19
Als wir beim Boot ankamen, war es bereits später Nachmittag. Wir hatten kurz vor Tremezzo in Cadenabbia haltgemacht und uns ein kleines Ruderboot mit Außenbordmotor gemietet. Auf diese Weise würde unsere Ankunft weniger Aufsehen erregen, und der Lastwagen der Spedizione Internazionale brauchte nicht an der Pier zu parken, wo er sofort die Aufmerksamkeit der Leute auf sich ziehen mußte.
Bis und Ted saßen auf dem Achterdeck und angelten. Nirgends war eine Spur von der Unterwasserausrüstung zu sehen.
»Zu viele Boote sind unterwegs«, erklärte Ted. »Und Wassersportler sind nun mal neugierig. Seit einiger Zeit kurvt hier eine Wasserski-Sexbiene herum und wackelt für uns mit ihrem Hintern, und … Da ist sie schon wieder! Sieh dir die herrlichen Titten an …«
Ein Motorboot mit einer Bikini-Blondine im Schlepp kreuzte vor unserem Bug vorbei. Zwei Boote folgten ihr, vermutlich mit Feldstechern.
»So geht das hier von morgens bis abends«, sagte Bis. »Fischerboote, Wasserskier, Sportboote … Deswegen haben wir uns entschlossen, ausschließlich bei Nacht zu arbeiten.«
»Wir haben Unterwasserscheinwerfer. Damit müßte es möglich sein«, ergänzte Ted.
Wir begannen, sobald es vollkommen dunkel war. Ted, unser Experte, hatte ein Koordinatennetz aufgezeichnet, mit dessen Hilfe wir systematisch die ganze Gegend bearbeiten konnten, ohne Gefahr zu laufen, an einer Stelle zweimal zu suchen. Wir hatten zwei Taucheranzüge und zwei Sauerstoffflaschen, so daß die ganze Nacht hindurch immer zwei unten sein und zwei auf dem Deck ausruhen konnten. Denn ich war, obwohl Nichtschwimmer, fest entschlossen, auch mitzumachen, und hatte Ted überredet, es wenigstens mal mit mir zu versuchen. Es würde ja immer jemand bei mir sein. An Deck unterwies er mich im Umgang mit der Sauerstoffflasche und im Atmen. Voll Skepsis – die auch eine Leine um meine Taille nicht beseitigen konnte – schwamm er danach mit mir hinunter.
Es war sehr leicht, sehr natürlich und wunderschön. Der bleibeschwerte Taucheranzug zog mich hinab, das Atemgerät machte mir keine Schwierigkeiten und das Herumschwimmen auf dem Grund, während die Fische durch den Lichtstrahl glitten, war ein Kinderspiel. Nach der zweiten Tour war ich überzeugt, nun auch ohne Tauchermaske und Flossen schwimmen zu können.
Als es dämmerte, hatten wir schon ein beträchtliches Gebiet abgesucht – ein Gebiet, das überaus sorgfältig inspiziert werden mußte, weil die Säcke nach so vielen Jahren zweifellos tief im Schlamm lagen. Von Kisnats versenktem Schatz aber hatten wir noch keine Spur gefunden.
Um unsere Position zu markieren, verankerten wir eine kleine Boje und fuhren dann ein Stück weiter die Küste hinauf, damit wir durch ständigen Aufenthalt an ein und derselben Stelle nicht etwa Argwohn erregten. Wir ankerten, holten, weil es in der Kajüte zu warm zum Schlafen war, die Matratzen herauf, breiteten sie an Deck und in der Plicht auf dem Boden aus und legten uns hin. Julietta und ich schliefen auf getrennten Matratzen, aber dicht nebeneinander in der Plicht. Weder die Sonne noch das Geräusch der Motorboote konnten uns vor Mittag wecken.
Am Nachmittag, als Ted und ich im Heck saßen und angelten, während Bis las und Julietta abwechselnd schwamm und sich sonnte, fragte ich Ted, was er in London über Rambellini in Erfahrung gebracht hatte.
»Nicht viel – leider. Der Richter hat sich mit einem Sicherheitskordon umgeben, der sogar noch die Central Intelligence übertrifft. Kleinigkeiten, gewiß … Aber nichts von dem, was wir wirklich wissen wollen. Große Wohnung in der Nähe von Connaught, sehr attraktive Geliebte, junge Schwedin, um zwei Köpfe größer als Seine Ehren, Jaguar mit Chauffeur, viele Partys, häufiger Besuch von Pferderennen, besitzt einen Rennstall, nicht ganz allein, es ist ein Syndikat, aber er ist das Aushängeschild, denn Syndikatsmitglieder sind scheue Burschen, die absolut anonym bleiben wollen. Im letzten Jahr war das Lord Derby Handicap in Epsom der große Hit des Richters, mit einem 19:1-Außenseiter, Leading Light. In letzter Minute wurden hohe Beträge gesetzt, von einer Höhe, die den Totalisatoren fast den Garaus machten. Hat einen ziemlichen Batzen Geld dabei gewonnen. Enorm.«
»Es wäre vielleicht interessant, zu erfahren, wer eigentlich zu diesem Syndikat gehört.«
»Genau. Das war auch meine Idee. Ich hatte einen erstklassigen Mann darauf angesetzt, einen gewieften Detektiv, erfahren, hart, Nase wie ein verhungerter Bluthund. Wir fanden ihn eines Morgens hinter einem chinesischen Restaurant in Soho. Zu Brei geschlagen.«
»Tot?«
»Nein, aber beinahe.«
»Was hat er erzählt?«
»Das ist ja das Dumme: gar nichts. Er ist dem Richter und seinem blonden Smörgåsbord auf eine Party gefolgt, die im Oberstock des Six-Friends-Restaurants in Soho stattfand, wurde aber nach seinem Eintreffen vor dem Restaurant außer Aktion gesetzt, ehe er etwas unternehmen konnte.«
»Was sagten die Leute aus dem Restaurant dazu, daß er so zerschlagen dort gefunden wurde?«
»Hast du schon mal versucht, chinesische Köche auszufragen? Von denen kriegt man doch nicht mal das Rezept zum Reiskochen. Höchstens verständnisloses Gestarre, Sturzbäche von Chinesisch und ewiges Lächeln, immer nur Lächeln … Ich sage dir, sogar der dritte Grad wäre auf die Chinesen verschwendet.«
»Ich nehme also an, der Richter weiß jetzt, daß man sich für ihn interessiert?«
»Er weiß es, macht sich aber anscheinend keine Gedanken deswegen.«
Später übernahmen Julietta und Bis die Angelruten, die uns bis dahin nichts eingebracht hatten als ein paar unterernährte Karpfen, und hatten innerhalb einer Stunde zwei fette Hechte, mehrere gelbe Barsche, einen Aal von der Größe des Ungeheuers von Loch Ness, ein halbes Dutzend Forellen, zwei riesige Karpfen und zwei agone gefangen, das ist eine Art Heringe und die Delikatesse des Comer Sees.
Bis, als chef accompli, machte sich daran, eine recht originelle Bouillabaisse zusammenzubrauen, und ich assistierte ihm dabei.
»Bis, erzähl mir ein bißchen vom Kloster.«
»Von Santo Zacharia? Da gibt es nicht viel zu erzählen. Du kennst doch die italienischen Klöster: kaltes Gemäuer und steinharte Betten.«
»Aber was ist mit Pater Laekla? Wenn ich dir nun sage, daß er nicht das Opfer eines Verkehrsunfalls war, sondern absichtlich überfahren wurde?«
»Ermordet, meinst du? Das ist doch lächerlich!«
»Und wenn es nun jemand gesehen hat?« Ich erzählte ihm von der alten Frau.
»Das verstehe ich nicht. Warum hast du uns nichts davon gesagt? Wieso hast du uns das verschwiegen?«
»Na ja, wir waren noch ganz durcheinander von unserem eigenen Unfall, von dem Sturz in den Graben. Und dann seid ihr am nächsten Morgen früh abgefahren. Außerdem erschien es mir nicht so wichtig, ich hielt es einfach für Klatsch. Ob nun ein Priester zufällig oder absichtlich überfahren wird – was hat das mit uns zu tun?«
Ich hatte keineswegs die Absicht, ihm von dem Briefchen zu erzählen, das ich erhalten hatte. In Anbetracht der Sorgen, die Bis sich um meine Sicherheit machte, war es durchaus möglich, daß er auf der Stelle nach Stockholm abreiste, wenn er das hörte.
»Selbstverständlich kann das mit uns etwas zu tun haben«, sagte Bis sehr gereizt. »Wer weiß? Wenn viele Töpfe auf demselben Feuer kochen, tragen alle dazu bei, daß es dampft. Ein schwedisches Sprichwort.«
»Weißt du, warum ich dich nach dem Kloster frage … Wieso sollten zwei Männer auf der Straße einen Mönch umbringen? Was hat das zu bedeuten, Bis?«
»Es hat zu bedeuten, daß der ermordete Priester – wie sagtest du, war sein Name? Laekla? –, daß dieser Priester gegen die Ordensregeln gesündigt hat, die absolute Zurückhaltung von der Außenwelt vorschreiben.«
»Also, hör mal, Bis, was für ein horrender theologischer Unsinn! ›Gesündigt‹ – großer Gott!«
»Na schön. Es hat zu bedeuten, daß der Tote vermutlich versucht hat, sich ein paar weltliche Güter unter den Nagel zu reißen. Klingt das vielleicht besser in deinen Ohren?«
»Klassisch! Aber was ist mit diesem Laekla? Er hat mit Pater Piccionastro zusammengearbeitet, nicht wahr? Und was ist mit diesem frömmelnden falschen Fuffziger?«
»Ich glaube nicht einmal, daß er das ist … Ein falscher Fuffziger, meine ich. Er ist einer von den Kirchenmännern, die sich ewig aufdrängen und die es überall gibt. Die sich aufblähen und breitmachen und den Ausgleich bilden für alle ihre demütigen Brüder, die ihre Augen ausschließlich gen Himmel richten. Immerhin ist die katholische Kirche eine der streitbarsten Institutionen der Welt und braucht ihre eigene kanonische Mafia, um es zu bleiben.«
»Trotzdem – ich würde gern mit Piccionastro über Laekla sprechen.«
»Na schön. Gleich wenn wir wieder zu Hause sind.«
»Ich will ihm nur ein paar Fragen stellen.«
»Gewiß. Wir werden ihn zum Essen einladen.«
Der würzige Duft der Bouillabaisse erfüllte die Luft.
»Gelobt seien die Götterboten, die meine Nüstern erfreuen, voll List meinen Magen aufreizen und meinen Mund mit einem Strom von Speichel füllen!« Ted hatte lesend auf dem Bugspriet gesessen, sich jetzt aber für diese Deklamation erhoben. Er balancierte aufrecht, die Arme weit ausgestreckt, auf den Wanten.
»Ist dies eine Verheißung kommender Freuden? Dann schreibt mich in eure Schriftrollen ein, denn ich bin eurem Zauber verfallen und will euch getreulich folgen, ihr süßen Boten, wohin ihr mich auch führen mögt, in den höchsten Himmel oder in die finsterste Tiefe …«
Bis packte einen Karpfen beim Schwanz, beugte sich aus der Kombüse, schleuderte den Fisch auf die deklamierende Galionsfigur und traf Ted mit klatschendem Geräusch am Hals, so daß er rücklings ins Wasser fiel und sofort unterging, während der Karpfen und das Buch als Bojen an der Oberfläche schwammen, die Stelle markierend, an der er versunken war.
Julietta wollte mir etwas zeigen. Sie hatte während des Nachmittags auf einem Block herumgekritzelt und versucht, das Rätsel der Zeichen C, S und + zu lösen. Auf ihren Zettel hatte sie neben das C ›Comunisti‹ geschrieben und neben das S, mit einem Fragezeichen versehen, ›Stranieri‹.
»Ausländer«, sagte sie. »Warum eigentlich nicht? Luigi Hoffmann war doch auch einer. Vielleicht gab es sogar noch mehr.«
»Ja, ja, das ist nicht ausgeschlossen!« Ich fragte Bis und Ted.
Sie stimmten mir zu, daß es möglich sei, zeigten aber weit weniger Enthusiasmus als ich.
»Was ist denn los mit euch? Wenn wir jetzt noch das Plus-Zeichen entziffern können, dann kennen wir die genaue Aufteilung der Liste.«
»Und dann?« fragte Bis. »Gut, wir wissen dann, daß Kommunisten, Ausländer und Plus-Leute den Schatz besitzen. Aber welche Kommunisten? Welche Ausländer?«
»Ich weiß es nicht, aber ich habe das Gefühl, daß wir mehr wissen werden, wenn wir das Plus entziffert haben. Und wenn Giorgio in Lugano mit der Banka Nationale Glück hat …«
»Damit würde ich nicht zu fest rechnen«, warnte Ted. »Es gibt nur drei Dinge im Leben, mit denen man ganz sicher rechnen kann: Steuern, Tod und die Unverletzlichkeit des Schweizer Bankgeheimnisses.«
»Müßte er nicht eigentlich schon zurück sein?« erkundigte sich Bis. »Wollte er nicht direkt hierherkommen?«
»Er wollte zuerst nachsehen, ob wir in der Villa sind, aber er kann frühestens morgen kommen.«
»Wie will er die Sache in Lugano denn anpacken? Hat er da Verbindungen?«
»Ach, weißt du, du kennst doch Giorgio. Der schließt bei einer Busfahrt von zehn Minuten lebenslängliche Freundschaften.«
»Aber ich dachte doch, daß er dort Verbin…« begann Julietta, bemerkte aber noch rechtzeitig meinen warnenden Blick. Das Versprechen, Giorgios Barkeeper zu decken, galt auch gegenüber Bis und Ted.
»Was wollten Sie sagen, Julietta?«
»Ach, nichts. Ich dachte nur an Carpignano, an Giorgios Verbindungen dort. Von Lugano weiß ich nichts.«
Julietta fuhr mit dem Beiboot nach Tremezzo, um einige wichtige Zutaten für die Bouillabaisse einzukaufen. Ich hatte mitfahren wollen, aber sie hatte mein Angebot abgelehnt, weil mir der Knöchel immer noch Schwierigkeiten machte und ich außerdem in meiner Rolle als Küchenassistent gebraucht wurde. Als ich ihr nachsah, wie sie sich immer weiter vom Schiff auf die Küste zu entfernte, überfiel mich eine ganz und gar unlogische Panik. Ich hatte Angst, sie werde nie wieder zurückkommen. Jetzt erst ging mir auf, wie sehr ich mich bei ihr engagiert hatte … Na schön, sprechen wir es ruhig aus: wie sehr ich sie liebte. Ich war ständig um sie herum und dennoch stets von einem starken Verlangen nach ihr erfüllt. Denn so viel mit ihr zusammenzusein, bei Nacht neben ihr zu schlafen, aber nicht mit ihr zu schlafen – nicht mit ihr schlafen zu können –, das war, als würden wir von einer hartherzigen Anstandsdame auseinandergehalten. Aber wiederum war gerade meine sexuelle Unfähigkeit das, was sie zu mir hinzog. Das war ja die Ironie: eine Frau fühlte sich zu mir hingezogen, weil ich keine Frau haben konnte.
Bis sah, daß ich ihr mit den Blicken folgte, und erriet meine Gedanken. »Also wirklich, sie ist sehr schön. Beabsichtigst du, sie auf ewig zur Wonne deines Herzens zu machen?«
Ted stöhnte. »Großer Gott, Bis – hoffentlich stammt das nicht von dir!«
»Na ja, nur zum Teil. Du weißt wohl nicht, daß John Keats, der Dichter …«
»Machst du Witze? Ich bin mit Johnny Keats zur Schule gegangen.«
»Na schön, aber warum nicht auf ewig, Paul? Ich richte dir eine schwedische Hochzeit aus, mit allem Drum und Dran. Es geht nichts über eine schwedische Hochzeit, weißt du.«
»Und ich schenke euch einen Jahresvorrat Pillen zur Hochzeit«, ergänzte Ted.
»Sieh mal, Paul«, sagte Bis, »als du aus dem Zuchthaus kamst, da warst du furchtbar allein und ohne Hoffnung, das weiß ich. Aber jetzt habe ich das Gefühl, daß du dir das, was du tust, noch einmal überlegen solltest. Es stimmt zwar, du hast ein paar Dokumente und Briefe gefunden, und wir haben einige Spuren aufgetan, wie diese Säcke hier. Aber wir haben auch Bedrohliches damit ausgelöst. Falls Pater Laekla, wie du sagst, ermordet wurde, ist das in meinen Augen ein Grund zur Besorgnis. Es ist sehr gut möglich, daß Piccionastro die Information über diese Säcke von Pater Laekla bekam und uns nur sagte, er habe sie von einem sterbenden Priester.«
»Aber das beabsichtigen wir doch, Bis! Daß der Kessel zu brodeln beginnt, damit wir sehen können, was sich dann tut. Okay, er hat nun endlich zu brodeln begonnen, und wenn wir jetzt geduldig sind …«
»Aber je stärker er brodelt, desto größer ist die Gefahr, daß er überkocht.«
»Als du einmal von dir selber sprachst«, fiel Ted ein, »da hast du mir gesagt, daß ein Mann, der keinen Wert mehr auf sein Leben legt, nichts zu verlieren hat. Und daß dieser Mann, da er nichts zu verlieren hat, auch keine Angst kennt. Jetzt hast du aber etwas zu verlieren – Julietta. Das weiß ich doch. Was ist denn nun mit der Angst? Wir befinden uns in einem gefährlichen Gebiet, das war uns ja immer klar. Aber ich spüre eine Veränderung in dir. Ich glaube, du hast jetzt einen Wert in deinem Leben gefunden und damit auch Angst entwickelt, die gleiche Angst wie wir. Denn nun hast du auch etwas zu verlieren.«
»Ted, erlaube bitte, daß ich euch kurz erkläre, wie ich die Angst sehe. Als ich in dieser U-Boot-Abwehr-Einheit war, wurde unsere Basis in Nordafrika angegriffen, ich wurde verwundet und kam ins Lazarett. Ich war noch nie in einem Krankenhaus gewesen und auch noch nie operiert worden. Die Operation war auf acht Uhr morgens angesetzt. Ich wurde in den Operationssaal gefahren, vorbereitet, auf den Tisch geschnallt, Kanülen wurden mir in die Arme geschoben und mit Heftpflaster befestigt und so weiter. Ja. Aber dies war genau die Zeit, zu der ich sonst immer aufs Klo mußte. Meine Verdauung ist wie ein Uhrwerk, und zufällig schlug es auf meiner Verdauungsuhr gerade Punkt zwölf. Aber die Vorbereitungen zur Operation, mit all den Kanülen und Heftpflastern und so, hatten eine Dreiviertelstunde gedauert, und ich hatte einfach nicht den Nerv, darum zu bitten, daß man mir all das wieder abnahm, nur weil ich scheißen mußte. Gleichzeitig aber hatte ich eine Todesangst, daß ich in der Narkose auf dem Tisch losdrücken würde. Na ja, und all diese Angst und Verklemmung schlug sich natürlich auf den Meßskalen nieder, mit denen sie meinen Blutdruck und alles mögliche überwachten, und der Chirurg kam zu mir 'rüber und hielt mir einen kleinen Vortrag, daß ich keine Angst zu haben brauchte, die Operation sei vollkommen ungefährlich, und blah, blah, blah, während ich die ganze Zeit doch nur Angst hatte, einfach loszuscheißen. So ist das mit der Angst, Bis. Man sieht eine bestimmte Situation und zieht einen Schluß daraus, doch was für dich logisch ist, muß nicht unbedingt auch für mich zutreffen.«
Gegen Abend begann es zu regnen – kein Gewitter, aber das Wasser wurde kabbelig. Als es dunkel war, manövrierten wir das Schiff wieder in Suchposition und stiegen, gestärkt von der Bouillabaisse und einem kräftigen Valpolicella, den Julietta im Ort aufgetrieben hatte, in die Tiefe. Nach zwei Stunden konnten wir unsere Suche als beendet betrachten.
Zehn Minuten nach dem Beginn ihrer zweiten Tour tauchten Bis und Ted wieder auf, weil Ted die Säcke gefunden hatte. Sie waren viel kleiner, als ich es mir vorgestellt hatte – ich hatte eine Art Postsack erwartet –, und außerdem in unendlich viel besserem Zustand. Bis schrieb diese Tatsache der dicken Polsterung mit wasserdichtem Material zu, das in die Säcke gestopft worden war, und überdies dem konservierenden Schlamm, in dem sie bis auf den obersten Teil des einen Sackes vergraben gewesen waren.
Wir öffneten sie, leerten sie auf den Kajütentisch, und dann lagen sie vor uns: Goldbarren, Juwelen, Münzen und eine Anzahl Dokumente, die jedoch durch die Feuchtigkeit verdorben waren. Sie waren nur noch eine dicke, durchweichte, klumpige Papiermasse. Es schien mir unglaublich. So lange hatte ich davon geträumt, und nun war es Wirklichkeit, wog schwer in meinen Händen, wie nur Gold schwer wiegen kann: ein Teil des Schatzes, den zu finden ich mir geschworen hatte. Im Vergleich zum Gesamtschatz zwar nicht sehr viel, aber doch mindestens im Wert einer sechsstelligen Zahl. Wir saßen alle um den Kajütentisch, nahmen die Goldstücke in die Hand, legten sie wieder hin und hielten die ungefaßten Edelsteine gegen das Licht der Kerosinlampe. Niemand sagte etwas, weil keiner von uns im Grunde seines realistischen Herzens wirklich geglaubt hatte, daß wir diese Stecknadel in diesem Wasserheuhaufen finden würden, und weil wir nun alle, da wir sie doch gefunden hatte, sprachlos waren.
»Ich muß gestehen, Paul«, begann Ted endlich, »daß Bis und ich niemals erwartet hätten … Na ja, wir wollten dir eine Weile den Willen lassen, dabei aber ehrlich versuchen, den Schatz zu finden. Und dann wollten wir dir das Ganze ausreden. Aber jetzt … Bis, kannst du es wirklich fassen?«
Bis schüttelte nur den Kopf.
»Wenn es tatsächlich Laekla war, der hiervon gewußt hat«, sagte ich, »und nicht nur hiervon, sondern, nehmen wir mal an, auch noch von anderen Dingen, die er jedoch geheimhielt, dann ist es kein Wunder, daß sie ihn umgebracht haben.«
»Und dich umbringen wollten«, ergänzte Julietta.
Bis hob ruckartig den Kopf. »Umbringen – wen? Paul? Was war das?«
Julietta machte ein verzweifeltes Gesicht, weil sie die Katze aus dem Sack gelassen hatte. »Ach, Paul, ich bin … Ach, Paul!«
»Schon gut, Julietta.«
»Was verheimlicht ihr uns denn nun schon wieder?« wollte Bis wissen.
Ich erzählte es ihnen.
»Jetzt habe ich aber genug! Verdammt noch mal, ich habe die Nase voll!« Bis tobte. Er schlug mit beiden Händen auf den Tisch und stemmte sich hoch. »Gott weiß, was ihr sonst noch an kleinen Geheimnissen habt! All diese Lügen über deinen Knöchel und Juliettas Schrammen und Kratzer – und wir sind angeblich deine Partner! Ist es dir denn nicht klar, daß ein Anschlag auf dein Leben uns eine Warnung ist, besser auf das unsere aufzupassen?«
»Es tut mir wirklich leid, Bis. Du hast recht. Ich war einfach selbstsüchtig. Ich wollte verhindern, daß ihr es mit der Angst bekommt und wieder abreist.«
»Na, auf mich brauchst du nicht mehr zu rechnen, Paul. Auf gar keinen Fall! Ich wollte von Anfang an nichts mit dieser verrückten Geschichte zu tun haben, und jetzt hast du mich endgültig davon überzeugt, daß ich recht hatte. Meinen Anteil von dem, was wir hier gefunden haben, schenke ich dir! Du kannst damit machen, was du willst. Aber mich laß bitte aus dem Spiel. Ich will nichts von diesem gefährlichen Zeug! Ich mache, daß ich von hier und aus Zonico wegkomme, so schnell ich kann.« Er begann, Sachen in seinen Seesack zu stopfen. »Ich kehre zur Villa zurück – mit dem Lastwagen. Ich werde packen und sofort abreisen. Ted, was ist mit dir? Willst du noch weiterhin hierbleiben und darauf warten, daß deine Beerdigung stattfindet?«
Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte sich Bis wieder an mich und schob mir sein verzerrtes Gesicht dicht unter die Nase. »Du bist ja verrückt! Verrückt! Daß du etwas gefunden hast, bevor sie dich umgelegt haben, wie sie die anderen umgelegt haben, die ihnen Schwierigkeiten machten, grenzt an ein Wunder. Ein gottverdammtes Wunder. Und bei deiner Vergangenheit … Falls man dich tot oder halbtot findet, glaubst du etwa, daß das jemanden kümmert? Und glaubst du etwa, die wüßten das nicht?«
Jetzt wandte er sich an Julietta und schrie: »Können Sie ihn denn nicht zur Vernunft bringen? Sie mögen ihn doch, nicht wahr? Na also! Wollen Sie hinter seinem Sarg zum Friedhof marschieren? Sie waren auf der Straße, als man ihn überfahren wollte. Und trotzdem lassen Sie ihn weitermachen? Verrückt! Alle beide!«
Er war mit dem Packen fertig. »Was wirst du also jetzt tun, Ted?«
»Ich werde morgen helfen, das Schiff zurückzubringen.«
»Und dann?«
»Helfe ich Paul, wenn es ihm recht ist, den Laden in Zonico abzuwickeln. Sonst … Tut mir leid, Paul, aber Bis hat recht. Er ist zu aufbrausend, aber er hat recht. Dies ist kein Platz für vernünftige Menschen, die noch gern weiterleben möchten.«
Bis sagte: »Na schön, ich bin zu aufbrausend. Aber ich weiß genau, was ich sage.« Er schwang sich den Seesack über die Schulter und kletterte die Stufen zum Deck empor. Kurze Zeit später hörten wir den Außenbordmotor starten, und Bis war fort.
Ted füllte den Schatz wieder in die Säcke, verschnürte sie, reichte sie mir und verließ mit einem kaum vernehmbaren »Gute Nacht« die Kajüte.
Julietta und ich blieben noch eine Weile am Tisch sitzen, dann ging ich ebenfalls an Deck. Der Regen war in Nebel übergegangen. Ich stand an der Steuerbordreling, den Kranz der Lichter von Tremezzo vor mir, und versuchte mir auszumalen, was diese Desertion zu bedeuten hatte, oder vielmehr, ob ich ohne die beiden weitermachen konnte. Und möglicherweise ohne Julietta. Ganz sicher ohne Julietta, weil Bis mit seiner Einschätzung der Lage, daß es Leichtsinn sei, angesichts offenbarer und eindeutiger Gefahr weiterzumachen, recht hatte und Julietta nicht länger hierbleiben durfte.
Julietta kam auch herauf und stellte sich neben mich. Sie legte mir tröstend den Arm um die Schultern. Ich versuchte zu überlegen. Meine Gedanken wanderten zurück zu der endlosen Monotonie der Jahre in jenem Alptraum von Zelle, den Schwüren, die ich mir gegeben hatte, so stet wie die Tropfen aus einem undichten Hahn, Schwur um Schwur – mich zu entschädigen: für die Ratten, für die sadistischen Wärter, für die abstoßenden Mitgefangenen, für das widerliche Essen, für den Verlust von Leben, Freiheit und Liebe … Liebe … Dieser Arm, der jetzt um mich lag, und ihr Gesicht, das im dichter werdenden Nebel zu mir emporgewandt war. O Gott, soll denn aus nichts von alldem etwas werden, aus gar nichts? Warum nicht? Warum, nicht? Warum muß es weiter und weiter gehen, von Gefängnis zu Gefängnis zu Gefängnis?
Ich spürte, wie sich der Druck ihres Armes verstärkte und sie mich davonführte, von der Reling zur Plicht, dann die Treppe hinab, aus dem Nebel hinaus. Wir gingen in die vordere Kajüte. Ich setzte mich auf eine der Kojen, legte den Kopf in die Hände und zwang mich abermals, über das nachzudenken, was geschehen war, mir auszumalen, wie ich jetzt dastand und ob alles zu Ende war, wie es ja schien. Oder ob es eine Möglichkeit gab, doch weiterzumachen.
Julietta zog mir die Sandalen aus, knöpfte mein Hemd auf und drückte mich sanft in die Kissen. »Denk nicht mehr darüber nach, Paul. Nicht jetzt. Morgen.« Es war sehr warm in der Kajüte, aber ein leichter Durchzug machte es erträglich. Der Wind trug eine Ahnung von Nebel durch das Bullauge herein, und das tat meiner Haut unendlich wohl.
Ich schlüpfte aus meiner Segeltuchhose, rollte mich auf den Bauch und barg mein heißes Gesicht in den aufgestützten Armen.
Julietta kam vom Bug herein, schaltete das Licht aus und kroch zu mir in die Koje. Sie lag sehr still. Eine Haarsträhne, die auf meine Schulter gefallen war, bildete den einzigen Kontakt zwischen uns. Das Schiff rollte sanft auf dem regengepeitschten Wasser. Es war stockdunkel in der Kajüte, nur die Positionslampe auf einem Spanten vor dem Bullauge warf einen hellen Streifen Lichtes auf die Koje.
Jetzt, da sie neben mir lag, gab es nur noch Julietta, sonst nichts. Was immer sie mir bedeuten mochte – sie war einfach alles, was ich hatte, und sie hatte alles ganz und gar durchdrungen. Zum erstenmal fühlte ich mich erleichtert. Es war etwas zwischen uns, und es entwickelte eine eigene Kraft, und unerklärlicherweise fühlte ich in diesem Augenblick keine Hemmungen, keine Furcht vor dem, was eindeutig unser war. Ich drehte mich zu ihr um, und sie legte den Kopf an meine Schulter. Und als das Licht vom Bullauge auf ihr Gesicht fiel, ihre Schönheit beleuchtete, legte ich meine Lippen auf ihren Mund und küßte sie zart. Dann noch einmal zart, dann hemmungslos, ohne mich zurückzuhalten. Meine Lippen und meine Zunge waren endlich gelöst, konnten nun endlich für mich sprechen. Bei diesem Kuß fühlte ich meinen Körper wachsen, meine Lenden erwachten, brachen aus ihrem Gefängnis aus, waren frei. Und Juliettas Körper reagierte, zuerst nur zögernd zwar, sich gegen sich selber wehrend, doch dann aus seinem Gefängnis erlöst, überfließend in meinen Körper, unsere Körper aneinandergefügt wie verdübeltes Holz. Mein Körper, oben liegend, vertrieb das Licht von ihrem Gesicht, sie schrie vor Freude auf, und schrie ebenfalls vor Freude auf und drang in sie ein, erfüllte sie, band sie an meinen Körper und schuf damit die Einheit, die ich empfunden hatte, aber nicht hatte ausdrücken können, jetzt aber doch ausdrücken konnte, von Fesseln befreit, intensiv, wie auf Flügeln, und dann im freien Fall, während sie ihre Lippen von meinen löste, um Atem zu holen. Ich sehnte mich verzweifelt danach, ihr zu sagen, was ich empfand, einen Wirbel vorüberfliegender Augenblicke, die ich fangen und halten wollte, die sich aber dem Zugriff entzogen wie Lichtflecken vor meinen Augen. »O Gott!« flüsterte sie. »O Gott! O Gott! O Gott!«
Sie drehte den Kopf langsam, bis ihre Lippen wieder an den meinen lagen, ganz und gar an den meinen, um unseren gleichzeitig aufsteigenden Schrei im Munde des anderen zu ersticken. Und dann trieben wir so, wie wir waren, vereint, einander im Arm haltend, tief miteinander verbunden, davon …
So schliefen wir ein.
Am nächsten Morgen war es genau wie in der Nacht, doch jetzt konnte ich im frühen Tageslicht ihr Gesicht sehen, konnte sehen, wie es auf mich reagierte, während ich sie liebte, sie liebte … Eine so unerwartete Seligkeit nach all den Jahren und der anschließenden Trostlosigkeit und Verzweiflung der Impotenz. Und dann, das Wunder, wieder lieben zu können, sie lieben zu können, alles wieder zum Leben zu wecken, zu empfangen und empfangen zu werden – ja, ja, genauso war es. Mein Kopf und mein Herz waren zum Bersten voll, ich konnte mich nicht beherrschen, als mir die Tränen kamen, und so ließ ich sie eben kommen. Ich, der ich niemals geweint hatte, ließ sie über meine Wangen rollen, auf Julietta hinuntertropfen, ohne mich dessen zu schämen, denn ich wußte genau, sie wußte, warum ich weinte. Und fast, als wollte sie mir das sagen, begann sie ebenfalls zu weinen, hielt mich, so fest sie nur konnte, umklammert, teilte die Tränen mit mir, wie sie diese Nacht und alles andere mit mir geteilt hatte.