23
Ich stoppte den Kombiwagen ungefähr hundert Meter vom Eingang zu Santo Zacharia und schaltete Motor und Scheinwerfer aus. »Ungesehen ins Kloster hineinzukommen, ist nicht schwer«, sagte Ted. »Aber die Hoffmann-Enklave, das ist etwas ganz anderes.«
Die Straße nach Santo Zacharia hatte in endlosen, steilen Haarnadelkurven bergan geführt, so daß ich jetzt, als wir ausstiegen und auf die abweisende Frontmauer des steinernen, eng an den Berg geschmiegten Klosters zugingen, die dünne Höhenluft spürte. Ted hatte alles getan, um mich von diesem Ausflug zurückzuhalten – es ging ja um seinen Kopf ebenso wie um den meinen –, doch nun, da er mit mir zusammen drinnen steckte, würde das Gefühl, in Lebensgefahr zu schweben, bei ihm zweifellos vorsichtiges, aber erfindungsreiches Verhalten auslösen.
Er nahm nicht den Haupteingang, sondern führte mich zu einer seitlichen Mauer, wo eine kleine, alte Eisenpforte in einen Meditationsgarten führte. Ein riesiges schwarzes Kruzifix hob sich düster vom Nachthimmel mit seinen treibenden weißen Wolken ab, die immer wieder den Mond verdeckten. Hinter dem Garten lag ein Hof, und dann kam das Kloster selbst. Ich sah auf die Uhr: elf Uhr fünfundzwanzig. Noch fünfunddreißig Minuten bis zur Mitternachtsmesse.
Ted führte mich durch Garten und Hof, und gleich darauf betraten wir das Kloster durch eine Küche. Er machte kurz halt, um auf Geräusche zu lauschen, ging dann aber weiter, durch eine Reihe großer, kahler Räume mit Steinfußboden, bis wir in die riesige Eingangshalle kamen. Er machte mir ein Zeichen, ich solle hier warten, und verschwand. Mir fiel plötzlich ein, daß dies sehr wohl eine Falle sein könnte, daß plötzlich Lichter die Halle überfluten und Hoffmann und seine Männer von der Balustrade im ersten Stock auf mich herabblicken könnten. Vorsichtig zog ich mich an die Tür zurück, die aus der Halle hinausführte – als ob ich dort etwa geschützter wäre. Ein unter diesen ominösen Umständen absolut unlogisches Gefühl.
Nach endlosen Minuten des Wartens jedoch, während mir jedes Knacken des alten Gemäuers Pfeilspitzen ins Herz jagte, hörte ich die Schritte eines einzelnen Menschen: Ted. Er brachte zwei Kutten samt Zubehör mit, und wir zogen uns hastig um. Dann führte er mich in einen Nebenraum, wo er mich im Schein seiner kleinen Taschenlampe musterte. Zum Glück hatten die groben, braunen Kutten weite Kapuzen, die das Gesicht vollständig verbargen, ihm eine Maske von Schatten liehen. Ted rückte meinen Rosenkranz zurecht und zeigte mir, wie man in der Prozession zu schreiten habe: die Hände in den weiten Ärmeln gefaltet, den Kopf gesenkt, mit den in Sandalen steckenden Füßen langsame Schlurfschritte machend.
Irgendwo weiter oben – ich zuckte zusammen – schickte eine dröhnende Glocke Kaskaden erschreckenden Geläutes durch das Kloster, erschreckend, weil jeder Schlag mich dem näherbrachte, was mir seit langer Zeit im Kopf herumspukte. Mein Verstand sagte mir, daß ich das Ziel all meiner Bestrebungen der letzten Zeit unter diesen Umständen um jeden Preis hätte meiden müssen. Aber wie sah der Preis aus? Das war unmöglich vorauszusagen.
Ted winkte, und ich folgte ihm zu einer Nische hinter dem Treppenaufgang. Von unserem Platz aus konnte ich in Kutten gehüllte Gestalten sehen – meine Brüder. Sie trugen Fackeln und zündeten damit die langhalsigen Öllampen entlang der Wände des Treppenaufgangs und der Halle an. Nach einer Weile läutete die Glocke wieder, diesmal in einem anderen Rhythmus, und nun kamen meine Brüder in großer Zahl in die Halle geströmt, viele davon durch eine Tür unmittelbar links von uns. Ted nahm meinen Arm und schob sich geschickt mit mir in den Strom. Als ich erst einmal Teil dieser Masse von stummen, einander gleichenden, kopfneigenden Zacharianern war, fühlte ich mich weniger exponiert.
Wir schlurften langsam, in tiefem Schweigen dahin. Ein schwerer, scharfer, aus dem Gefängnis vertrauter Geruch verriet mir, daß meine Brüder ebenso ungewaschen wie schweigsam-fromm waren. Als wir aus der weiten Halle in einen Gang kamen, formierte sich die gestaltlose Masse zu Zweierreihen, doch Ted manövrierte so geschickt, daß wir beisammen blieben. Jetzt aber fühlte ich mich wieder exponiert. Mein Atem ging kürzer, meine Brust verkrampfte sich. Das Schlurfen des Leders auf dem Steinboden war ein unheimliches, unheilverkündend von den Wänden zurückgeworfenes Geräusch. Ich hielt den Kopf tief gesenkt und richtete die Augen fest auf die Absätze der Sandalen vor mir.
Was, wenn die Fratres beim Betreten des Berges gezählt wurden? Ich hatte Ted schon danach gefragt, aber er war der Meinung, daß es eine derartige Sicherheitskontrolle nicht gäbe. Was aber, wenn es doch so etwas gab und Ted sich irrte? Das langsame Tempo, mit dem wir uns dem Eingang zum Hoffmannschen Reservat näherten, war kaum zu ertragen. Mir schien, als würden wir niemals ankommen. Ich dachte an Julietta. Ihr Schluchzen klang mir noch in den Ohren. Es war das erste Mal, daß sie geweint hatte. Ein paar Tränchen der Rührung, ja. Aber nie richtiges Weinen. Was, wenn wir erwischt wurden? Was für ein törichtes Vabanquespiel, während doch nur sie allein wichtig war, und all dieses, wie sie es mir ja hatte beibringen wollen, ohne sie überhaupt keine Bedeutung besaß! Aber ich hatte wie unter einem Zwang gehandelt. Ich mußte gehen. Ich merkte, wie sehr ich sie liebte, merkte, wie diese Liebe in mir aufstieg, wie sie mir die Augen feucht und den Mund trocken machte. Sie muß da sein! Aber was, mein Gott, wenn sie nun nicht da ist …
Die Sandalen vor mir verschwanden nach unten, mein ganzer Körper krampfte sich, als Ted und ich ebenfalls die Stufen hinabstiegen. Jetzt waren wir in dem Verbindungstunnel, der von der Rückseite des Klosters zu Hoffmanns Berghöhle führte. Hier ging es steil hinab, zweimal um eine Ecke, und dann standen wir plötzlich in einem großen, steinernen Raum, in dem der Eingang lag: massive Bronzetüren, mit schweren Krampen im Stein befestigt. Riesige Öllampen aus Silber schickten ihre schwarzgefiederten Flammen zur hochgewölbten Decke hinauf. Über dem Portal stand, mit Gold in den Fels gesetzt:
EGLI VIVRÀ PER SEMPRE NEL SUORE DEL SUO POPOLO.
(Er wird immer im Herzen seines Volkes leben.)
Zu beiden Seiten des Portals je ein großer, steifer Angehöriger der Schwarzen Garde: schwarzes Hemd, schwarze Krawatte, fezähnliche Kappe mit Quaste und goldenem Faschistenadler vorn, weiße Lederschärpe, rot-weißer Gürtel, schwarze Breeches in hohen, glänzend schwarzen Stiefeln, reich verzierter, am Gürtel befestigter Dolch.
Meine Augen hielt ich nach oben gerichtet, damit ich alles sehen konnte, mein Kopf aber blieb gesenkt. Die Kapuze bot guten Schutz, und so schlurfte ich in perfektem Rhythmus mit den vorangehenden Fratres weiter. Trotzdem spürte ich den durchdringenden Blick der Schwarzhemden, als wir das Portal durchschritten und uns – fast wäre ich in überraschtem Erkennen erstarrt – in einer genauen Kopie der Sala del Mappamondo, Mussolinis Hauptquartier in Rom, befanden.
Dröhnende Musik schlug uns entgegen: Beethovens Violinkonzert, des Duces Lieblingsstück. Ich hatte im Palazzo Venezia in Rom – wo wir 1945 vor unserer Abfahrt nach Como eine Konferenz abhielten – die echte Sala del Mappamondo gesehen und mußte zugeben, daß dies hier in allen – auch den kleinsten – Details eine verblüffend getreue Nachbildung war: ein riesiger Raum, beherrscht von Mussolinis schwerem, reichverziertem Schreibtisch, der ganz am anderen Ende stand, der Fußboden aus exquisitem Marmormosaik, hinter dem Schreibtisch ein großer Kamin mit dreieckigem Fries darüber, im Dreieck ein Lorbeerkranz, geteilt von einem Liktorenbündel, Cäsars Symbol römischer Macht, das von Mussolini übernommen worden war. Rings an den Wänden schwere Marmorsäulen auf hohen Barocksockeln.
Und überall Mussolinis Besitztümer: seine Bücher, seine Geige, Uniformen, Degen, die Fahnen und Standarten von seinen Palästen, Villen und Automobilen, die Flaggen, die in seinen Umzügen mitgeführt wurden, sein Sattel, schwer mit Silber beschlagen, sowie sein Reitzeug, seine Jagdausrüstung und seine Büchsen, eine endlose Reihe von Präsenten, die er von Herrschern anderer Länder erhalten hatte, insbesondere einige Elfenbeinkostbarkeiten, vermutlich ein Geschenk Kaiser Haile Selassies, Wandkarten aus Marmormosaik, die seine geographischen Triumphe zeigten. Die Mosaiklandkarten schmückten die Seitenwände. An der Stirnwand, zu beiden Seiten des Kamins und zwischen den Marmorsäulen, waren zwei Mosaikszenen angebracht: die linke zeigte Mussolini an der Spitze seiner Gefolgsleute beim Marsch auf Rom, durch den er zur Macht gelangt war, die rechte zeigte den Duce in reich geschmückter Uniform, schwarzer Tunika, die Brust voller Orden, in Heldenpose mit Adolf Hitler.
Während wir langsam durch den Raum auf eine Tür am anderen Ende zuschlurften, kamen wir an einem Dutzend oder mehr Tischen vorbei, auf denen die meisten der Tagebücher und Dokumente ausgestellt waren, die zu dem verschwundenen Schatz gehörten.
Es gab wohl schwerlich einen Aspekt in Mussolinis Leben, der nicht auf die eine oder andere Weise in diesem Raum konserviert worden war. Riesige Lederalben mit der Goldaufschrift ›Fotografia‹ deuteten darauf hin, daß wichtige Ereignisse aus der Laufbahn des Duce darin abgebildet waren.
Wir näherten uns jetzt der hinteren Tür. Über ihr hing ein großer, goldener Adler – vermutlich der Inhalt der Kiste vom Mera-Ufer.
Die Tür führte zu einer weiteren steilen Steintreppe, schmal, dumpf, schlecht beleuchtet, und dann waren wir in einer Krypta. Verblüffenderweise in einer Krypta. Unglaublicherweise in einer kreisrunden, schatzfunkelnden Krypta mit niedriger Kuppeldecke. Der Schatz. Da war er. Direkt vor meinen Augen: die goldene, juwelenbesetzte Krone dieser bizarren, erschreckenden Krypta.
Meine Augen wußten nicht, wohin sie zuerst schauen sollten. So überwältigend, so kraß, so faszinierend war alles. Statt Beethoven hörten wir jetzt Mussolinis eigene donnernde Stimme, Worte, die er vor langer Zeit von irgendeinem Balkon herab über die Köpfe einer ihm wie gebannt zuhörenden Menschenmenge hinweg gesprochen hatte.
Beim Betreten der Krypta hoben die Mönche den Kopf, legten den langsamen, schlurfenden Gang ab und formierten sich, Schulter an Schulter, in Längsreihen auf dem freien Platz vor dem Altar. Rechts und links vom Altar, den Zacharianern zugewandt, waren Hoffmanns Schwarzhemden aufmarschiert. Etwa hundert. Einer wie der andere. In Gliedern angetreten. In Habachtstellung. Augen geradeaus. Zwei schwarze Rechtecke.
Rings an den Wänden, einer am anderen, die Marmorsarkophage von Mussolinis Henkersknechten: seine Minister und Generäle, die in Dongo und Mailand hingerichtet worden waren. Ihre Leichen ruhten in reichverzierten Steinsärgen, aber die Männer waren nicht in der traditionellen Totenpose – auf dem Sargdeckel liegend – abgebildet, sondern in lebendigen Stellungen, aufrecht an der Wand über ihren Ruhestätten: einige sitzend, andere stehend, einander zuwinkend, einander die Hände reichend, General Cadorna auf einem steigenden Pferd, Marschall Graziani mit geschwungenem Säbel. Und unter den Abbildern waren mit großen Buchstaben die Namen in den Stein gehauen:
MEZZASOM | BOMBACCI | PAVOLINI |
PETACCI | ZERBINO | ROMANO |
LIVE RANI | PORTA | GATTI |
COPPOLO | DAQUANNO | NUDI |
CASALINUOVO | SALUSTRI | HINTERMAYER |
STARACE | FARINCCI | GRAZIANI |
BARRACU | CADORNA | CALISTRI |
Mussolinis Stimme hatte jetzt ihre volle Lautstärke erreicht, das letzte Crescendo, bombastisch, energiegeladen, die Worte an sich ohne große Bedeutung, wichtig nur der hämmernde Rhythmus, der sich nach Beethoven-Vorbild zum Höhepunkt steigerte. Dies war die Genialität, die er mit Hitler gemeinsam hatte, diese Kesselpauken und Blasakkorde von donnernden Schmähungen, mit denen er seine Zuhörer zu imaginären Höhen emporriß, das Blut der Lauschenden zum Wallen brachte, während sein Gesicht vom eigenen siedenden Blut dunkelrot wurde – diese Hypnose, dieses Aufzwingen der Gedanken, diese zündenden Emotionen, mit denen er seine Anhänger ansteckte. Und mit all dem bombardierte er uns jetzt in dieser Mausoleumsrotunde. Nichts davon war verlorengegangen, alles war da, das Hämmern, der Trommelwirbel der Worte, der Rhythmus des aufrauschenden Finales, dann das Becken, ein letzter, verzögerter Akkord, ein animalischer Triumphschrei nach dem Vaterland, nach schicksalhafter Größe, nach der Größe des Vaterlandes, Vaterland, und dann, rings um mich her, die Fratres unisono: »Duce! Duce! Duce!«
Es war der einzige Bruch in der Mauer des Schweigens. Jeden Tag um Mitternacht durften die Mönche von Santo Zacharia ihre Zunge lösen, durften es hier bei dieser Messe für Mussolinis Seele, die hier in diesem Heiligtum von Luigi Hoffmann am Leben erhalten wurde. Die Fratres knieten, dem Altar zugewandt, mit erhobenen Köpfen, während Pater Piccionastro im Seidengewand der hohen Messe, unter dem Schwingen alter, silberner Weihrauchgefäße, die lateinischen Worte zur Rettung der Seele anstimmte. Als er eingetreten war, waren die Mönche niedergekniet, hatten die gefalteten Hände einmal an die Stirn geführt und dann gemeinsam ein Kreuz geschlagen – nicht an ihrem Körper, sondern in der Luft, in der die Seele Mussolinis schwebte.
Der Altar: massives Gold. Ich konnte die Anzahl der Barren, die dazu verwendet worden waren, nicht einmal annähernd schätzen. Und direkt darüber wölbte sich, wie ein Fallschirm, die Decke, über und über besetzt mit Mussolinis Gold: Goldmünzen, die Eheringe der Italienerinnen, religiöse Anhänger aus Gold, Goldmedaillen – ein glitzernder Baldachin, der seinen blendenden, goldenen Schimmer auf den Altar und die glasumschlossene Gestalt warf, die darauf ruhte. Die Ecken des gläsernen Sarkophags waren mit Onyx verstärkt, und drinnen lag, mumifiziert, im Vakuum konserviert, mit schwarzem Gesicht, die Haut an den Knochen klebend, aber das vorspringende Kinn und die wuchtige Stirn unverkennbar: Benito Mussolini. In voller Uniform. Mit blankpolierten Stiefeln. Die Hände schwarz, mit grau-durchscheinenden Nägeln, die Arme zu den Seiten des Körpers ausgestreckt. Zwischen den leicht geöffneten Lippen ein schmaler, weiß blitzender Streifen Zähne. Mit eingesunkenen Augenhöhlen. Das Vakuum im Glassarg für den Körper, was die allnächtliche Messe für die Seele zu sein versuchte.
Drei Seiten des Sarkophags sowie der Deckel bestanden aus Glas, die Rückseite jedoch war massiv, und in diese Rückwand waren die Juwelen eingelassen. Alle Juwelen. Hintergrund für Mussolinis Leiche, warfen sie, dicht an dicht, ihren lebendigen Glanz auf den toten Körper: die herrlichen Juwelen des Schatzes von Dongo. Oben Gold, innen Juwelen, deren leuchtende Farben sich auf der toten, schwarzen Haut vermischten.
Im Fuß des Altars, dicht unter dem Sarg, war auf italienisch eine Inschrift eingelassen: ›Hier ruht eines der intelligentesten Tiere, die jemals auf dem Antlitz der Erde gewandelt sind.‹ Der Nachruf, den Mussolini sich selber geschrieben hatte.
Auf der Stufe unter dieser Inschrift stand ein schlichter Steinsarkophag mit dem Namen ›Clara Petacci‹.
Rechts und links von Piccionastro schwangen zwei Ministranten silberne Weihrauchgefäße. Pater Piccionastro kniete nieder.
Piccionastro: »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.«
Die Mönche: »Ich will eintreten zum Altare Gottes.«
Piccionastro: »Zu Gott, der meine Jugend erfreuet.«
Die Mönche: »Unsere Hilfe ist im Namen des Herrn.«
Piccionastro: »Der Himmel und Erde gemacht hat.«
Ted kannte die Responsorien, ich aber täuschte sie nur vor, ängstlich bemüht, meine Lippen, sobald ich die Worte hörte, entsprechend zu bewegen. Ich hoffte verzweifelt, daß keiner der Schwarzhemden, die starr geradeaus blickten, mich entdeckte. Piccionastro legte eine Hostie auf den Deckel von Mussolinis Sarg und stellte einen Kelch Wein dazu.
Piccionastro: »Ich warte auf die Auferstehung der Toten. Und auf das Leben in dem Reich, das da kommen wird. Amen.«
Die Mönche: »Amen.«
Hinter dem Altar tauchten jetzt, eine Treppe emporsteigend, zwei Offiziere der Schwarzen Garde auf, und nach ihnen, langsam, majestätisch, ein hochgewachsener, hagerer Mann in wallendem, weißem Seidengewand mit einem purpurnen Kreuz auf der Brust. Im Querbalken des Kreuzes die Insignien der Faschisten. Weißes Haar, weiße Brauen, weißer Schnurrbart, farbloses Gesicht, weiß in weiß, El-Greco-Hände, durchscheinend, zerbrechlich, ästhetische Schönheit, ein Jesus-Gesicht. Der Mann bewegte sich schwebend, als werde er von einer gehorsamen Brise getragen. Langsam ließ er sich auf ein Knie nieder, zeichnete mit zwei Fingern, lang, schmal und weiß wie die Altarkerzen vor ihm, zuerst ein Kreuz auf seine Brust und malte dann ein zweites für Mussolini in die Luft.
Piccionastro: »Ich bin die Auferstehung und das Leben, wer an mich glaubt, wird leben, und wenn er gleich sterben müßte, und wer da lebt und an mich glaubt, der wird niemals sterben.«
Nun legte sich Hoffmann neben die Mussolini-Leiche und nahm die gleiche Stellung ein wie der Tote. Sein langes, weißes Haar floß an den Wangen herab.
Piccionastro: »Befreie, o Herr, die Seele des verstorbenen Christgläubigen Benito Mussolini von jeglichem Bande der Sünden. Und laß sie durch die Hilfe deiner Gnade würdig werden, deinem Strafgerichte zu entgehen und die Seligkeit des ewigen Lichts zu genießen.«
Die Mönche: »Laß sie würdig werden, deinem Strafgerichte zu entgehen und die Seligkeit des ewigen Lichts zu genießen.«
Piccionastro: »Und Jesus sprach: ›Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer dieses Brot ißt, der wird das ewige Leben haben. Und dieses Brot ist mein Fleisch, das ich hingegeben habe für das Leben der Welt. Ich aber sage euch, wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, der wird das ewige Leben haben. Und ich werde ihn am Jüngsten Tag erheben.‹«
Ein Ministrant trat vor, nahm die Hostie, legte sie auf Hoffmanns Zunge und hielt ihm den Kelch an die Lippen, damit er trinken konnte.
Die Mönche: »Herr Jesu Christ, König der Herrlichkeit, errette die Seele dieses abgestorbenen Gläubigen von den Strafen des Abgrundes und von dem tiefen Schlunde, errette sie vor dem Rachen des Löwen, auf daß die Hölle sie nicht verschlinge und sie nicht versinket in die Finsternis, sondern dein Heerführer, der heilige Michael, sie in das heilige Licht führe, welches du einst Abraham versprochen hast und seinem Samen. Wir bringen dir, o Herr, Opfer des Lobes und Gebete dar; nimm sie an für die Seele des Benito Mussolini, derer wir heute gedenken.«
Piccionastro: »Laß sie, o Herr, vom Tode übergehen zum Leben. Welches du einst dem Abraham versprochen hast und seinen Samen. Versprich es nun Benito Mussolini, dem Samen des Abraham.«
Langsam richtete Hoffmann sich jetzt zu seiner ganzen, hageren Größe auf. Die Mönche erhoben sich ebenfalls. Mit geschlossenen Augen, den Kopf weit zurückgelegt, breitete Hoffmann die Arme aus, daß die weiße Seide wie schwere Flügel herabfiel, und rief mit einer Stimme voll ungeheurer Tiefe und Resonanz zum Himmel empor: »Mein Heiland, ich habe dein Fleisch gegessen und dein Blut getrunken, wie ich es jede Nacht seit dem Tod unseres großen Führers Benito Mussolini getan habe, der hier ohne Blut und ohne lebendiges Fleisch vor deinem Angesicht ruht. Hier stehe ich vor deinem Angesicht, demütig und voller Liebe, an seiner statt, als Bewahrer seiner Seele, die in meinen Körper geschlüpft ist und die wir durch unsere Gebete und Andachten in diesem Hause gehalten haben, das ein Haus Gottes ist. Ich danke dir, o Heiland, daß du mich zum Bewahrer der Seele deines frommen Dieners Benito Mussolini gemacht hast. Ich flehe dich an, wie ich dich jede Nacht seit seinem Hinscheiden angefleht habe, laß unseren geliebten Mussolini auferstehen, so daß seine Seele wieder in seinen Körper eintreten, ihm Leben einhauchen und ihn der Welt zurückgeben kann. Nimm mich an seiner Statt, mein Heiland, und laß Mussolini wiederauferstehen von den Toten, um über sein Volk zu regieren, die Lämmer deiner Herde, die ihn als deinen Stellvertreter auf Erden brauchen. O Heiland, ich habe an Mussolinis Stelle dein Fleisch gegessen, habe mit Mussolinis Lippen dein Blut getrunken, ich habe mit Mussolinis Stimme dein Lob gesungen, und meine Hände, die sich zum Gebet erheben, sind Mussolinis Hände. Herr, höre meine Stimme! Ich rufe laut zum Himmel hinauf. Gewähre uns ein Zeichen, auf daß wir hoffen können, der tote Leib werde wieder mit Leben erfüllt. Ein Zeichen, o Heiland, auf daß wir glauben können …«
Er fiel auf die Knie, und Mönche wie Schwarzhemden folgten seinem Beispiel. Pater Piccionastro und seine Ministranten knieten hinter dem Altar. Es herrschte absolute Stille. Eine so tiefe Stille, daß ich das wachs-heiße Geräusch der Kerzen zu hören vermeinte. Hoffmann lag vor dem Kruzifix und hatte seine Arme flehend ausgestreckt. Niemand rührte sich. In dieser Stille klang das Geräusch von Metall auf Glas vielfach verstärkt. Hoffmann zuckte zusammen, sein Kopf fuhr herum, er sprang auf die Füße. Eine Goldmünze war von der Decke auf den Glasdeckel des Sarges gefallen. Aus Hoffmanns Verhalten schloß ich, daß nach den langen Jahren unablässigen, Nacht um Nacht wiederholten Flehens um ein Zeichen dieses Flehen nun endlich zum erstenmal erhört worden war. Der Ministrant, der dem Sarg am nächsten stand, wollte nach der herabgefallenen Münze greifen.
»Nein!« Leidenschaftlich geflüstert. »Du wirst es nicht wagen, das Zeichen Gottes zu berühren!« Hoffmann stand hoch aufgerichtet, die Arme voll leidenschaftlicher Begeisterung gen Himmel gereckt. »Das Zeichen Gottes! Es wird also geschehen! Es wird geschehen!«
Tränen auf seinen Wangen. An seinen Schläfen geschwollene Adern. Verkrampfte Hände.
Dann drehten sich seine Augäpfel nach oben, er schnappte keuchend nach Luft und bekam einen epileptischen Anfall. Die beiden Offiziere eilten mit offenbar langgewohnter Selbstverständlichkeit zu ihm hin. Sie knieten sich über ihn, sicherten seine Zunge und versorgten ihn.
Pater Piccionastro nahm vor Hoffmann und den beiden Männern Aufstellung. »Ich erwarte die Auferstehung der Toten. Und das Leben in dem Reich, das da kommen wird. Amen.«
Die Mönche: »Amen.«
Die Schwarzhemden hoben Hoffmanns steifen, verkrampften Körper auf und trugen ihn hinter den Altar. Die Treppe hinab verschwanden sie aus unserem Blickfeld. Pater Piccionastro segnete den Toten und seine Seele mit Weihwasser, die Ministranten schwangen die Weihrauchkessel, und der Jasminduft zog um die Köpfe der Mönche.
Ein letzter Blick auf die juwelenbesetzte Sargwand. Zögernd wanderten meine Augen von Juwel zu Juwel, prägten sich jeden Smaragd, Brillanten und Rubin ein, versuchten die Juwelen mit den Schmuckstücken der Schatzliste in Verbindung zu bringen, zu entscheiden, welche davon zu der im Orgelpodium versteckten Beute gehört hatten: Goldkette mit Brillanten – Verkündigungsorden, die brillantenbesetzte Platte des persischen Ordens, der deutsche Orden mit Smaragden und Rubinen. Ich war viel zu vertieft in die Juwelen. Wende den Blick ab, Mönch! Wende den Blick ab! Richte deine Augen zum Himmel, allwo das wahre, das echte Gold ist!
Die Schwarzhemden lösten ihr Formation. Eine Abteilung begleitete die Mönche in ihr Quartier zurück, die anderen machten rechtsum und linksum kehrt und verschwanden durch die Seitentüren.
Ted packte meinen Ärmelzipfel, damit wir nicht getrennt werden konnten, und reihte sich mit mir in den Zug der Mönche ein. Als wir an den Ausgang der Krypta kamen, sah mir einer der Schwarzhemden direkt in die Augen. Ich aber wandte den Blick ab, senkte den Kopf und begann mit meinem stummen Schlurfen.