16
Signora Disios Tagebücher zu finden, war nicht leicht. Das Haus stand schon ziemlich lange leer, und Julietta hatte vergessen, wo die Sachen verstaut worden waren. Endlich entdeckten wir auf dem Dachboden, ganz hinten, hinter nicht benötigten Küchenutensilien, eine Pappschachtel, die bis an den Rand mit dicken, linierten Notizbüchern gefüllt war. Es dauerte eine Weile, bis wir das richtige Buch gefunden hatten, denn die Daten waren nicht immer ausdrücklich vermerkt, und Signora Disios Handschrift war winzig und unregelmäßig und für mich nur mühsam zu lesen.
Aus diesem Grund war es dann auch Julietta, die das Notizbuch entdeckte, nach welchem wir suchten. Wir trugen unsere Beute ins Wohnzimmer hinunter. Es war ein grauer, windiger Tag gewesen, und jetzt sprenkelten Regenböen vom See her die Fenster mit Nässe. Dicke, schwarze Gewitterwolken waren am nördlichen Himmel aufgezogen, und das Wasser schlug schäumend gegen die Seeufer. Der elektrische Strom und alle anderen Zuleitungen im Haus waren abgesperrt worden. Ich legte in dem großen Feldsteinkamin, der fast eine ganze Wohnzimmerwand einnahm, ein Feuer, und Julietta fand dicke, gedrungene Kerzen, die sie auf Tische neben dem Kamin verteilte. Außerdem entdeckte sie einen Vorrat erstklassigen Bardolino, mit dem wir der dumpfigen Feuchtigkeit im Haus entgegenwirken konnten.
Wir setzten uns auf den Teppich vor den Kamin und stellten die Weingläser zwischen uns. Der prasselnde Regen schlug mit metallischem Geräusch an die Scheiben. Julietta arbeitete sich langsam durch die Seiten. Ich versuchte, ins Feuer zu blicken, das mit den abgelagerten Birkenholzscheiten bald schon zu kräftigem Leben erwachte, aber ich mußte immer wieder Julietta ansehen. Zweimal füllte ich unsere Gläser nach.
»Ich glaube, hier ist es«, sagte sie, und las noch ein paar Zeilen weiter. »Ja … ja, das ist es.« Sie ließ ihre Augen noch ein Stück weiterwandern und kehrte dann an den Anfang zurück.
»Heute rief Arnoldo von Como aus an. Wir wurden getrennt, aber er rief noch einmal an. Er wartete auf jemanden, aber er sagte, er wisse nicht, auf wen. Das gefiel mir nicht. Oh, warum kann dies denn nicht endlich aufhören? Warum muß er immer noch weitermachen? Es ist jetzt genauso wie in all den Jahren der Widerstandsbewegung – voller Geheimnisse und Gefahren. Aber muß es denn jetzt, wo der Krieg zu Ende ist, immer noch so weitergehen? Ich kann mir das, was er heute abend sagte, nicht recht erklären. Ich fragte ihn, wo er sei, und er sagte, in einer Bar neben Leonardos Restaurant, weil er bei Leonardo jemanden treffen solle, jemanden, der wertvolle Informationen habe, die sie brauchten. Ich weiß nicht, was das für Informationen sind – Arnoldo sagt mir nie etwas von diesen Dingen, nicht, weil er mir nicht vertraut, sondern weil er fürchtet, daß ich hineingezogen werden könnte. Aber ich fragte ihn, warum er in dieser Bar sei, wenn er sich doch im Restaurant mit jemandem treffen sollte. ›Weil ich allein bin‹, sagte er. ›Paul hütet die Villa. Ich möchte lieber den Eingang von Leonardo beobachten und erst einmal sehen, wer mein Informant ist, bevor er mich sieht. Während ich mit dir spreche, behalte ich immer die Tür im Auge.‹ Mir wäre wohler gewesen, wenn Paul bei ihm gewesen wäre. Auf einmal sagte Arnoldo: ›Ah, eben geht ein Freund von mir zu Leonardo hinein. Den hatte ich nicht erwartet. Das ist gut. Da habe ich einen Verbündeten, wenn's hart auf hart geht. Ich muß ihn abfangen, bevor er drin ist.‹ Er sagte, er müsse auflegen. Ich bat ihn, später noch einmal anzurufen. Er sagte, er würde es ganz bestimmt tun, wenn er könne, und legte auf. Ich bin beunruhigt. Ich habe so ein Gefühl, das mich nervös macht. Ich weiß nicht, warum ich dieses Gefühl habe, aber ich bin sehr erregt. Vielleicht, weil ein Gewitter über den See heranzieht. Mit Blitzen. Ich habe immer schreckliche Angst, wenn Arnoldo nicht hier ist, und es kommt ein Gewitter. Der See verstärkt das Krachen des Donners noch, und die Blitze zucken um das Haus wie brennende Peitschen. Es wird eine schlimme Nacht für mich und die kleine Julietta werden. Das weiß ich genau.«
Julietta schloß das Notizbuch und griff nach ihrem Glas. Das Feuer warf orangefarbenes, die Kerzen gelbliches Licht auf ihre Gestalt, und ihr Gesicht reflektierte das Rubinrot des Weines. Sie fragte: »Glauben Sie, daß es für Sie von einigem Nutzen gewesen wäre, wenn meine Mutter bei Ihrem Prozeß diese Aussage gemacht hätte?«
»Darüber dachte ich gerade nach. Ich weiß es nicht. Die Beweise gegen mich waren so stark. Was meinen Sie – warum hat sie nicht ausgesagt?«
»Ich glaube, wegen des Zustandes, in dem sie sich nach Vaters Tod befand. Ihr Verstand war … nun ja, ein wenig verwirrt. Sie konnte sich immer weniger an die Ereignisse vor seinem Tod erinnern. Es wurde so schlimm, daß sie mich sogar nach seinem Geburts- und ihrem Hochzeitstag fragen mußte. Sie sehen also … Wie lange dauerte es bis zu Ihrem Prozeß? Drei Jahre?«
»Aber warum nicht sofort nach meiner Verhaftung?«
»Da war es noch schlimmer. Sechs Monate lang war sie in ärztlicher Behandlung und konnte weder das Bett verlassen noch Besuch empfangen.« Ein Blitz durchschnitt den schwarzen Himmel wie ein weißes Messer, und der erste Donner grollte zu uns herein. Julietta zuckte zusammen und hielt ihr Glas vor die Brust. »Mein Gott, wie ich diese Gewitter hier hasse! Das ist auch ein Grund, warum ich nie mehr hergekommen bin.«
»Sie hassen sie, und Ihre Mutter hat sie auch gehaßt, nicht wahr?«
»Ja. Bei Gewittern schlief ich immer bei meiner Mutter, und wir trösteten uns gegenseitig.« Wieder schlugen Blitz und Donner zu. »Wir sollten uns lieber auf den Weg zur Fähre machen. Es ist zwar noch ein bißchen früh, aber es ist die letzte, deswegen dürfen wir sie nicht verpassen. Draußen, auf der Küchenveranda, habe ich ein paar alte Regensachen gesehen. Hier, nehmen Sie das Notizbuch. Können Sie aus dem, was mein Vater am Telefon sagte, etwas machen? Welcher Freund könnte das gewesen sein?«
»Darüber muß ich erst nachdenken. Wir müssen das Ganze in Ruhe noch einmal lesen und es uns gründlich durch den Kopf gehen lassen.«
Draußen war es weitaus schlimmer, als ich gedacht hatte. Der Wind tobte, peitschte den Regen quer vor sich her, so daß wir überhaupt nichts sehen konnten.
Julietta klammerte sich fest an meinen Arm, während wir uns zum Anlegeplatz durchkämpften. Jedesmal wenn es blitzte, krampften sich ihre Finger in mein Fleisch, und sie stieß ein angstvolles Stöhnen aus. Ihr Körper wurde von ständigem Zittern geschüttelt.
Als wir die Anlegestelle der Fähre erreichten, waren wir bis auf die Haut durchnäßt; der Regen war sogar durch Wettermäntel und Stiefel gedrungen. Kein Mensch war zu sehen. An der Tür des Fahrkartenhäuschens hing ein Zettel: ›Fährdienst wegen schlechten Wetters eingestellt.‹ Das aufgewühlte Wasser überspülte die Bohlen der Holzrampe.
Wir machten kehrt. Der Regen fiel jetzt so dicht und fast horizontal, daß es mir war, als schlucke ich beim Schwimmen in schwerer See Wasser. Der Regen füllte mir Nase und Mund, und während ich um Atem rang, merkte ich, daß Julietta dem Ansturm nicht mehr gewachsen war. Ich nahm den Wetterhut ab, den ich trug, hielt ihn ihr vors Gesicht und schob sie hinter mich. Sie hielt sich krampfhaft an mir fest; ihr Kopf war im Windschatten meines Rückens einigermaßen geschützt. Ich drückte das Kinn fest an die Brust, damit ich atmen konnte, konnte dadurch nun aber fast nichts mehr sehen, so daß wir uns nur mühsam und stolpernd gegen den pfeifenden Wind voranarbeiten konnten.
Dankbar stellte ich fest, daß im Kamin noch eine heiße Schicht Asche glühte. Julietta lebte rasch wieder auf. Mit einer dicken Kerze bewaffnet, stöberte sie herum und fand ein paar Decken. So konnten wir unsere nassen Kleidungsstücke ans Feuer hängen, das wir mit den alten Birkenscheiten fütterten. Innerlich erwärmten wir uns mit Wein. Der Sturm ließ zwar immer noch nicht nach, aber die Blitze kamen nicht mehr so häufig und waren auch weiter entfernt.
»Haben Sie Hunger?« fragte Julietta. »Ich bin regelrecht ausgehungert.«
»Ich auch. Aber hier werden wir kaum etwas dagegen unternehmen können.«
»Wir wollen mal nachsehen.«
Ich folgte ihr in die Küche. Beide hielten wir mit der einen Hand unsere Decken vor der Brust zusammen und trugen mit der anderen eine Kerze vor uns her. Mir war fast wie bei der Aufnahme in einen Geheimbund. Julietta fand einige Pakete Spaghetti, mehrere Dosen Tomaten und Tomatenmark, eine ungeöffnete Büchse Olivenöl, Anchovis-Konserven, ein großes Glas Pimientos, ein paar Büchsen Thunfisch, reichliche Mengen getrockneter Kräuter und die verschiedensten anderen Zutaten.
»Ich wünschte, unsere Kleider wären trocken«, sagte sie. »In diesem Aufzug muß man Indianer sein, um kochen zu können.«
»Ich glaube, ich habe in einer Kiste auf dem Boden Kleidungsstücke gesehen. Augenblick, ich werde sie holen.«
Die Kiste enthielt Männerkleidung, die, wie Julietta feststellte, ihrem Onkel Pietro gehört hatte. Die Sachen waren mir eine Nummer zu groß, während Julietta natürlich darin versank, aber mit vielem Aufrollen und Einstopfen konnten wir sie einigermaßen auf unsere Größen reduzieren.
Ein leerer Blumenbottich vor der Küchentür war bis an den Rand mit Regenwasser gefüllt. Ich goß es in zwei Töpfe, die ich an Haken über das Feuer hängte. Sobald das Wasser zu sprudeln begann, kochte Julietta die Spaghetti darin und kreierte aus dem Durcheinander von Ingredienzien, die sie gefunden hatte, eine köstliche Sauce.
Wir aßen gierig, tranken viel Wein dazu und sprachen wenig. Der nicht nachlassende Lärm des Gewitters rings um das Haus war deprimierend.
»Würden Sie nach diesem Essen glauben, daß ich zu den Italienern gehöre, die keine Spaghetti mögen?«
Sie mußte über sich selber lachen, als sie mir ihren leeren Teller vorwies.
»Sie haben diese primitiven Spaghetti auf das Niveau eines Chateaubriand erhoben.«
»Und würden Sie glauben, daß ich eine sehr schlechte Köchin bin?«
»Ich trinke auf die Kunst der schlechten Köchin.« Wir hoben das Glas.
»Haben Sie noch einmal über das Tagebuch meiner Mutter nachgedacht?«
»Ja. Wer könnte dieser ›Freund‹ nur gewesen sein, der da ins Restaurant kam? Darüber habe ich nachgedacht. Freund. Was für ein Freund? Ihren Onkel Pietro hätte er wohl kaum als Freund bezeichnet. Und auch niemanden, den Ihre Mutter kannte. Jeden, den sie ebenfalls kannte, hätte er namentlich genannt. Also war es ein Freund, den Ihre Mutter nicht kannte. Es muß ein Mitglied der Partisanengruppe gewesen sein, mit der Arnoldo zusammenarbeitete. Und dann besteht natürlich der starke Verdacht, daß dieser angebliche Freund auch derjenige war, der dieses Rendezvous arrangiert hatte, um ihn aus dem Weg zu räumen.«
»Aber warum? Mein Vater war ein loyaler Partisan gewesen, der Organisation immer treu ergeben …«
»Jawohl, gewesen. Hier aber handelte es sich um kommunistische Partisanen, denen Arnoldo nicht helfen wollte, als sie versuchten, den Schatz für die kommunistische Partei sicherzustellen. Im Gegenteil, als Mitglied unserer alliierten Kommission, die den Schatz für ihre eigenen Zwecke finden wollte, arbeitete er sogar gegen sie. Wir wissen nicht, was in jener Nacht wirklich geschah. Vielleicht versuchte der unbekannte Freund ein Geschäft mit ihm zu machen. Er wußte zweifellos von den Sachen, die wir unter dem Orgelpodium unserer Villa versteckt hatten, und war darauf aus, sie in die Hand zu bekommen. Vermutlich hatte dieser Mann auch, ehe er sich mit Ihrem Vater traf, die ausgeklügelten Pläne in Szene gesetzt, die mich kompromittieren sollten. Ich nehme an, er hatte dabei Komplizen. Doch ob der Mord an Arnoldo von irgendwelchen Bedingungen abhing, auf die er nicht eingehen wollte … Wer weiß? Ich meine nur, es wird langsam Zeit, diejenigen seiner ehemaligen Partisanenfreunde ausfindig zu machen, die möglicherweise noch in der Gegend von Dongo sind. Ein Freund. Wir müssen unbedingt feststellen, wer seine Freunde waren. Wer waren die Männer, denen er das größte Vertrauen schenkte?«
Julietta brachte mich in einem Schlafzimmer unter, das auf den See hinausging. Bettlaken fanden wir nicht, aber es gab genügend Wolldecken, so daß wir eine davon über die Matratze des großen, vierpfostigen Messingbettes breiten konnten. Zuerst machten wir mein Bett, dann richteten wir für Julietta das Bett in einem Zimmer am anderen Ende des Korridors her. Es war ein kleines Zimmer mit nur einem Fenster, dessen Läden Julietta fest verschloß.
Ich war sehr müde, sehr satt und leicht betrunken vom Wein.
Ich schlief in meinen geliehenen Kleidern fast unmittelbar ein. Mein wüster Traum endete abrupt mit einem Donnerschlag, der buchstäblich das ganze Haus erschütterte. Entsetzt fuhr ich hoch, im Schlaf hatte ich das Gefühl gehabt, eine Bombe explodiere im Haus. Abermals ließ der Donner die Wände beben. Das Gewitter war zurückgekommen und tobte jetzt noch fürchterlicher als zuvor. Noch nie hatte ich Blitze in so schneller Aufeinanderfolge zucken sehen, noch nie jeden neuen Donner schon aufbrüllen hören, ehe der vorhergehende Schlag verklang. Das Haus war wie von Lichtbogenflammen erleuchtet. Meine Tür flog auf, und Julietta stürzte herein, die Wolldecke eng um sich gezogen. Sie war hysterisch. »Bitte, nur bis es vorüber ist!« Ganz in der Nähe spaltete ein greller Pfeil den Himmel und züngelte triumphbrüllend nach einem nahen Ziel. Julietta warf sich über das Fußende des Bettes und barg ihr Gesicht in der rauhen Decke. Sie stieß kleine, wimmernde Angstlaute aus. Ich legte ihr tröstend den Arm über den Rücken.
»Es tut mir so leid, daß ich Sie störe«, sagte sie. »Ich habe so gräßliche Angst vor dem Blitz. Das hier war Mutters Zimmer. Jedesmal wenn wir ein Gewitter hatten, bin ich hierhergerannt.«
»Dann bin ich also ein Mutterersatz, wie? Könnte ich nicht wenigstens ein Vaterersatz sein?« Jetzt schlug der Blitz ganz in der Nähe ein, das scharfe Krachen des gleichzeitigen Donners wurde vom unheimlichen Pfeifen des Einschlags selbst übertönt. Julietta schrie auf und schmiegte sich zitternd an mich. Durch die dicken Falten der Decke spürte ich den weichen Druck ihrer Brust. Sie hatte ihr Gesicht an meiner Kehle geborgen wie ein verängstigter Vogel Strauß. Ihr Körper wärmte und erregte mich, aber es gab weder Panik noch Schweißausbruch. Es gab nichts weiter als ein hübsches, verschrecktes Mädchen, das bei mir Schutz suchte. Und weiter würde es auch nichts geben. Keine Herausforderung. Kein Grund zur Nervosität. Ich hielt sie fest in dem Bewußtsein, daß dieses Festhalten keinerlei Konsequenzen haben würde.
Das Donnergrollen ließ nicht nach, aber ich spürte, wie sich ihre Spannung löste.
Und so schliefen wir ein – jeder für sich wie eine Mumie in Decken gewickelt, ihre Stirn an meiner Brust, mein Gesicht in ihrem Haar.
Als wir am nächsten Morgen erwachten, ließ uns der strahlende Tag das nächtliche Gewitter vergessen. Unsere Kleider waren getrocknet, die Fähre verkehrte wieder, und gegen Mittag waren wir unterwegs nach Carpignano.