Otto – was italienisch war und »acht« bedeutete – Schrödinger saß an einem Tisch direkt gegenüber dem Aquarium mit den seltenen Meeresfischen und studierte die Speisekarte. Er sah auf, als sich de Jong näherte. »Na, Sie auch schon da? Können Sie mir hier irgendetwas empfehlen?«
»Frühstücksravioli«, sagte de Jong. »Hab sie erst kürzlich probiert, sie sind ganz passabel.«
»Und wie steht’s mit dem veganen Schinkenomelett?«
De Jong hatte keine Ahnung. »Das lassen Sie mal sein.« Er setzte sich Schrödinger gegenüber.
Die Bedienung näherte sich und nahm neben ihrem Tisch Aufstellung. »Was darf ich Ihnen bringen?«
»Veganes Schinkenomelett«, bestellte Schrödinger.
»Ist leider aus.«
»Und was ist damit?« Sein Finger deutete auf die Speisekarte. »Gegrillte Guppies mit Zwiebelringen in Sahnesauce.«
Die junge Frau zuckte mit den Schultern. »Die gibt’s nur sonntags.«
»Dann nehme ich einen Cappuccino mit viel Zucker, bitte.«
Jetzt wandte sich die Kellnerin an de Jong. »Ich hätte gerne genau dasselbe wie die Dame am Nebentisch«, sagte er.
»Welche Dame?«, fragte sie verwundert. Da saß niemand.
»Schon gut«, sagte de Jong. »Bringen Sie mir auch einen Kaffee.« Sie nickte und entfernte sich.
»Das war ein Zitat?«, vermutete Schrödinger. »Das mit dem ›dasselbe wie die Dame am Nebentisch‹?«
»Sie haben es also erkannt?«
»Wie auch nicht? Es ist ein Klassiker. Harry und Sally.«
»Ich hab es woanders gelesen«, sagte de Jong. »In einer Seminararbeit über präventive Notwehr.«
Schon wurden die Heißgetränke serviert, dazu gab es eine Schale mit Keksen. Schrödinger beugte sich vor und pustete sanft in seinen Cappuccino. »Hatte ich mir schon gedacht«, meinte er und lächelte de Jong an. »Deshalb wollten Sie mich also sprechen?«
De Jong nickte. »Sie haben Frau Holm getötet, stimmt’s? Nicht Ulf Meckelbeck.«
»Was verleitet Sie zu dieser kühnen Annahme?«
»Na ja, sagen wir einfach, im Falle, dass Herr Meckelbeck außer Verdacht wäre, kämen nur noch Sie infrage. Als ich Meckelbeck die Sache mit Frau Holm erklärte, haben Sie sich hinter einer Topfpflanze versteckt. Sie haben alles mitgehört.«
»Na ja, von Verstecken kann ja wohl keine Rede sein«, wandte der Dozent ein. »Aber was dann? Ich habe die Rechnung bezahlt, bin losgegangen und habe die Frau in die Badewanne gesteckt? So in etwa?«
»Dass sie in der Badewanne lag, habe ich gar nicht erwähnt.«
»Ach, jetzt kommen Sie aber!« Schrödinger schüttelte enttäuscht den Kopf. »So ein alter Hut aus Ihrem Mund? Da habe ich mir aber mehr erwartet.«
Der Kerl schien das hier für ein heiteres Quiz oder so etwas Ähnliches zu halten.
Schrödinger beugte sich vor. »Ich sag Ihnen mal was, de Jong: Wenn die selige Frau Holm das getan hat, wovon Sie glauben, dass sie es getan hat, dann hat sie dafür meinen gewissen Respekt.«
De Jong rührte in seinem Kaffee. »Ihren gewissen Respekt.«
»Genau das. Ich bin nämlich nicht eines dieser verwöhnten Bürschchen, die mit einem goldenen Scheißhaus groß geworden sind. Klar, als Kind wollte ich immer zu ihnen gehören. Aber mein Vater war bloß Hausmeister. Wissen Sie, wie ich es geschafft habe, in die Tafelrunde zu kommen? Mein Dad hat gesehen, wie Schüler sich einen Joint geteilt haben, was an der spießigen Elite-Schule ein absolutes No-Go war.«
»Also gut«, sagte de Jong. »Aber Sie haben die Chance optimal genutzt und Ihren Weg gemacht. Am Ende sind Sie als Dozent für Unzufriedenheit sogar an Ihre ehemalige Schule zurückgekehrt.«
Schrödinger nickte. »Ich habe es geschafft, bei den arroganten Ärschen dazuzugehören. Selbst einer zu werden. So weit richtig. Aber was habe ich damit wirklich erreicht? Gar nichts, so sieht’s doch aus. Meine Frau findet mich unerträglich und hat was mit einem Studenten der WWU angefangen. Ich kann es ihr nicht mal verdenken. So geht’s eben: Du hast alles gemacht, bist immer schön die Leiter hochgeklettert. Und jetzt bist du oben, und was ist da: nichts!«
»Es gibt doch immer was«, sagte de Jong.
»Quatsch. Eben nicht. Da ist nichts, sag ich Ihnen.«
De Jong musste an Janwillem denken, dem es vielleicht so ähnlich ergangen war. Und ihm fiel der Mann ein, der zufällig den Sinn des Lebens fand, und dann stellte sich heraus, dass seine Frau ihn ihm eigentlich zum Geburtstag schenken wollte. Aber das war nun vorbei. Die Überraschung war dahin. »Nur dass ich Ihnen das nicht abkaufe«, sagte er. Nippte an seinem Kaffee und wünschte sich, eine heiße Schokolade bestellt zu haben.
»Ihr Problem.« Schrödinger zuckte mit den Schultern, mimte den Gleichgültigen. Aber als de Jong in aller Ruhe seinen Kaffee schlürfte, fragte er dann doch: »Was genau?«
»Was genau was?«
»Was kaufen Sie mir nicht ab?«
»Stimmt, Sie sind nicht als arroganter Arsch geboren. Aber Sie haben sich zu einem hochgearbeitet. Und dann kommt diese Zicke und will das nicht begreifen. Dass die Sache bei Ihnen ganz anders liegt als bei der eingebildeten Lady Galahad oder bei Lanzelot, dem Supertyp. Das war ihr aber egal, und sie wollte Sie zerstören, genau wie die anderen, obwohl Sie doch gar nicht dazugehörten. Deshalb entschlossen Sie sich zu handeln, bevor Frau Holm handelte.«
»Ihre Theorie«, sagte der Dozent, um einen gleichgültigen Ton bemüht.
»Meine Theorie«, bestätigte de Jong. »Und dann wäre da ja noch das Filmzitat.«
»Das von der Dame am Nebentisch?«
»Nein, das meine ich nicht. Ich spreche von dem auf dem Abschiedsbrief. Das davon handelt, dass jemand die Leiter hochgeklettert ist und da ist nichts.«
Schrödinger starrte ihn verständnislos an.
De Jong kramte einen Zettel aus der Tasche und las vor: »Life’s a piece of shit, when you look at it.«
»Das ist kein Filmzitat«, belehrte ihn der Dozent. »Es stammt aus einem Song. Always look on the bright side of life.«
»Und der Song wurde in einem Film gesungen, das brauche ich Ihnen ja wohl nicht zu sagen.«
»Allerdings nicht.«
»Also ist es doch ein Filmzitat.«
»Und was wollen Sie damit andeuten?«
»Auch das wissen Sie.« Jetzt beugte sich de Jong vor. »Ein weiser Mann hat einmal gesagt: Leute, die Witze reißen, über die keiner lacht, sind wie schlummernde Vulkane.« Er zwang sich dazu, den »weisen Mann« auszusprechen, ohne dabei breit zu grinsen.
»Mir ist leider nicht klar, was dieser weise Mann damit sagen wollte«, meinte Schrödinger.
»Ich habe mir Folgendes gedacht«, sagte de Jong. »Sie, Schrödinger, wollten nicht nur dazugehören. Das reichte Ihnen nicht. Sie wollten, dass die anderen Sie witzig fanden. Schlagfertig. Sie für einen coolen Kerl hielten, der immer das passende Filmzitat zur Hand hatte. Aber jedes Mal, wenn Sie zitieren, lacht keiner. Da ist niemand, der das zu würdigen weiß. Und das hat Ihnen eines Tages gereicht.«
»Was für eine ausgefuchste Hypothese!«, spottete sein Gegenüber.
»Moment«, sagte de Jong. »Und deswegen bedeutet Ihnen all das, was Sie erreicht haben, nichts. A piece of shit sozusagen. Aber wie das nun einmal so ist: Wenn jemand damit droht, einem das wegzunehmen, was einem angeblich überhaupt nichts bedeutet, sieht man dann doch plötzlich rot. Vielleicht weil man das Gefühl hat, dass einem alles weggenommen wird. Was meinen Sie?«
Schrödinger sagte nichts dazu. Also saßen sie eine Weile einander schweigend gegenüber. Dann grinste der Dozent. »Wussten Sie übrigens, dass dieser Film so gotteslästerlich war, dass er bis vor wenigen Jahren an Feiertagen nicht gezeigt werden durfte?«
»Insofern ein klassischer Text für einen Abschiedsbrief«, meinte de Jong.
Das Grinsen verschwand wieder. »Wenn überhaupt«, erklärte der Dozent für Unzufriedenheit, »war es Notwehr.«
»Sie meinen präventive Notwehr?«
»Ich meine: die Mörderin zu ermorden, bevor sie einen selbst ermordete. Daran ist nichts Verwerfliches.«
»Das meinen Sie doch jetzt nicht ernst«, sagte de Jong. »Wollen Sie das etwa Ihren Schülern erzählen? Und dann dürfen wir ja auch Rudow nicht vergessen. Den Sie und die anderen edlen Ritter von der Klippe gestoßen haben.«
»Ja, das …« Schrödinger warf die Hände in die Luft. »Gott, wir waren damals jung. Waren Sie niemals jung?«
De Jong nervte es, dass diese Floskel so oft als Entschuldigung herhalten musste. »Würde es irgendetwas ändern, wenn nicht?«
»Sie glauben mir wahrscheinlich nicht, aber all das, was passiert ist, ist mir nicht egal. Die Sache tut mir leid, und ich will es wiedergutmachen.«
»Die Sache?«
Schrödinger nickte. »Das unvermeidbare, aber dennoch tragische Ableben Frau Holms.«
»Den Mord, meinen Sie.«
»Wenn Sie so wollen.« Der Dozent deutete auf de Jongs Tasse. »Noch einen Kaffee?«
»Nein danke. Aber wie wollen Sie den wiedergutmachen?«
»Das ist mal meine Sorge. Hauptsache, Sie lassen es vorerst dabei bewenden. Wem nützt es jetzt noch, die große Glocke zu läuten? Sie haben keine Beweise. Und Sie sind kein Bulle mehr, de Jong. Sie haben das nicht nötig. – ›Ich bin nun mal ein Cop, es ist mein Job, Leute wie Sie nicht davonkommen zu lassen.‹« Schrödinger bemühte sich, so wie Clint Eastwood zu klingen. »Das sind doch nicht Sie.«
»Vielleicht nicht«, räumte de Jong ein. »Aber Sie können damit trotzdem nicht davonkommen.«
»Wieso nicht?«
»Aus Prinzip«, sagte de Jong.
Der andere lachte verächtlich.
»Manchmal sind Prinzipien wichtig. Man sollte ruhig auf sie schimpfen, okay. Aber manchmal sind sie auch wichtig.«
Schrödinger überlegte lange und ordnete die Kekse auf seiner Serviette zu einem Schachbrettmuster. »Wer von euch ohne Sünde ist«, verkündete er dann, nicht mehr im Clint-Eastwood-Gestus, sondern eher wie ein Priester, »der werfe den ersten Stein.«
»Die Zeit, in der man Steine geworfen hat, haben wir hierzulande Gott sei Dank schon lange hinter uns.«
Schrödinger presste die Lippen aufeinander. Für eine weitere Weile saßen sich die beiden Männer gegenüber. De Jong atmete geräuschvoll ein und wieder aus, um irgendwie zu äußern, dass er nicht den ganzen Tag hier sitzen und schweigen wollte. Als Schrödinger schließlich das Schweigen brach, hatte seine Stimme schon wieder die Tonlage geändert. Sie klang jetzt rau und wettergegerbt. »Hören Sie, mein Freund, wissen Sie, was ich jetzt tun werde? Ich werde da hinausgehen. Und Sie werden mich nicht aufhalten.«
»Vielleicht nicht«, sagte de Jong. »Aber Sie werden nicht weit kommen.«
Wie aus dem Nichts tauchte jemand an ihrem Tisch auf. Bühlow, betont lässig, so wie sie es verabredet hatten. »Ich frage mich gerade, ob die hier auch Himmelstorte haben«, sagte er.
»Darf ich vorstellen?«, sagte de Jong. »Hauptkommissar Bühlow von der Mordkommission.«
Vielleicht waren sie zu forsch vorgegangen. Vielleicht hätte Bühlow noch etwas länger in Deckung bleiben sollen. Jedenfalls schien Schrödinger aus dem Konzept zu geraten. »Hab ich’s mir doch gedacht, dass Sie die Kavallerie geholt haben«, murmelte er wütend. »Aber da spiele ich nicht mit.« Plötzlich hielt er einen Revolver in der Hand, er musste ihn schon eine Weile unter dem Tisch versteckt haben. Er richtete ihn auf de Jong, dann, als wäre er dieses Ziels überdrüssig, schwenkte er die Waffe in eine andere Richtung. Der Lauf zeigte auf das bunte Aquarium. »Das wird ein wahrhaft filmreifer Abgang«, sagte Schrödinger. »Mit allen Schikanen …«
»Das wagen Sie nicht«, sagte de Jong und starrte die bunten Korallenfische an, die sich munter in der künstlichen Unterwasserwelt tummelten und nicht den Hauch einer Ahnung davon hatten, in welcher Gefahr sie schwebten. Aber ihm war auch klar, dass Schrödinger genau diese Reaktion erreichen wollte.
»Probieren Sie es doch aus.«
De Jong überlegte. Wahrscheinlich, ja ziemlich sicher sogar, war das eine Attrappe, also würde gar nichts passieren. Woher sollte ein Kolleg-Dozent wie er eine echte Waffe haben? – Aber was, wenn doch? Und was hatte er davon, auf ein paar Zierfische zu schießen? »Die Tierchen haben Ihnen doch nichts getan«, sagte er.
»Na und? Es gibt da eine Szene in Mission Impossible, und in Stirb langsam passiert es auch. Sogar mit Krokodilen.«
»Sie enttäuschen mich«, sagte de Jong. »Spielen sich als Filmkenner auf, und dann kommen Sie mit stumpfsinnigen Blockbustern.«
»Sie würden doch eh nicht weit kommen«, sagte Bühlow.
Schrödinger hob die Waffe.
»Na schön«, lenkte de Jong ein.
Schrödinger streckte ihnen die Fläche der anderen Hand entgegen. »Her mit dem Handy. Und dann noch Auto- und Fahrradschlüssel. Sie haben nichts gegen mich in der Hand. Nur Mutmaßungen und einen vagen Verdacht.«
»Aber Sie wissen auch so, was Sie getan haben.«
»Nicht mal einen Haftbefehl haben Sie.« Schrödinger stand auf, warf einen Zehner auf den Tisch und wandte sich an de Jong: »Wissen Sie, Herr Exkommissar, vielleicht haben Sie recht. Manche Dinge kann man nicht wiedergutmachen. Aber wir werden sehen.« Damit verließ er das Café.
»Tja«, sagte Bühlow. Er machte einen sehr unzufriedenen Eindruck. »Das haben wir ja wohl gründlich vermasselt, oder?«
De Jong antwortete nicht. Er saß nur da und überlegte, was Schrödinger wohl damit gemeint hatte, dass man manche Dinge nicht wiedergutmachen könne. Und dass sie ja noch sehen würden. Gern hätte er nach draußen in den leuchtend blauen Frühlingshimmel geblinzelt, aus dem die Sonne voll und rund erstrahlte. Aber die gesamte Sicht aus dem Fenster wurde gerade eben von einem Wohnmobil ausgefüllt, das ganz allein für sich etwa fünf Parkplätze einnahm. Es war linienbusgroß und wurde von einem einzigen älteren Herrn mit Baseballkappe und seiner Gattin bewohnt, die gerade ausstiegen, um sich im Sancho Panza einen Coffee to go für die Weiterreise zu holen. Was man mit einem Giganten wie diesem machte, konnte man allerdings nicht Verreisen nennen, fand de Jong; das war vielmehr Zu-Hause-Bleiben auf Rädern.