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Dans Prozeß, über den schon viel gelacht worden war, und zu dem all seine Freunde in Feststimmung erschienen, stellte sich schließlich als todernste Angelegenheit heraus. Der Gerichtssaal besaß sehr seltsame Proportionen: Er war sehr breit, aber so kurz, daß man sich, wenn man eintrat, höchstens ein paar Meter vom Richterpodium entfernt befand. Diese breitwinkelige Nähe verstärkte den Eindruck der richterlichen Präsenz um ein Vielfaches. Von der weißen Wand hinter dem hochlehnigen Ledersessel des Richters hob sich in großen, schwarzen Reliefbuchstaben eine Inschrift ab: La legge e uguale per tutti. Darunter hing ein großes, schwarzes Kruzifix. Der Richter, der etwas höher saß als die anderen, trug eine schwere, schwarze Robe aus teurem Stoff mit Silberquasten. Der Gerichtsdiener hatte seinen Platz rechts vom Richter, jedoch eine Stufe tiefer, und trug eine dünne, schwarze Robe aus billigem Stoff mit roten Quasten. Der Staatsanwalt, zur Linken des Richters und ebenfalls eine Stufe tiefer, trug zwar weder Robe noch Quasten, dafür aber eine stets finstere Miene und einen imponierenden Bart, dessen Borsten sich sogar bewegten, wenn er nicht sprach. Das Ganze wirkte, als säße man in der ersten Kinoreihe vor einem Breitwandfilm, dessen Schärfe nicht richtig eingestellt worden war.
Die Zeugenaussagen der jungen Polizisten, die beide in flotter Zivilkleidung erschienen, wirkten sicher und glaubhaft. Dans Verteidiger erreichte überhaupt nichts mit seinem Kreuzverhör, und der Staatsanwalt verlangte ein Minimum von sechs Monaten Strafe für jenen einflußreichen Ausländer, der diese geachteten Beamten beleidigt hatte. Als Dan dann in den Zeugenstand trat, war er schneeweiß, sichtlich nervös, seine Beine schienen ihm den Dienst zu versagen, und in seinen Augen stand jener gequälte Ausdruck, den ich schon einmal an ihm gesehen hatte: in Marseille.
Seine tiefe, kräftige Stimme klang so erstickt, daß man ihn kaum verstehen konnte. In gewisser Hinsicht wirkte sich das zu seinem Vorteil aus, denn niemand konnte sich so recht vorstellen, daß ein so schwacher, sanfter Mann zwei Ordnungshütern einen so gemeinen Kraftausdruck zugerufen haben sollte. Dans Aussage lautete dahingehend, daß alles, was an jenem Abend im Auto gesagt worden war, einem Freund auf dem Rücksitz gegolten habe und keineswegs an die Polizisten gerichtet worden sei.
»Sie sagten Ihrem Freund also im Zusammenhang mit irgendeiner Angelegenheit, daß er Sie am Arsch lecken solle?« erkundigte sich der Staatsanwalt scharfen Tones.
»Nein, Sir. Es war ein Amerikaner, und wir sprachen Englisch. Die englischen Worte klangen vermutlich in ungefähr wie Va fa un colo«.
»Und welche englischen Worte klingen etwa so?«
»Ich kann mich an den genauen Wortlaut nicht erinnern.«
»Wie heißt Ihr Freund?«
»Louis Addams.«
»Wird er als Zeuge erscheinen?«
»Nein, Sir. Er liegt im Krankenhaus. Sein Rücken ist nicht in Ordnung.«
Der Anwalt stand auf. »Ich möchte höflichst vorschlagen, Euer Ehren, daß wir diesen Prozeß verschieben, bis der Zeuge Addams aussagen kann.«
»Warum haben Sie sich nicht seine eidliche Aussage geben lassen?«
»Ich dachte, er wäre bald wieder gesund.«
»Dann hätten Sie den notwendigen Aufschub vor dem Prozeßbeginn beantragen sollen. Jetzt ist es zu spät dafür.«
Ich hatte Dans Freund Lou Addams kennengelernt. Es handelte sich um einen Bildhauer, der tatsächlich im Moment an einem sakroiliakalen Schaden litt. Daß er nicht erschienen war, hatte nicht nur für Dan Nachteile, sondern ebenso auch für mich. Denn falls Dan schuldig gesprochen und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, waren auch meine Hoffnungen und Chancen dahin. Ein freier Dan Reeder war für meinen Aufenthalt in Italien lebenswichtig.
Ich war bis jetzt von niemandem beachtet worden, das heißt, ich hoffte, daß mich niemand beachtet hatte. Ich war erst gekommen, als sich Dans Freunde bereits in dem kleinen Verhandlungsraum drängten, daher beschloß ich, ein Vabanquespiel zu wagen, ein verzweifeltes Vabanquespiel, und anzunehmen, daß ich nicht bemerkt worden war. Ich glaube, es war meine Juraausbildung, die mir den Mut verlieh. Bevor ich mir eigentlich richtig darüber klar wurde, was ich da tat – es war einfach eine Reflexreaktion auf Dans – und vor allem meine – mißliche Lage, war ich auf den Gang hinausgeschlüpft, nahm eine gekrümmte Haltung an, von der ich mir vorstellte, daß sie für sakroiliakale Schmerzen typisch sei, und betrat langsam und mühselig den Verhandlungssaal. Ein wenig fühlte ich mich in die Theatergruppe der Washington University zurückversetzt, in der Charakterrollen á la Paul Muni meine Stärke gewesen waren.
Als Dan mich sah, blieb ihm der Mund offen, und sein Gesicht wurde um noch eine Schattierung blasser.
»Ich bin Louis Addams, Euer Ehren«, erklärte ich in holprigem Italienisch. »Ich bin gekommen, obwohl es der Arzt mir verboten hat, aber ich will lieber lebenslänglich ein Krüppel sein als zuzulassen, daß ein Unschuldiger eine Nacht im Gefängnis verbringt. Ich muß mich setzen. Würde mir bitte jemand helfen?«
Der Gerichtsdiener sprang herzu und half mir behutsam auf einen Stuhl. Der Richter gab mir ein Glas Wasser aus seiner Karaffe, das ich auch dankbar, das Glas mit beiden Händen haltend, trank. Immer wieder von Schmerzwellen unterbrochen, die meinen Körper qualvoll schüttelten, bestätigte ich energisch Dans Erklärung, daß er mit mir gesprochen habe, als wir nach dem Geplänkel mit den Polizisten weiterfuhren. Ich gab an, mich deutlich daran zu erinnern, daß er mich im Zusammenhang mit meinem kranken Rücken – ›zu dem Zeitpunkt war es noch nicht so schlimm wie jetzt, Euer Ehren‹ – gefragt habe, ob es mir etwas ausmache, wenn er ein Stück weiter die Straße hinunter parke, ob es von da aus nicht ›sehr weit für dich ist, Lou‹, was ja auf englisch ›very far for you, Lou‹ heiße und, wenn man es recht bedenke, für die Ohren italienischer Polizisten, die kein Englisch verstanden, durchaus so klingen konnte wie ›va fa un colo‹.
Der Staatsanwalt wollte mir weitere Fragen stellen, aber die Schmerzen in meinem Rücken nahmen auf einmal sehr zu, und da der Richter befürchtete, ich könne hier zu seinen Füßen ein unrühmliches Ende finden, entließ er mich. Einige von Dans Freunden, denen inzwischen ein Licht aufgegangen war, kamen nach vorn und trugen mich buchstäblich auf den Händen aus dem Gerichtssaal hinaus.
Fünf Minuten darauf wurde Dan mit einer strengen Verwarnung des Richters freigesprochen. Wir fuhren zu ihm nach Hause, um unseren Sieg zu feiern. Der Champagner floß in Strömen, ich ruhte weich auf einem Kissenberg, den Natalie mir im Wohnzimmer gebaut hatte, wurde von allen scherzhaft-liebevoll umhegt, und dann brachte Dan mir eine Nachricht, die sein maggiordomo vor einer Stunde für mich entgegengenommen hatte: Signor Gibio wollte mich um fünf Uhr in seiner Wohnung sprechen.