der, den de Jong nicht mochte. »Schießen Sie los«, drängte er. »Ich bin nämlich gleich wieder weg, muss zur Redaktionssitzung. Hab leider keine Zeit zum gemütlichen Abhängen.«
»Haben Sie irgendetwas eingenommen?«, erkundigte sich de Jong giftig.
Meckelbeck schenkte ihm ein gnädiges Lächeln. »Was verstehen Sie unter eingenommen?«
»Ich meine kein Geld, sondern Medikamente. Irgendwelche persönlichkeitsverändernden Drogen?«
Ulf Meckelbeck legte den Kopf schief, und seine Augen musterten de Jong fragend – eigentlich war es eher zweifelnd als fragend. Als zweifle er an de Jongs Verstand.
»Erst zwei Tage ist es her, da haben Sie mich angerufen«, erinnerte ihn der Exkommissar. »Für mich war der Fall eigentlich erledigt. Aber Sie waren so zerknirscht, hatten auf einmal Manieren. Eines Maigret würdig – wissen Sie noch? Ihre Worte. Sie waren sich nicht zu schade, sich bei mir einzuschleimen. Und deshalb dachte ich, na ja, irgendwer muss dem armen Kerl doch aus der Patsche helfen.«
»Jeder hat mal einen schlechten Tag«, räumte der Wetterfrosch ein – wen immer er damit auch meinte.
Die Kellnerin brachte den Latte Macchiato und räumte de Jongs leere Kaffeetasse ab. Er beantwortete ihren fragenden Blick, ob es noch etwas sein dürfe, mit einem stummen »Nein, danke«.
»Sehen Sie, de Jong«, sagte Meckelbeck, »Sie haben sich ein Bild von mir gemacht. Ein voreiliges und einseitiges Bild. Dabei besteht die Kunst eigentlich darin, alles mit einem möglichst unvoreingenommenen Blick zu betrachten. Das brauche ich Ihnen als Ermittler doch nicht zu sagen.«
»Völlig d’accord«, sagte de Jong.
Meckelbeck hob die Tasse an die Lippen und schlurfte geschäumte Milch. Dann setzte er die Tasse wieder ab und beugte sich vor. »Ich tue es aber trotzdem. Weil Sie offenbar immer noch keine Spur für mich haben.«
»So eine Ermittlung braucht seine Zeit«, schaltete de Jong in einen unverbindlichen Profi-Modus. »Im Fernsehen mag das vielleicht ruckzuck gehen, aber …«
»Und wenn ich inzwischen die Arbeit für Sie gemacht hätte? Wenn ich sehr wohl eine heiße Spur hätte? Was würden Sie dann sagen?«
»Nun, bestimmt können Sie sich denken, dass jemand wie ich über Connections verfügt. Sogar zur Kripo. Joachim Bühlow, der alte Knabe, ist ein langjähriger Spezi von mir. Ein Anruf hat genügt. Und schon haben wir eine heiße Spur. Sagt Ihnen der Name Waldemar etwas?«
Jetzt war es an de Jong, die Augen zu verdrehen.
»Dieser Mann bestätigt nicht nur, dass die Selbstmorde keine waren, sondern Morde. Er gesteht auch noch, derjenige zu sein, der sie begangen hat. Da haben wir doch zwei Fliegen zum Preis von einer.«
»Dass jemand einen Mord gesteht, heißt aber noch lange nicht, dass …«
»Mal anders gefragt: Warum sollte er sie gestehen, wenn er sie nicht begangen hat? Wäre das nicht ganz schön dumm von ihm?«
»Waldemar ist ein spezieller Fall«, räumte de Jong ein, immer noch in der Defensive. »Ich würde ihn nicht dumm nennen. Aber allein aus dieser Tatsache zu schließen, dass er clever ist, halte ich für voreilig.«
»Sehen Sie? Schon wieder.« Meckelbeck lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Das scheint Ihr Problem zu sein. Dass Menschen nicht so simpel gestrickt sind, wie Sie es gern hätten. Und die Welt eben auch nicht. Sehen Sie sich um. Man nennt das Transzendenz. Oder Metaphysik, wie Sie wollen.«
»Wenn man will, kann man es auch anders nennen«, gab de Jong zurück. »Vorsätzliche Dämlichkeit zum Beispiel.«
»Achim sieht das allerdings anders.«
»Der alte Knabe«, sagte de Jong achselzuckend. »Der ist leider auch ein spezieller Fall.«
Der Mann vom Männer-TV hatte den Kaffee auf. Mit dem Teelöffel kratzte er die letzten Schaumreste aus seiner Tasse. »Deshalb nehmen Sie diesen Waldemar nicht ernst. Weil Sie nur glauben, was Sie sehen. Und deshalb kommen Sie in diesem Fall nicht weiter.«
»Unsinn«, sagte de Jong. »Ich sehe, was ich sehe. Deshalb muss ich es eben nicht glauben.«
Ulf Meckelbeck verharrte, den Löffel zwischen Daumen und Zeigefinger, eine Geste plötzlicher Nachdenklichkeit. »Wir sollten den Mund nicht so voll nehmen«, sagte er in einem plötzlich geradezu bedrückend beschaulichen Tonfall. So als wäre er ein Pfarrer und hätte vor, diesen Satz in einer Predigt zu verwenden.
»Warum nicht?«, fragte de Jong.
»Wissen und Glauben, das ist heutzutage alles relativ. Wissen, das ist Google und Wikipedia. Aber woher soll ich wissen, ob das stimmt, was da steht? Wo kann ich das googeln? Also muss ich es doch glauben.«
De Jong mochte Meckelbeck nicht, deshalb sah er auch keinerlei Veranlassung, ihm beizupflichten. Was er sonst eventuell in gewissen Punkten getan hätte, vor allem, wenn er an diesen Kenneth und sein skurriles Hobby dachte. Erst neulich hatte er irgendwo gelesen, dass man in den USA seit Neuestem seine Gehirnkapazität per Internet vermieten könne. Das wäre dann nämlich eine Erklärung dafür, dass Leute an solche hanebüchenen Geistergeschichten à la Waldemar glaubten. Genauso wie sie weltweite Verschwörungen für möglich hielten, auf Demos entsprechende Plakate hochhielten und sich Alufolie um den Kopf wickelten. Angenommen, die Leute mit der Alufolie hätten achtzig Prozent ihres Hirns vermietet und sich damit bereit erklärt, selbst vorerst nur noch zwanzig Prozent zu nutzen, dann wäre es kein Wunder, wieso sich Hirnrissigkeit und vorsätzliche Naivität weltweit wie eine Seuche verbreiteten. Weil immer mehr Gehirn-User von dieser lukrativen Form der Hirnvermietung Gebrauch machten. Wie auch immer, dachte de Jong gleich darauf, wer sagt mir denn, dass das nicht auch wieder eine Verschwörungstheorie ist?
»Na schön«, sagte er, lehnte sich nun seinerseits zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Wenn Sie ab jetzt der Schnüffler sind, Meckelbeck, dann sagen Sie mal, wie wir jetzt weiter vorgehen.«
Daraus wurde aber nichts. Meckelbeck war nicht mehr zu erreichen, er starrte wie gebannt auf das Display seines Smartphones. »Shit!«, sagte er, schnappte sich das Gerät und stand vom Tisch auf. »Die haben schon längst ohne mich angefangen. Wir sprechen später, ja?«
Sekunden darauf startete der schwarze SUV mit quietschenden Reifen.
* * *
Waldemar. Immer wieder Waldemar. Man wurde ihn nicht los. Keiner sollte ihn voreilig als Spinner einstufen. Erst recht kein Brutalmaterialist wie de Jong, der nur glaubte, was er sehen und anfassen konnte. In den USA gab es mal ein Experiment, aber das bedeutet nicht, dass alles Humbug ist. – Nicht, dass er damit irgendwelche Dinge bewegen kann so wie in Horrorfilmen, aber er schafft es irgendwie, dass man dran glaubt … De Jong war es leid. Es war Mittwochabend, als er beschloss, den Stier sozusagen bei den Hörnern zu packen. Wenn er nicht wollte, dass der Mann mit dem extrem langen Kopf sich fortan als grinsender Dauergast in seinen Träumen einnistete, durfte er die offene Konfrontation nicht scheuen. Und der Mittwochabend bot die ideale Gelegenheit: Dark Energying.
Im Hülsbrock-Kolleg war er längst kein Unbekannter mehr. Nicht nur weil er sich hier ziemlich oft sehen ließ, sondern wohl auch, weil er der Kerl auf dem Video war, das irgendwer ins Netz gestellt hatte: De Jong, im Innenhof des Kollegs, mit schmerzverzerrtem Gesicht, tanzend auf dem linken Fuß, während er den rechten mit beiden Händen umklammert hielt.
Inzwischen wurde er von Frau Wallenhorst, der Dame mit der dickrandigen Brille, die den Empfang bewachte, mit »Ah, der Herr Kriminalkommissar!« begrüßt. Sie hatte ihm auch einen Kugelschreiber mit der Inschrift Optimis Optimum Semper! geschenkt.
Es war ein milder Frühlingsabend, als die Reifen von de Jongs Fahrrad auf einem der Kieswege knirschten, die durch den barocken Garten zum Haupthaus führten. Die Sonne ließ sich nicht blicken, es war, als hätte sie es nicht nötig, sich zu zeigen; heute war sie einfach schon etwas früher schlafen gegangen. Schließlich duftete es allenthalben nach Kräutern und Gewächsen, und die Luft war angefüllt von einer abendlichen Verheißung von Sommer.
De Jong, davon abgelenkt, dass er einen tiefen Atemzug nahm, hätte beinahe Rabea Holm überfahren, die ihm auf dem Kiesweg entgegenkam. »Sieh mal an«, sagte sie. »Sie auch wieder mal hier?«
De Jong hätte nicht gedacht, dass Frau Holm zu Waldemars Dark-Energy-Klientel gehörte, und gab sich entsprechend verwundert. Aber sie gehörte auch nicht dazu. Zeitgleich mit der abstrusen Veranstaltung fand auch der Kurs »Empathie für Führungskräfte« statt, für den es inzwischen mehr Interessenten gab.
Um Viertel vor acht betrat er den Seminarraum 13. Um acht sollte das Energying beginnen, aber bisher hatte sich noch kein Teilnehmer eingefunden. De Jong drückte sich an vier leeren Stuhlreihen vorbei und gelangte zu einer Art Podium. Darauf stand ein schlichter Tisch aus furniertem Holz, auf dem sich ein seltsames Gerät befand. Mattschwarz, schuhkartongroß und kastenförmig, wie das monströs geratene Netzteil eines Computers, nur dass es über zwei Blinkleuchten verfügte, eins rot und eins grün. Dazwischen eine von innen beleuchtete Skala wie die eines Strommessgeräts, auf der ein nadelgroßer Zeiger Werte zwischen 0 und 1000 anzeigen konnte. Möglicherweise ein Requisit aus einem frühen Frankenstein-Film. Ein dickes, stoffumwickeltes, schwarzes Kabel führte von der nächsten Steckdose in das Ding hinein, ein anderes verließ es auf der anderen Seite und verschwand im Nebenraum, den man durch eine Schiebetür betrat. Ein ziemlich enger Raum, in dem sich nur eine Couch und ein Sessel befanden. Im Sessel saß Armin Waldemar, die Augen geschlossen, Ellbogen auf die Knie gestützt und alle zehn Finger gegen die Schläfen gepresst. In einer Geste absoluter Konzentration, wie man sie aus Verfilmungen kannte, die von Weltgenies wie Beethoven, Goethe oder Chaplin handelten.
Der Meister bemerkte de Jong und ließ die Hände ein Stück sinken. »Sie sind zu früh«, tadelte er und öffnete die Augen. »Ach, wer sagt’s denn, unser Nachwuchsunternehmer von der Kripo! Habe ich Sie am Ende doch neugierig gemacht?«
»Das jetzt nicht gerade«, gab der Exkommissar zurück. Das Geräusch von rückenden Stühlen verriet ihm, dass der Raum nebenan sich allmählich füllte. »Aber ich dachte: Ich bin zufällig in der Nähe, also warum sich dieses bizarre Schauspiel nicht ansehen?«
»Lassen Sie’s sein, Herr Kommissar.« Waldemar winkte ärgerlich ab. »Für Störer und Gaffer haben wir hier keine Zeit. Ob Sie’s glauben oder nicht, wir arbeiten hart. Energying ist keine Entspannungsübung. Sie verlangt allen Beteiligten eine Menge ab. Wenn es Ihnen also nichts ausmacht …« Erneut ließen die Finger von Waldemars Schläfen ab und wedelten de Jong in Richtung Ausgang.
Nebenan rückten keine Stühle mehr. Hier und da erklang ein Räuspern oder Hüsteln. Die Gemeinde war wohl inzwischen versammelt. De Jong, schon auf dem Weg hinaus, drehte sich noch einmal um. »Der Fall Kitting«, sagte er. »Lange her, ich weiß, aber kann es sein, dass sein Tod auch auf Ihr Konto geht?«
Waldemar wiederholte seine wegwedelnde Handbewegung. Störe mich nicht in meiner Konzentrationsphase, bedeutete sie. Als wäre de Jong eine lästige Fliege.
»Er hat Ihnen damals die Stelle weggeschnappt. Eine böse Schlappe für Sie, was? Und für Ihr ganzes düsteres Brimborium hier.«
Ein harmloser Ausdruck, aber er sorgte dafür, dass de Jong endlich die volle Aufmerksamkeit des Meisters bekam. Waldemars Lippen zitterten leicht vor unterdrückter Wut. Und durch das Auditorium ging ein empörtes Raunen, woraus de Jong schließen konnte, dass man nebenan die kleine Auseinandersetzung genau verfolgte.
»Kitting war ein Schwätzer«, zischte der Guru. »Ein Intellektueller. Hatte aber keine Ahnung, wovon er sprach. Und so ein Kerl wird Dozent an diesem hochheiligen Institut.«
»War das die einzige Qualifikation, mit der er sie ausgestochen hat? Dass er keine Ahnung hatte, wovon er sprach?«
Kein echtes, sondern ein Sehr-witzig-Grinsen verzerrte das riesige Gesicht. »Ich sagte ja schon, der Mann war ein Intellektueller. Alles ging über den Kopf, verstehen Sie? Nichts über den Verstand. Langweilige Hauptseminare über dunkle Machenschaften, endlose Debatten über Unfairness als Wissenschaft – alles Theorie. Leeres Geschwätz. Aber die meisten hier stehen halt auf leeres Geschwätz. Und deshalb können sie nicht verstehen, dass Energie eine schlichte physikalische Tatsache ist.«
»Eine Tatsache, mit der Sie Menschen in den Selbstmord treiben? Kitting starb nicht durch eigene Hand. Er wurde vergiftet.«
Waldemar gab ein missbilligendes Schnaufen von sich. »Hören Sie, guter Mann, ich habe weder Zeit noch Lust, mit Ihnen über Dinge zu diskutieren, die Ihren Horizont so weit übersteigen, dass es nicht mal einen Sinn hätte, Ihnen eine Leiter zu holen.«
De Jong ließ nicht locker. »Immerhin hatten Sie ja ein Motiv, was Kitting anging. Ganz im Gegensatz zu Frau Trudeau, stimmt’s?«
Zum Zeichen, dass er es für unter seiner Würde hielt zu antworten, schüttelte Waldemar den Kopf. Dann griff er hinter sich, um einen Schalter zu bedienen. Das Licht wurde schwächer, der Raum lag jetzt im Dämmerlicht. De Jong verließ Waldemars Kammer und trat in den Seminarraum. Nur die Hälfte der Stühle war besetzt, schätzungsweise fünfzehn Gesichter starrten ihn neugierig an, manche unverhohlen argwöhnisch. Auf den ersten Blick sah de Jong ganz normale Menschen, die meisten ältere Jahrgänge, weder schrille noch durchgeknallte Typen. Gläubige Menschen. Er drehte sich noch einmal um, als er hinter sich ein »nicht so schnell, guter Mann!« hörte.
Auf der Schwelle, an die Schiebetür gelehnt, stand Armin Waldemar. Er hatte sein Jackett abgelegt, trug eine schwarze Hose und darüber ein grellweißes Hemd, das in dem Halbdunkel bläulich aufleuchtete. Zum Zeichen, dass er überhaupt nicht angespannt war, verschränkte er die Arme vor der Brust und kreuzte ein Bein locker über das andere. »So viele peinliche Fragen, mit denen Sie mir den Nerv geraubt haben. Aber was ist eigentlich mit Ihnen?«
Der Exkommissar zuckte mit den Schultern. »Mit mir?«
»Erzählen Sie uns etwas von sich. Das ist doch nur recht und billig. Quid pro quo, nicht wahr?«
De Jong schüttelte den Kopf, unsicher, ob ihn Waldemars Gebaren nervte oder amüsierte.
»Oh doch, das sind Sie mir schuldig, de Jong. Und nicht nur mir. Wie wär’s, wenn Sie uns von Ihrem Bruder erzählen?«
De Jong erstarrte. Dann schluckte er. Irgendjemand hustete, aber sonst war es im Raum mucksmäuschenstill.
»Na, trauen Sie sich was«, drängte Waldemar. »Raus mit der Sprache. Wir sind hier unter uns.«
»Was geht Sie das an?«, flüsterte der Exkommissar, trotzdem war es für alle hörbar. »Und was wissen Sie von meinem Bruder?«
»Ich habe Augen im Kopf, mein Guter. Sie mögen das vielleicht für Brimborium halten, aber es sind besondere Augen, mit denen ich in Sie hineinsehen kann.«
De Jong hatte nicht die geringste Lust auf diese billige Show. »Sie können mich mal«, sagte er.
Er wollte sich zum Gehen wenden, zögerte aber. Waldemar befand sich hier in seinem Element, und de Jong war ihm auf den Leim gegangen. Ein dummer Fehler! Und obwohl ihm das vollkommen klar war, rührte er sich nicht von der Stelle.
»Zwei Brüder, die einander hasslieben«, fuhr Waldemar im Singsang-Ton eines Predigers fort, während er jetzt mit großen, gemessenen Schritten de Jong umkurvte, wie ein Anwalt bei einem Kreuzverhör. »Blass und durchschnittlich der eine, schillernd und hochbegabt der andere, hab ich recht? Von allen bewundert, während Sie, de Jong, für ihn auch noch das Kindermädchen spielen mussten. So war es doch. Aber Sie wollten nicht Ihres Bruders Hüter sein, stimmt’s?«
»Hören Sie auf, das geht Sie einen Scheiß an«, verlangte de Jong, und er hörte selbst, wie sich ein flehender Unterton in seine Stimme schlich. Er hatte zu schwitzen begonnen und spürte die Augen aller Anwesenden, die unablässig auf ihn gerichtet waren. »Denken Sie, ich falle auf Ihre billigen Jahrmarkttricks herein?« Damit schaffte er es endlich, wenn auch mühsam, Schritt für Schritt an Waldemars Publikum vorbei zur Tür. Aber bevor sich die hinter ihm schloss, erreichte ihn noch Waldemars jetzt leisere, aber immer noch klar verständliche Stimme: »Ich kann Sie zerquetschen, de Jong, denken Sie daran. Denken Sie daran, dass ich an Sie denke. Dass wir hier an Sie denken.«