13
Ted und Bis erzählten unabhängig voneinander praktisch die gleiche Geschichte: Es war nichts weiter als eine alte, leere Kiste gewesen, warum sollten sie die groß erwähnen? Sie hatten viele wertlose Gegenstände am unteren Teil des Flußufers gefunden, wo der Boden weich und matschig war. Nein, sie wußten nicht, daß die Kiste eine militärische Kennzeichnung aufwies. Die dicke Schlammschicht hatte alles verdeckt.
Signora Gattamelata erwies sich als aufschlußreicher, aber auch unglaubwürdiger. Vor langer Zeit – der Krieg war gerade vorüber – hatte sie im ›Fagiano‹, dem einzigen Restaurant von Dongo, gegessen. Plötzlich war ihre Gabel auf etwas Hartes gestoßen, das sich zu ihrer Verwunderung als das bezaubernde Medaillon entpuppte, das wir bei ihr auf dem Empfang gesehen hatten. Gewiß, die Gravur war eindeutig. Nein, sie hatte niemals daran gedacht, es den Behörden zu übergeben. Warum auch? War alles andere nicht ebenfalls verschwunden? Sobald die anderen ihre Sachen ablieferten, würde sie das Medaillon auch hergeben.
Meine einsamen Nächte waren eine einzige Folge von verzweifelten Gedanken.
Wenn wir uns in unsere Zimmer zurückgezogen hatten, lag ich hinter meiner verschlossenen Tür schlaflos in meinem Messingbett, und dann passierte die Realität vor meinen Augen Revue. Die Realität Iris, die Realität Keva, die Realität, daß soviel Zeit vergangen war und ich so wenige dieser Realitäten aufzuweisen hatte.
In dieser Nacht nun hatte ich mich, da mein Schlaf doch von diesen Realitäten gestört wurde und ich nicht einmal zum Lesen fähig war, an den Tisch gesetzt, den ich als Schreibtisch benutzte, und mich wieder einmal mit den mageren Anhaltspunkten beschäftigt, die uns zur Verfügung standen. Dabei war ich auf die Aussage der Bianca Calli beim Prozeß von Padua gestoßen und hatte zum hundertsten Male ihre Worte gelesen: ›Als die Liste abgetippt werden sollte, nahm Gianna sie mit in die Schule, wo ihr jemand dabei half.‹ In dieser Nacht jedoch formte sich plötzlich eine Frage in meinem Kopf: Wer konnte in einer Schule helfen? Logische Antwort, du Tölpel: eine Lehrerin. Wer konnte, als Gianna jemanden zum Abtippen suchte, bessere Hilfe leisten? Je mehr ich darüber nachdachte, desto notwendiger erschien mir ein Besuch in der Schule von Dongo.
Undgeduldiges Warten auf den Tag machte die Nacht endlos lang.
Elenora Campisi war als einzige von den Lehrern übriggeblieben, die 1945 hier unterrichtet hatten. Sie war ziemlich alt, aber sehr lebhaft und voll Energie. Ich suchte sie gleich nach dem Unterricht auf, als gerade die letzten Schüler die Klasse verließen. Sie war auch auf dem Empfang gewesen, daher wußte sie, wer ich war.
»Ich möchte mit Ihnen über eine Angelegenheit sprechen, die ich natürlich streng vertraulich behandeln werde. Wie ich hörte, besitzen Sie eine Kopie der Liste von Mussolinis Schatz, die Sie im Jahre 1945, als sie aufgestellt wurde, abgetippt haben. Diese Kopie hätte ich mir gern einmal angesehen. Ich werde selbstverständlich kein Wort über den Inhalt oder Ihre Person verlauten lassen.«
Erschrocken lehnte sie sich auf ihren Stuhl zurück. Ihre Augen waren groß geworden, der Mund stand offen. Sie hob die bebende rechte Hand an den Mund. Ihre Lippen bewegten sich ohne Laut.
Sie wandte den Blick ab, richtete ihn dann wieder auf mich, und ich stellte fest, daß das Erstaunen eiskalter Furcht gewichen war.
Da hatte ich meine Antwort. Der Schuß ins Ungewisse hatte getroffen. Die Lehrerin hatte Gianna geholfen und der Versuchung, heimlich eine Kopie der Abschrift zurückzubehalten, nicht widerstehen können.
»Diese Liste ist für mich sehr wertvoll. Ich bin bereit, einen guten Preis für Ihre Hilfe zu zahlen.«
»Nein, Signor – keine Bezahlung.« Ihre Stimme klang müde. Sie nahm ihre Nickelbrille ab, putzte sie und setzte sie dann vorsichtig wieder auf. »Eigentlich ist es eine Erleichterung, endlich, nach so vielen Jahren, darüber sprechen zu können. So lange hatte ich furchtbare Angst, und auch mit gutem Grund. Jetzt aber bin ich alt, und vielleicht sind auch die, die diese Furcht in mir geweckt haben, ein wenig nachsichtiger geworden – so oder so. Auf jeden Fall habe ich wenig zu verlieren. Aber ich verstehe nicht, was Sie damit zu tun haben. Ich meine, in welchem Zusammenhang steht das mit Ihren Ausgrabungen?«
»Unsere Expedition dient verschiedenen Zwecken.«
»Das ist mir gleichgültig. Ich will es überhaupt nicht wissen, ich will nicht in die Sache verwickelt werden. Ich möchte nur das alles … loswerden. Wenn Sie also wollen, kommen Sie heute abend in meine Wohnung.«
»Wäre es Ihnen sehr unangenehm, wenn ich jetzt gleich mitkäme?« Ich wollte ihr keine Zeit zum Nachdenken lassen, damit sie es sich nicht noch anders überlegte. »Ich wäre, sagen wir, in einer halben Stunde bei Ihnen.«
»Also gut. Ich wohne ganz in der Nähe. In einer halben Stunde paßt es mir ausgezeichnet.«
Was sie besaß, war nicht die ganze Liste, sondern der Kohledurchschlag einer einzigen Seite. Sie erklärte mir, daß die gesamte Abschrift der Liste aus einem Original und fünf Durchschlägen bestand, daß sie aber beim Ordnen der Durchschläge festgestellt habe, daß von der letzten Seite unerklärlicherweise eine überzählige Kopie gemacht worden sei. Die einzelnen Positionen der Liste auf dieser Seite boten mir keinerlei Überraschung: ausländische Valuta, verschiedene Eintragungen von Gold, die lediglich die Form angaben, in der das Gold erschien – Barren, Goldabfälle, Münzen –, einzeln aufgeführte Juwelen. Insgesamt zweiundfünfzig Positionen auf dieser einen Seite.
Wie gesagt, die Positionen selbst boten nichts Neues, neu waren jedoch für mich die Symbole, die auf dem freien Rand neben jeder Position auftauchten. Es gab deren drei: +, C und S.
»Was bedeuten diese Zeichen, Signorina?«
»Das weiß ich auch nicht. Auf der ursprünglichen Liste gab es sie nicht. Erst einige Tage, nachdem wir die erste Liste abgetippt hatten, kam Gianna wieder und brachte die Liste zurück, aber es waren mehrere neue Positionen und diese Zeichen hinzugefügt worden, so daß ich alles noch einmal abtippen mußte.«
»Haben Sie Gianna danach gefragt?«
»Nein, ich habe überhaupt keine Fragen gestellt. Ich bin nicht neugierig. Außerdem beherrschten damals Waffen, Terror und Exekutionen die Piazza, und da ich sogar unter normalen Umständen ängstlich bin … Na ja, Sie können es sich gewiß vorstellen.«
»Gab es über diese Liste Diskussionen, die Sie zufällig mit angehört haben? Zum Beispiel darüber, wohin die einzelnen Positionen geschafft werden sollten?«
»Nein. Alles, was diese Liste betraf, ging ausschließlich Gianna an. Ich tippte sie ab, sie überprüfte die Abschriften sorgfältig, und dann nahm sie die Liste mit – irgendwohin.«
»Darf ich mir diese Seite abschreiben?«
»Nehmen Sie sie mit. Ich will sie loswerden. Ich will überhaupt alles loswerden. Ich habe mich so sehr geschämt, deswegen – die ganzen Jahre lang.«
»Geschämt? Wegen dieser Liste?«
»Na ja, nicht nur wegen der Liste. Ich habe da noch etwas. Ein paar Tage, nachdem ich die zweite Liste getippt hatte, bekam ich Besuch von einem Herrn, der mir für meine Mitarbeit dankte und sagte, das Zentralkomitee der Widerstandsbewegung wäre mir besonders verbunden, wenn ich alles vergäße, was ich geschrieben hätte. Als Zeichen der Dankbarkeit übergab er mir ein in Zeitungspapier gewickeltes Päckchen, das ich erst öffnen sollte, wenn er wieder gegangen war. Ich bat ihn, mir nichts zu geben, ich sagte, ich wolle keinen Lohn für das, was ich getan hätte. Aber er antwortete, er müsse mir dieses Päckchen geben, weil ich dadurch so in die Angelegenheit hineingezogen würde, daß sie meiner Vergeßlichkeit im Hinblick auf die Liste sicher wären. Ich war zu verängstigt, das Päckchen noch am selben Abend zu öffnen. Eigentlich fürchtete ich mich viel mehr vor diesem Mann als vor dem Paket.«
»Wie sah er aus?«
»Er war sehr groß, sehr kantig, ein Mann mit ausgezeichneten Manieren und eigentlich gutaussehend. Ich war damals noch jung und merkte mir derartige Dinge an Männern. Aber er hatte etwas an sich, das … das … Ja, wie könnte ich es beschreiben? Etwas von einem Mystiker. Er wirkte so unsagbar beherrscht. Er beherrschte nicht nur sich selber, sondern auch mich. Er sah mir direkt in die Augen, sprach mir direkt in die Augen. Und ich reagierte, als wäre ich hypnotisiert.«
»Vielleicht wurden Sie wirklich hypnotisiert.«
»Ich weiß nicht. Ich bin noch nie hypnotisiert worden. Aber ich habe ›Trilby‹ gelesen und erkenne die darin beschriebenen Charakteristika.«
»Vielleicht hat man Ihnen in der Hypnose befohlen, das Päckchen erst am folgenden Morgen zu öffnen. Und den Inhalt der Listen nicht zu verraten, weil sich die Gegenstände, die dieses Päckchen enthielt, in Ihrem Besitz befanden.«
»Halten Sie das für möglich? Daß ich hypnotisiert wurde und nichts davon weiß?«
»Behaupten kann ich es nicht. Ich kann nur raten.«
»Na ja, möglich wäre es schon … Es ist mir einfach nicht in den Sinn gekommen.«
»Haben Sie das, was das Päckchen enthielt, immer noch?«
»Ich habe das ganze Päckchen. Natürlich habe ich es geöffnet, aber dann habe ich es wieder eingepackt und seitdem versteckt gehalten.«
Sie verschwand im Schlafzimmer. Ich fragte mich, ob dies genauso enden würde wie bei der alten Dame, die Mussolinis Stahlhelm aus ihrem Schrank geholt hatte. Die Lehrerin kam wieder herein und brachte ein in Zeitungspapier gewickeltes Päckchen mit. Als ich den Bindfaden löste, mit dem es verknotet war, achtete ich auf die Daten der Zeitungen. Ich fand eine Pappschachtel und darin wieder zwei kleine, weiße Säckchen, die mit Kordeln zugeschnürt waren, an deren Ende kleine Schilder hingen. Auf einem der Schilder las ich: ›L. Rosetta, Via Massi, Perugia‹, auf dem anderen: ›P. Umbra, 17 Via Frate, Assisi‹.
Jedes Säckchen war angefüllt mit kleinen Goldbarren.
»Ich möchte, daß Sie das mitnehmen. Ich will keine Bezahlung dafür. Aber Sie müssen mir Ihr Ehrenwort geben, niemals zu verraten, woher Sie es haben.«
Ich gab ihr mein Ehrenwort. Ich nahm die Säckchen und steckte sie in meine Jackentaschen; sie waren so schwer, daß sie die Nähte zu sprengen drohten.
»Ich bin Ihnen sehr verbunden, Signorina.«
»Nein, nein, ich danke Ihnen. Sie glauben gar nicht, was für eine Last Sie mir von der Seele genommen haben!«
Etwa zehn Kilo mochten es sein. Sie brachte mich an die Tür.
»Dieser Mann, Ihr ›Magier‹, hat er Ihnen seinen Namen genannt?«
»Ja. Er hat sich vorgestellt. Luigi Hoffmann. Ich habe ihn nie wiedergesehen.«
Es war sehr einfach, die Goldbeutel zu identifizieren. Bei unseren Nachforschungen im Jahre 1945 hatten wir die Aussage des ehemaligen Kassenverwalters des faschistischen Polizeichefs erhalten, der berichtete, daß die Regierung Mussolini den Geheimfonds des Polizeichefs dazu benutzt hatte, bei verschiedenen Juweliergeschäften in Mittelitalien Gold aufzukaufen. Ein Teil dieses Goldes, so sagte er, war zu Barren umgeschmolzen, der Rest in kleine Säckchen mit Anhängeschildern gefüllt worden, auf denen die Menge sowie Namen und Adresse des Juweliers verzeichnet wurde, von dem das Gold gekauft worden war. Von daher also stammten diese Beutel.
Den ganzen Abend lang dachte ich über die Goldsäckchen nach, die ich fürs erste hinter der breiten Schrankeinfassung in meinem Schlafzimmer verborgen hatte. Außerdem dachte ich natürlich über die leere Kiste am Ufer des Mera-Flusses nach. ›Absolute Offenheit‹ – mit diesem Ausdruck war ich von meinem Jurastudium her vertraut. Aber was war mit ›Gegenseitigkeit‹? Ich muß gestehen, daß ich Bis und Ted trotz ihrer Beteuerungen seit dem Auffinden der leeren Kiste mißtraute. Es gibt ja auch Kellner, die sich bereit erklären, Trinkgelder in eine gemeinsame Kasse zu tun und trotzdem soviel wie nur möglich in ihre eigene Tasche stecken. Diese beiden Beutel waren vielleicht das einzige, was wir von dem ganzen Schatz wiederfanden – es sei denn, Bis und Ted hatten in der Holzkiste etwas entdeckt, was sie uns anderen verschwiegen.
Am folgenden Tag rief ich Bis, Ted und Giorgio in der Bibliothek zusammen und zeigte ihnen das Blatt der Liste. Wir diskutierten lange über die drei Symbole. Giorgio meinte, das C könne Comunisti bedeuten, und wir hielten das für durchaus logisch. Für das S fanden wir jedoch keine akzeptable Erklärung, und das + war uns einfach rätselhaft.
An diesem Abend holte ich einen der Beutel hinter der Leiste hervor und versteckte ihn unten in einem hochlehnigen Polstersessel. Ich hatte durch eigene bittere Erfahrung gelernt, nie alle Eier in einem Korb aufzubewahren.