Nach dem Gespräch saß de Jong da und wartete immer noch darauf, dass Eugen Küppers eintrudelte. Er überlegte, ob er schon das zweite Bier bestellen sollte. Immer noch war der Abend auf verführerische Weise sommerlich. Immer noch erfüllte de Jong die Vorfreude auf das bevorstehende romantische Date mit Rabea Holm. Auch wenn es eigentlich kein Date und schon gar nicht romantisch war, aber wer wusste schon, was sich an so einem Abend alles noch ergeben würde.
Er hielt Ausschau nach der Kellnerin, aber da entdeckte er Eugen Küppers, der gerade sein Rad abgeschlossen und winkend Kurs auf seinen Tisch genommen hatte. »Kalli Mehra!«, dröhnte er, sobald er angekommen war, und grinste breit und vielsagend.
De Jong sah sich um. »Ich sehe an diesem Tisch niemand sitzen, der so heißt.«
»Das ist griechisch. Heißt ›guten Tag‹.« Küppers pflanzte sich auf einen Stuhl und rückte ihn an den Tisch. Winkte der Bedienung und deutete auf de Jongs Bierglas, worauf de Jong geistesgegenwärtig zwei Finger hob.
Dann beugte Küppers sich vor. »Wir haben letzte Woche gebucht. Zwei Wochen Rhodos. All inclusive. Ich dachte mir, es schadet wohl nichts, wenn man sich ein wenig in der Landessprache verständigen kann.«
»Alle Achtung!«, staunte de Jong. »Das hätte ich dir gar nicht zugetraut.«
Küppers schnaufte amüsiert. »Schon klar. Du denkst, ich wär eine dieser Dumpfbacken, denen es scheißegal ist, ob sie auf Malle oder in der Domrep herumsitzen. Hauptsache Sonne und was zu trinken.«
»Nein, so was hab ich noch nie gedacht«, behauptete de Jong kühn. »Aber mal zu was ganz anderem«, sagte er und kam sich schon vor wie Schrödinger ohne Katze, der die Konversation gern mit Filmzitaten würzte. »Dein Neffe meinte, du könntest mir vielleicht helfen. Es geht um eine Sache, die schon ein paar Jahre her ist. Am Hülsbrock-Kolleg. Kitting, der später ermordet wurde, hat ein geheimes Seminar geleitet, das er Tafelrunde nannte …«
»Genau, die Tafelrunde. Warte mal …« Küppers kratzte sich hinter dem Ohr und richtete den Finger, der gekratzt hatte, auf de Jong. »Ich erinnere mich dunkel. Aber das war keine große Sache. Es gab damals eine Untersuchung, und ein Journalist – den Namen habe ich vergessen – hat den inzwischen verstorbenen Professor Kitting schwer belastet. Aufgrund einer Seminararbeit, die auf einem USB-Stick gespeichert war. Es ging um den Verdacht, dass jemand in den Selbstmord getrieben wurde.«
»Weiter«, sagte de Jong.
Die Bedienung eilte heran und platzierte ein volles Bierglas auf dem Tisch vor Küppers.
»Eff Scharissto!«, schmetterte Eugen, worauf die Kellnerin regelrecht zusammenzuckte und wortlos den Rückweg antrat. »›Danke‹ auf Griechisch«, erläuterte Küppers für de Jong.
»Gut zu wissen«, sagte de Jong, ohne es zu meinen. »Erzähl mir von dem Selbstmord.«
»Nolte, genau. So hieß der Zeitungsfritze, der das ausgegraben hat. Also, soweit ich das noch zusammenbekomme, kam heraus, dass der Betreffende eine Sex-Seite im Internet betrieb und später Selbstmord beging. Dieser Nolte wollte einen direkten Zusammenhang herstellen. Das Kolleg, das dieses ominöse Seminar abgehalten hat, des Mordes beschuldigen. Aber das ging schief. Letztlich gab es keinerlei Hinweis auf eine Straftat.«
»Die Frage ist«, sagte de Jong, »ob es bei diesem Selbstmord irgendeinen Bezug zu unserer Serie am Hülsbrock-Kolleg gibt.«
Küppers nahm einen ausgiebigen Schluck Bier. »Also, zufällig war ich an der Ermittlung damals beteiligt. Und diese Seminararbeit – die hab ich mir übrigens auf einen Stick kopiert, obwohl das gar nicht erlaubt war –, aus der hat sich alles erklärt. Es blieben keine Fragen offen. Die Ermittlungen wurden eingestellt.«
»Hast du die noch? Ich meine diese Arbeit auf dem Stick?«
»Kann sein, also da müsste ich nachsehen … Sag mal, dieser Grieche, wo wir neulich waren …«
»Aristoteles.«
»Genau. Was denkst du, sollen wir da mal wieder hingehen? Ich könnte ein bisschen Konversation üben.«
De Jong hielt das für keine gute Idee.
»Die haben da Papierservietten, da stehen die meisten Worte drauf. Alles, was du im Urlaub so an Sprache brauchst. Essen bestellen, aufs Klo gehen, die Rechnung verlangen – all so was.«
Auch wenn Küppers eindeutig oft nervte, kam de Jong zu dem Schluss, dass er ihn nicht genug hasste, um ihn dieser Peinlichkeit auszusetzen. »Was hältst du davon, wenn ich dir mal so eine mitbringe?«, schlug er vor.
»Gute Idee«, freute sich sein Gegenüber.
»Aber dafür schickst du mir diese Seminararbeit per Mail.«
* * *
Eugen Küppers war ein nachtragender Mensch. Für de Jong ein mitunter schwer erträglicher Charakterzug. Irgendeine Äußerung, die einem irgendwann einmal herausgerutscht war, ein leicht ironischer Unterton in der Stimme, um ihn ein wenig zu veräppeln – manches war vergeben, aber niemals war etwas vergessen. Küppers speicherte solche Dinge ab und holte sie Jahrzehnte später wieder hervor. Niemand auf der ganzen Welt – so schien es de Jong – war so perfekt und ohne Fehl, dass Küppers nicht in der Lage war, irgendetwas Unschönes aus seiner Vergangenheit hervorzukramen und ihm vorzuhalten. Diese Unfähigkeit zu vergessen hatte aber auch eine nützliche Seite, wie sich heute zeigte: Die Textdatei, um die de Jong gebeten hatte, trudelte zuverlässig ein, kaum dass der Exkommissar zurück an Bord des Alten Mädchens war.
Es war kurz nach elf. Einige Lichter der Stadt spiegelten sich friedlich im schwarzen Wasser des Kanals, auf einer Dachterrasse weiter weg fand eine Party statt, und drüben auf dem Seitenweg zog ein später Spaziergänger einen müden Hund hinter sich her. De Jong machte es sich mit einem Tee und dem Laptop oben an Deck gemütlich. Während sich Eugens Mail öffnete, meldete sein Handy den Eingang einer SMS:
Rabea Holm, gebürtig aus Ahlen in Westfalen, wohnhaft in Münster. Sie hat einen Bruder beziehungsweise hatte. Er beging Selbstmord. Du lagst richtig: Sie hat zwar Pharmazie studiert, aber nie in dem Bereich gearbeitet. Gruß Achim.
De Jong nahm einen zu hastigen Schluck vom heißen Tee, fluchte, als er sich die Zunge verbrannte, und klickte mit der Maus auf die Anlage. Es öffnete sich ein Text mit dem Titel Seminararbeit über ein Feldprojekt zum Thema präventive Notwehr in Theorie und Praxis. Sommersemester 2009. Leitung Dr. Eusebius R. Kitting.
1
Dienstagabend, 19:30 Uhr. Es ist so weit. Das geheime Seminar findet statt. Und ich bin dabei. Es war ein langer Weg, aber jetzt sitze ich hier am Tisch …
Irgendwann um Mitternacht ging de Jong nach unten und holte sich ein Bier. Und eine Taschenlampe. Als er kurz darauf mit dem Text durch war, saß er immer noch eine Weile da und starrte in die Nacht. Dann nahm er sein Smartphone und wählte Bühlows Nummer. Der Hauptkommissar würde sicher nicht begeistert sein, aber de Jong ging es schließlich genauso. Er wollte nicht hören, was er hören würde.
Es klingelte lange, dann hörte de Jong ein kratzendes Röcheln.
»Nein. Es sind zwei Uhr.«
»Frau Holms Bruder. Wie hieß der?«
»Keine Ahnung. Warum willst du das denn …«
»Du hast es doch sicher im Computer.«
»Aber der Computer ist doch nicht hier. Wieso hat das denn keine Zeit bis morgen?«
»Weil ich es jetzt wissen muss. Und du bist ja eh schon wach.«
»Ja, klar, du hast mich geweckt.«
»Okay. Aber könntest du …«
»Wie soll ich das von hier aus herausfinden? Ich liege im Bett.«
»Na, indem du vielleicht kurz aufstehst, würde ich vorschlagen«, drängelte de Jong ungeduldig.
Nach dem Anruf stieg er in den Bauch des Bootes und holte sich ein weiteres Bier. Inzwischen war es halb drei. Vogelgezwitscher kündigte lautstark den neuen Morgen an. Zu spät, um noch schlafen zu gehen. Eine Zeit lang erwog er allen Ernstes, sich auf Merzenichs Strategie einzulassen. In alle Richtungen ermitteln. Allzu voreilig hatte er sich darüber lustig gemacht – jetzt erst erkannte er die Vorteile dieser Methode. Wenn Hattkämpers Studie auch nur ansatzweise hielt, was sie versprach – damit wäre doch allen gedient: Der Fall wäre aufgeklärt, und Waldemar käme endlich in den Genuss der Anerkennung, ein Mörder zu sein. Um das zu erkennen, hatte de Jong fünf Bier gebraucht.