27. Kapitel

Rudi Nitsch vom Förderverein Gasometer Münster e.V. hatte zurückgerufen, weil de Jong um Rückruf gebeten hatte. Er hatte de Jong aber nicht erreicht, sodass diesem nichts anderes übrig geblieben war, als seinerseits zurückzurufen. Und so hatten sie sich für den Samstagmorgen um zehn verabredet.

Es war ein strahlender Frühlingsmorgen, de Jong stand vor dem riesigen, kreisrunden Stahlgerüst, das in den tiefblauen Himmel hinaufragte. Treppen in Gelb, die hinauf zu den Umläufen führten, luftige Rundläufe unter freiem Himmel in einem in Orange leuchtenden, riesenhaften Klettergerüst. Nebenan brandete der Autoverkehr vorbei, abwechselnd auf dem Albersloher Weg und auf der Umgehungsstraße.

Nitsch war ein ziemlich kleiner Kerl mit einem freundlichen Gesicht, das von elefantenartigen Segelohren eingerahmt wurde. In seinem fleckigen, grünen Parka musste er bei den sommerlichen Temperaturen ordentlich schwitzen. Er wirkte ein bisschen enttäuscht, weil er sich wohl darauf gefreut hatte, mit de Jong eine kleine Führung zu veranstalten, aber als sich der Exkommissar stattdessen nach dem Selbstmord erkundigte, kam er doch ins Plaudern. Nitsch berichtete wortreich, dass er Starnberg damals höchstpersönlich willkommen geheißen habe. »Genau hier, wo wir jetzt stehen.« Und dass er auch keine Führung gewollt habe.

»Machte er auf Sie einen lebensmüden Eindruck?«

»Ach, wissense, wer steckt da schon drin?« Nitschs Stirn kräuselte sich nachdenklich. »Der Mann war jedenfalls irgendwie angespannt. Anstatt die Aussicht zu genießen, er immer: In Bayern gibt es Berge, die sind zehnmal höher.«

»Stimmt ja auch.«

»Kennen Sie diese Typen, die am Roulette-Tisch immer gewinnen und sich trotzdem kein bisschen drüber freuen? So einer war der. Dabei hat er die ganze Zeit rumgeprahlt. FC-Bayern-mäßig. Dat Geld immer noch die meisten Tore schießt. So in der Art. Aber mal ehrlich, das ist doch kein Grund, sich umzubringen.«

»Der Mann war also nicht lebensmüde«, rekapitulierte de Jong. »Und hat sich trotzdem da heruntergestürzt?«

»Nee, eben nicht. Ich kann’s ja nicht beschwören, weil ich nicht dabei war. Aber wennse mich fragen: Der hat sich nicht gestürzt. Er ist ausgerutscht.«

»Es war ein Unfall?«

»Was anderes hab ich den Bullen auch nicht erzählt. Aber guckense mal.« Nitsch legte den Kopf in den Nacken und reckte seinen kurzen Arm in den Himmel. »Auf den Rundläufen und den Abstiegen, egal wo – nirgendwo ein Zentimeter ohne Geländer, sehense? Da haben die sich gesagt: Dat kann kein Unfall sein. War’s aber doch.«

»Sie meinen, er ist abgestürzt?« De Jong sah auch hinauf und blinzelte gegen die Sonne. »Trotz der Geländer?«

»Das täuscht. Wenn et nieselt und nass ist, sind Sie mir nichts dir nichts ausgerutscht. Und wenn du Pech hast, flutschst du da durch, und es geht bergab. Tatsache.« Der Mann vom Förderverein zuckte mit den Schultern. »Aber was macht dat überhaupt für einen Unterschied? Tot ist tot.«

»Na ja«, erhob de Jong mit einem skeptischen Unterton vagen Einspruch.

Rudi Nitsch schob die Hände in die Taschen und sah noch kleiner aus, zwergenhaft geradezu. »Na ja was?«

»Es ist so, dass jemand behauptet, er hätte Starnberg zum Selbstmord quasi gezwungen. Oder zum Unfall, je nachdem.«

»Und wie will er dat gemacht haben? Mit Voodoo oder wie?«

»So ähnlich.«

Rudi Nitsch legte den Kopf schief; er schien zu überlegen. Schließlich schüttelte er entschieden den Kopf, mit dem Gestus eines Experten, der sich auf diesem Gebiet besonders gut auskennt. »Wennse mich fragen: So wat funktioniert doch nur mit Einbildung.«

»Einbildung? Dass jemand sich nur einbildet, tot zu sein?«

»Nee, ich meine, der vom Voodoo Verhexte bildet sich ein, verhext zu sein. Und der Verhexer bildet sich ein, jemanden verhext zu haben. Umgekehrt: Wenn keiner sich was einbildet, passiert gar nichts, so einfach is dat.«

»Wenn Sie meinen«, sagte de Jong, musste aber zugeben, dass der Wächter des Gasometers den Punkt ziemlich genau getroffen hatte.

»Natürlich könnte es auch sein«, schwadronierte Nitsch weiter, »dat Starnberg damals dem alten Woltering begegnet ist.«

Ein paar Sekunden vergingen, bis de Jong sich fragte, wer damit wohl gemeint sei. »Dem alten Woltering?«

»Der hat hier immer nach dem Rechten gesehen. Regelmäßig die Anlage gecheckt. Und eines Tages ist er abgestürzt. Tja, so wat passiert. Ich sach ja.«

»Sie meinen, dem ist es genauso ergangen wie Starnberg?«

»So ungefähr. Nur dat Woltering immer noch hier rumspukt. Sagen die Leute jedenfalls. Wie dat so is: Es gibt eben Sachen, die sieht man vor sich, obwohl es sie gar nicht gibt.«

De Jong legte den Kopf in den Nacken und sah wieder hinauf. »Da oben kann man bestimmt weit gucken.«

»Klar, und wie. Kommense doch mal vorbei, dann führe ich Sie rum. Aber suchense sich einen Tag aus, an dem das Wetter so ist wie heute.«

»Weiß nicht. So hoch, das ist nichts für mich. Höhenangst.«

»Na ja, rufense mich einfach an.«

Wenn keiner sich was einbildet, passiert gar nichts, so einfach is dat. Nachdem de Jong der Satz zum dritten Mal durch den Kopf gegangen war, hatte er das Gefühl, allmählich wieder zu sich zu kommen. Ein gutes Gefühl. Als wäre er tagelang durch einen dunklen Keller geirrt, und dann hätte jemand das Licht angeknipst und jetzt erst wäre ihm aufgegangen, dass er sich überhaupt in einem Keller befand. Oder als wäre er nach einer Ewigkeit unter Wasser mit angehaltenem Atem endlich wieder aufgetaucht. Der kleine Mann hatte es auf den Punkt gebracht. Es war wirklich einfach – eine Selbstverständlichkeit, die für diesen mysteriösen Woltering ebenso galt wie für Waldemar. Das brachte de Jong auf eine Idee. Er würde den Waldemar-Spuk beenden. Dafür brauchte er Bühlows Hilfe.

*  *  *

»Wie kommst du denn darauf?!« Die Stimme des Hauptkommissars am Telefon klang höher als sonst. Genervt. Empört vielleicht sogar.

»Wie ich darauf komme? Es war deine Idee, Achim. Den Kerl in die Zange nehmen, weißt du nicht mehr? Damit er endlich seine Klappe hält. Damit er Ruhe gibt.«

»Das soll ich gesagt haben?«

»Ganz genau. Und ich finde, das ist kein schlechter Plan.«

»Aber wie denkst du dir das denn konkret?«

»Na ja, du kannst ihn natürlich nicht wirklich in die Zange nehmen. Das ist ein bildlicher Ausdruck dafür, dass du ihn festnimmst.«

»Aber das kann ich nicht. Nicht ohne Haftbefehl. Wie denkst du dir das? Das hier ist Münster und nicht Minsk.«

»War auch nur so ein Gedanke«, räumte de Jong ein. »Minsk und Münster, das ist natürlich ein Riesenunterschied.«

Vom anderen Ende kam ein unwilliges Schnaufen. »Wieso hab ich bloß dieses Gefühl?«

»Welches?«

»Ein Gefühl von Scheinheiligkeit. Zum Beispiel weil du mir vorspielst, als wäre dir dieser Riesenunterschied erst heute klar geworden?«

»Nein, das muss ich dir nicht vorspielen. Aber mal was anderes: Kannst du mir dein Auto leihen?«

»Was willst du denn damit?«

»Na, was will man denn mit einem Auto? Jetzt komm schon, immer auf dem Fahrrad hocken an der frischen Luft ist auch nicht gesund.«

Am Nachmittag gegen vier holte de Jong Bühlows Fiat am Staufenplatz ab. Erneut versuchte der Hauptkommissar zu erfahren, wozu de Jong den Wagen auslieh, und de Jong weigerte sich erneut, damit herauszurücken. Wenn er Bühlow einweihte, konnte er die Sache gleich vergessen. Dann würde der junge Hauptkommissar wieder von Minsk anfangen und von Methoden, die man vielleicht in Chicago anwandte, aber nicht in der westfälischen Mustermetropole, die einem uralten Spruch zufolge nicht mal halb so groß war wie der dortige Zentralfriedhof, aber doppelt so tot.

Der Punkt war folgender: Waldemar wusste zwar, dass de Jong Bulle war, aber ausgerechnet ihn hatte de Jong nie dahingehend korrigiert, dass er ehemaliger Bulle war, so wie er es sonst bei allen zu tun pflegte. Reiner Zufall. Aber darin sah er jetzt seine Chance.

Natürlich hätte er sich auch eingestehen können, dass das aufklärerische Gehabe und das Agieren im Dienste der Wahrheit und nichts als der Wahrheit eine aufgesetzte, selbstgerechte Attitüde war. Dass es in Wirklichkeit vor allem darum ging, dass de Jong noch eine Rechnung mit Waldemar offen hatte. Jenes unwürdige Theater, das der Möchtegernguru mit ihm vor seiner versammelten Dark-Energy-Gemeinde veranstaltet hatte, konnte er nicht vergessen. Um deutlich zu werden: Wäre er ehrlich gewesen, hätte er zugegeben, dass es eigentlich nur darum ging. Wenn auch für die Wahrheit nicht übermäßig viel herausspringen würde, brannte de Jong doch darauf zu sehen, wie das breite und überhebliche Gurugrinsen in der unschön proportionierten Visage in sich zusammenfiel.