Im August 1965 reiste eine Delegation schwarzer und weißer Bürgerrechtler aus Mississippi nach Washington, wo sie im Weißen Haus von der Präsidentengattin Claudia »Lady Bird« Johnson(1) empfangen wurde. Der Besuch sollte demonstrieren, dass die Reformpolitik des Präsidenten selbst im Deep South zu raschen Fortschritten in den Rassenbeziehungen führte. Sie sei so glücklich, erklärte die First Lady, dass die Rassenprobleme des Südens nun vorbei seien und man sich neuen Herausforderungen zuwenden könne. Er habe sich gefragt, so bemerkte einer der Besucher später, ob die Johnson(50)-Administration überhaupt wusste, worauf sie sich eingelassen hatte.[1]
Was in der Rückschau nach naivem Optimismus klingt, dürfte freilich für große Teile der weißen Öffentlichkeit durchaus repräsentativ gewesen sein. Der nationale Konsens, der in der ersten Hälfte des Jahrzehnts Kennedys(31) und Johnsons(51) liberale Bürgerrechtspolitik getragen hatte, beruhte auf der Erwartung, dass die Abschaffung der Rassentrennung und die Garantie des Wahlrechts zu einer schnellen »Lösung« der Rassenfrage führen würde. Bürgerrechtler hatten diese Vorstellung aus taktischen Gründen genährt. »Gebt uns den Stimmzettel«, versprach Martin Luther King Jr.(13), »und wir werden die Bundesregierung nicht mehr mit der Forderung nach Schutz unserer Grundrechte behelligen müssen«. Auch NAACP-Führer(3) Roy Wilkins(2) betonte bei jeder Gelegenheit, wenn die schwarzen Amerikaner erst ihren politischen Einfluss an den Wahlurnen geltend machen könnten, werde die amerikanische Politik zur »normalen« Tagesordnung zurückkehren.[2]
Allerdings glaubten weder die politisch Verantwortlichen noch die Vordenker der liberalen Reformpolitik daran, dass Desegregation, Wahlrecht und Gesetze gegen die Rassendiskriminierung allein Amerikas Rassenproblem lösen konnten. Der Schlüssel war die soziale und wirtschaftliche Integration, die Präsident Lyndon Johnson(52) mit dem Krieg gegen die Armut voranbringen wollte. Die Zuversicht, dass dies schnell gelingen würde, speiste sich aus der Erwartung ständig wachsenden Wohlstands. Rund zwanzig Jahre nachdem er mit An American Dilemma das liberale Credo zur Rassenfrage formuliert hatte, prognostizierte Gunnar Myrdal(2), nie in der amerikanischen Geschichte seien die Voraussetzungen besser gewesen, soziale Gerechtigkeit und wirtschaftlichen Fortschritt in Einklang zu bringen. Der prominente Soziologe Talcott Parsons(1) sekundierte, trotz einiger beunruhigender Tendenzen sei eine Polarisierung in der Rassenfrage unwahrscheinlich, weil Amerikas Institutionen in der Lage seien, den nötigen Wandel schrittweise ins Werk zu setzen.[3]
Tatsächlich jedoch konnte der amerikanische Liberalismus sein Versprechen, den gesellschaftlichen Frieden durch staatliche Reformen zu sichern, nicht einlösen. Im Gegenteil entwickelte sich in den Rassenbeziehungen seit Mitte der 1960er-Jahre eine explosive Dynamik der Konfrontation, Radikalisierung und Gewalt. In den schwarzen Ghettos der US-Großstädte entluden sich Wut und Frustration in bürgerkriegsähnlichen Unruhen, bei denen es regelmäßig Dutzende von Toten gab. Der integrationistische Flügel der Bürgerrechtsbewegung verlor an Einfluss, während unter dem Schlachtruf »Black Power«(4) militante Gruppen an Boden gewannen und fortan die öffentliche Sicht auf den Rassenkonflikt dominierten. Gleichzeitig riefen immer mehr Weiße verunsichert nach »Gesetz und Ordnung«. Neben dem Vietnamkrieg(50) gilt der sogenannte White Backlash(3) als wichtigster Grund für das Auseinanderbrechen der New-Deal-Koalition(11) und den Niedergang des Liberalismus.
Kollektive Ausschreitungen, Unruhen und Mobgewalt haben in den USA eine lange Tradition. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts bezeichnete der Begriff race riot allerdings pogromartige Attacken weißer Mobs auf schwarze Wohnviertel.[4] Demgegenüber zeichneten sich die »Rassenunruhen« der 1960er-Jahre dadurch aus, dass die Gewalt von den Bewohnern der Ghettos ausging und sich fast ausschließlich in den schwarzen Wohnvierteln abspielte. Die liberale weiße Öffentlichkeit stand der Eskalation zunächst fassungslos gegenüber. Warum verwüsteten Schwarze ihre eigenen Nachbarschaften, als die Bürgerrechtsbewegung mit ihrem gewaltlosen Protest endlich die erhoffte Gleichberechtigung erkämpft hatte?
Der zeitliche Konnex war in der Tat irritierend. Schon auf die Verabschiedung des Bürgerrechtsgesetzes(6) im Sommer 1964 folgte eine erste Welle von Ausschreitungen in New York und New Jersey. Und nur fünf Tage nach Unterzeichnung des Voting Rights Act(5) Anfang August 1965 brachen in Watts, dem Schwarzenviertel von Los Angeles, tagelange Unruhen aus, bei denen 34 Afroamerikaner getötet wurden. Martin Luther Kings(14) Versuche, die Gewalt durch persönliches Eingreifen zu stoppen, stießen auf schroffe Zurückweisung. In den folgenden Jahren erlebten die Vereinigten Staaten »lange heiße Sommer« der Gewalt in den Ghettos, die kaum eine Großstadt außerhalb des Südens verschonten. Einer offiziellen Zählung zufolge verloren bis 1968 bei 239 riots 190 Menschen ihr Leben, etwa 8000 erlitten Verletzungen. Als im Juli 1967 das Pulverfass Detroit explodierte, starben 43 Personen, 33 von ihnen Afroamerikaner. Die meisten Todesopfer gingen auf das Konto der völlig überforderten und schlecht ausgebildeten Nationalgardisten, die aus Furcht vor Heckenschützen in Panik um sich schossen. Nach der Ermordung Martin Luther Kings(15) am 4. April 1968 kam es in rund 170 Städten des Landes zu Ausschreitungen mit zahlreichen Toten und Tausenden von Verletzten. In der Bundeshauptstadt musste das Weiße Haus von der Armee gesichert werden. Nicht wenige Amerikaner sahen ihr Land an der Schwelle zum Bürgerkrieg.[5]
Fast immer gaben Zusammenstöße zwischen Ghettobewohnern und der fast ausschließlich weißen Polizei den Anlass zur Eskalation. Viele Polizisten führten sich im Ghetto wie Besatzer auf. Bei Kontrollen schwarzer Bürgerinnen und Bürger kam es regelmäßig zu Schikanen und Misshandlungen. Polizeibeamte waren zudem Teil der Schattenwirtschaft aus Bestechung und Erpressung. Es sei sinnlos, die schwarzen Ghettobewohner zur Gesetzestreue aufzurufen, so der afroamerikanische Soziologe Kenneth B. Clark(1), denn das Gesetz trete ihnen gegenüber immer nur als Feind auf. Der Respekt vor dem Eigentum sei für Menschen, die nichts besitzen, bedeutungslos. Die Plünderung von Geschäften erschien als der augenfällige Versuch, sich die Segnungen der Konsumgesellschaft anzueignen, von denen sie ansonsten ausgeschlossen blieben. In der Überflussgesellschaft bilde das Ghetto, so Clarks düstere Warnung, »ein nukleares Arsenal, das die Grundlagen Amerikas auslöschen könnte«.[6]
Die Armut allein lieferte jedoch keine ausreichende Erklärung für die Rassenunruhen, denn hohe Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot gehörten seit je her zum Leben im Ghetto. Tatsächlich hatte die massenhafte Flucht der Weißen in die Vorstädte das Wohnungsangebot in den inner cities sogar vergrößert. Die Lebensverhältnisse der afroamerikanischen Bevölkerung in den Großstädten waren insgesamt besser als im ländlichen Süden. Doch gaben die auf die Abschaffung des Jim-Crow-Systems(5) des Südens zielenden Bürgerrechtsreformen keine Antwort auf die sozialen Probleme des Ghettos. Vor allem maßen die schwarzen Amerikaner, wie der Historiker C. Vann Woodward(1) bemerkte, Fortschritt nicht an der Vergangenheit, sondern an der Gegenwart und an der Zukunft. Hoffnung, nicht Verzweiflung, sei die eigentliche Triebkraft der »Negerrevolution«, und die großen Erwartungen, welche die Bürgerrechtsreformen und die Great Society geweckt hätten, befeuerten Ungeduld und Frustration. Woodward warnte, Amerika sei im Begriff, eine historische Chance zu verpassen. Weder Weiße noch Schwarze hätten begriffen, welche grundlegenden Veränderungen erforderlich seien.[7]
Präsident Lyndon Johnson(53) freilich war fest davon überzeugt, dass er mit seiner Reformpolitik auf dem richtigen Weg war. Die Rassenunruhen empfand er als persönlichen Affront. Angeblich weigerte er sich anfangs, die Berichte über die Ausschreitungen in Watts überhaupt anzusehen, und klagte ungläubig: »Wie kann das passieren, nach allem, was wir erreicht haben?« LBJ verstand die Wut, die sich in den riots Bahn brach, aber politisch waren die Bilder aus den Ghettos für ihn ein Desaster, denn nun konnten seine konservativen Kritiker den Krieg gegen die Armut genüsslich als Beschwichtigungspolitik gegenüber Brandstiftern und Plünderern, gar als Anreiz zu mehr Gewalt denunzieren.[8] Gleichwohl blieb er seiner liberalen Linie treu. Nach den Unruhen in Detroit berief der Präsident eine Kommission unter Vorsitz des Gouverneurs von Illinois, Otto Kerner(1), die den Auftrag hatte, die Ursachen der riots zu untersuchen und Empfehlungen für eine gezielte Politik zur Befriedung der Ghettos zu erarbeiten. Dem Gremium gehörten Amtsträger beider Parteien, Repräsentanten von Wirtschaft und Gewerkschaften(4) sowie führende Bürgerrechtler, unter ihnen NAACP(4)-Chef Roy Wilkins(3), an.[9]
Der im Februar 1968 veröffentlichte Kommissionsbericht erregte vor allem deshalb großes mediales Aufsehen, weil er gleich auf der ersten Seite Alarm schlug: »Unsere Nation ist dabei, in zwei Gesellschaften zu zerbrechen, eine schwarze und eine weiße – getrennt und ungleich.« Mehr noch, die Kommission machte offen den »weißen Rassismus« für die desparate Lage der schwarzen Ghettobewohner verantwortlich und forderte umfassende Anstrengungen der Bundesregierung, in den folgenden Jahren mindestens zwei Millionen Arbeitsplätze und sechs Millionen Wohnungen in den Großstädten zu schaffen; wenn nötig, müssten dafür auch Steuern erhöht werden. Zudem forderte die Kommission eine grundlegende Reform der Polizei, betonte aber zugleich, dass Gewalt und Anarchie nicht geduldet werden dürften.[10]
Trotz seiner drastischen Wortwahl beruhte der rund 600-seitige Bericht auf der liberalen Grundüberzeugung, den Rassenkonflikt durch gesetzlichen Schutz vor Diskriminierung und eine großzügige Sozial- und Infrastrukturpolitik entschärfen zu können. Allerdings waren die politischen Voraussetzungen für eine derartige Kraftanstrengung längst erodiert. Präsident Johnson(54) konzedierte zwar die große Übereinstimmung zwischen den Empfehlungen der Kerner(2)-Kommission und seinem Regierungsprogramm, hielt es jedoch für völlig unrealistisch, dass der Kongress die geschätzten Kosten von dreißig Milliarden Dollar bewilligen werde. Gerade erst hatte LBJ die Volksvertreter wegen der explodierenden Ausgaben für den Vietnamkrieg(51) um eine zehnprozentige Erhöhung der Einkommensteuer bitten müssen. Die Stimmung im Kongress wie in weiten Teilen der Öffentlichkeit hatte sich längst vom Krieg gegen die Armut abgewendet.[11] Auch die These, dass der »weiße Rassismus« für die Ghettounruhen verantwortlich sei, stieß bei vielen weißen Amerikanern auf Unverständnis und Ablehnung. Für sie manifestierte sich in den Ausschreitungen sinnlose Zerstörungswut, der mit aller Härte begegnet werden musste. Meinungsumfragen zufolge hielt nur eine kleine Minderheit Polizeibrutalität für ein Problem. Fast die Hälfte der Befragten glaubte, dass radikale Agitatoren die Ghettobewohner zu Plünderung und Brandstiftung aufstachelten.[12]
Ob die Rassenunruhen der 1960er-Jahre als politisch motivierte »Rebellionen« gedeutet werden müssen, war und ist umstritten. Gewiss beflügelte die Eruption der Ghettos die Hoffnungen der radikalen Black-Power-Aktivisten(5) auf den baldigen »Beginn der schwarzen Revolution«. Die Black Panthers(2), die sich gerne als revolutionäre Avantgarde inszenierten, hielten indessen wenig von »sporadischen, kurzlebigen und verlustreichen Aufständen« und ermahnten »die Massen«, stattdessen auf einen gut organisierten Guerillakampf zu setzen. Die Kerner(3)-Kommission fand für Verschwörungen oder gesteuerte Aktionen keine Belege, doch ihre Charakterisierung der »typischen Randalierer« trug durchaus politische Züge: junge Männer, meist mit schlechtbezahltem Job, stolz auf die eigene Hautfarbe, aber feindselig gegenüber Weißen und der schwarzen Mittelklasse, politisch gut informiert, doch voller Misstrauen gegenüber dem politischen System.[13]
Auch wenn die riots keine planvollen, revolutionären Aufstände waren, lassen sie sich nicht als unpolitische, blinde Wut abtun. Gewalt und Plünderung richteten sich in erster Linie gegen die Polizei und die von Weißen geführten Geschäfte in den Ghettos, also gegen die Repräsentanten der staatlichen und der ökonomischen Ordnung. Vor allem im Hinblick auf ihre Folgen erscheinen die Ghettorevolten keinesfalls als ausschließlich destruktiv, da sie die nationale Öffentlichkeit zum Hinschauen und die politischen Instanzen zum Handeln und zum Verhandeln zwangen.[14] Gewalt garantiert öffentliche Aufmerksamkeit. Das mussten auch die gemäßigten Führer der Bürgerrechtsbewegung einräumen, die in riots und Radikalisierung vor allem die Gefahr sahen, dass die Fortschritte der liberalen Reformpolitik verspielt werden könnten.
Die neuere US-Geschichtsschreibung hat viel Mühe darauf verwendet, das Bild von einem scharfen Kontrast zwischen der gewaltfreien Bürgerrechtsbewegung der frühen 1960er-Jahre und der Militanz der Black-Power-Bewegung(6) in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts zu korrigieren. Radikale Gruppen und bewaffnete Selbstverteidigung spielten sowohl im Norden wie im Süden eine wichtige Rolle, bevor Martin Luther King(16) und die nonviolent direct action das Image des schwarzen Freiheitskampfes prägten.[15] Diese Befunde ändern indessen nichts daran, dass sowohl die weiße Öffentlichkeit als auch der gemäßigte Flügel der Bürgerrechtsbewegung, den die NAACP(5) und King(17) repräsentierten, die Spaltung der Bewegung in den Jahren 1965 bis 1966 als Zäsur wahrnahmen. Für sie bedeutete die Abwendung der Black-Power-Bewegung von den Idealen der Gewaltfreiheit und der Rassenintegration eine fundamentale ideologisch-politische Herausforderung.[16]
Schwarzer Nationalismus, der die Anpassung an die weiße Mehrheitsgesellschaft ablehnt und stattdessen an die gemeinsamen Interessen und die Identität der afroamerikanischen Minderheit appelliert, hat in den USA eine lange Geschichte. Mitte des 20. Jahrhunderts vertrat ihn die Nation of Islam(1) (NOI) in einer besonders radikalen, strikt separatistischen Variante. Ihr charismatischer Sprecher Malcom X profilierte sich als eloquenter Kritiker von Gewaltlosigkeit und Integration, der mit seiner Forderung nach schwarzer Gegengewalt auch das weiße Publikum faszinierte. Sein früher, gewaltsamer Tod im Februar 1965 – Malcolm X(1) wurde nach seinem Bruch mit der Nation of Islam mutmaßlich im Auftrag der NOI-Führung ermordet – verhinderte, dass er zur Führungsfigur der Black-Power-Bewegung(7) werden konnte, machte ihn jedoch postum zur Ikone des schwarzen Radikalismus.[17]
Auch die Forderung, dass sich die schwarzen Amerikaner ihrer potenziellen Macht bewusst werden und von weißer Bevormundung lösen mussten, gehörte seit langem zur Rhetorik schwarzer Aktivisten. Doch das Urheberrecht auf den Slogan »Black Power«(8) als radikale politische Vokabel gebührt den beiden Aktivisten des Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC)(3), Stokely Carmichael(1) und Willie Ricks(1). Im Juni 1966 intonierten die beiden beim »Marsch gegen die Furcht« durch Mississippi den Schlachtruf: »Was wollt Ihr? Black Power!« Das anfänglich gewaltfreie und integrationistische SNCC hatte sich, nicht zuletzt unter dem Eindruck rassistischer Repression im tiefen Süden, immer weiter radikalisiert und forcierte den Bruch mit der Johnson(55)-Administration und dem Bürgerrechtsestablishment. NAACP-Führer(6) Roy Wilkins(4) ließ sich provozieren und geißelte die Forderung nach Black Power als Rassismus: »ein umgekehrtes Mississippi, ein umgekehrter Hitler, ein umgekehrter Ku-Klux-Klan(2)«.[18]
Doch der Geist war aus der Flasche. In den folgenden Jahren dominierte die Losung Black Power(9) die öffentliche Debatte über den Rassenkonflikt. Auch die Gemäßigten mussten anerkennen, dass diese keineswegs nur eine hohle Phrase war, sondern ein reales Problem auf den Begriff brachte: Wie konnte die afroamerikanische Minderheit in einer von Weißen beherrschten Gesellschaft Teilhabe, Selbstbestimmung und eine eigene Identität verwirklichen? Für die NAACP(7) blieb politische Macht durch den effektiven Gebrauch des Wahlrechts der Königsweg. Aber sie betonte nun immer öfter die Notwendigkeit »ethnischer Geschlossenheit« nach dem Vorbild europäischer Einwanderergruppen, um sich den angemessenen Platz im Mainstream der amerikanischen Gesellschaft zu sichern. Auch Martin Luther King(18) war über die militante Rhetorik der Black-Power-Aktivisten(10) nicht glücklich, bemühte sich jedoch, mit ihnen im Gespräch zu bleiben. King glaubte ebenfalls an die Macht, über die Schwarze als Wähler und Konsumenten verfügten, und empfahl den Afroamerikanern, sich ein Beispiel an der jüdischen Gemeinschaft in Amerika zu nehmen, die trotz Diskriminierung nicht in »Verzweiflung und Eskapismus« verfallen sei. Vor allem stellte er klar, dass Integration für ihn kein »romantisches Miteinander der Hautfarben«, sondern »echte Teilhabe an Macht und Verantwortung« bedeute. Spätestens seit 1966 setzte King(19) konsequent auf nonviolent direct action zur Durchsetzung sozialer Forderungen zugunsten der schwarzen und weißen Unterschichten.[19]
Für die radikalen Protagonisten der Black-Power-Bewegung(11) diente ethnische Solidarität jedoch nicht dem Ziel, sich ein Stück vom großen Kuchen der amerikanischen Wohlstandsgesellschaft abzuschneiden. Sie propagierten die Befreiung vom Joch des Rassismus durch revolutionären Umsturz. Von Black Power als kohärenter Ideologie oder gar als klarem politischen Programm kann freilich genauso wenig die Rede sein wie von einer einheitlichen Bewegung. Wie alle radikalen Bewegungen neigten die Adepten zu organisatorischer Zersplitterung, Rivalität und Sektierertum.[20] Das 1967 gemeinsam von Stokely Carmichael(2) und dem afroamerikanischen Politikwissenschaftler Charles V. Hamilton verfasste Buch Black Power: The Politics of Liberation in America pries sich seinen Lesern dramatisch als »letzte vernünftige Gelegenheit« zur Lösung der Rassenfrage vor dem Guerillakrieg an, doch blieben die Autoren vage und boten eine in vieler Hinsicht konventionelle Analyse der amerikanischen Politik. Hamilton gab an anderer Stelle offen zu, eine konsensfähige Definition von Black Power(12) sei unmöglich.[21]
Vergröbernd lassen sich zwei Grundströmungen unterscheiden – eine »pluralistische« und eine »nationalistische«. Pluralisten akzeptierten weiterhin das politische und soziale System der USA als Rahmen, strebten aber nach lokaler Selbstbestimmung, eigenen Institutionen und einer von Weißen unabhängigen Machtbasis. Nationalisten gingen deutlich weiter. Manche leiteten aus dem Postulat einer eigenen afroamerikanischen Nation die Forderung nach territorialer Unabhängigkeit ab, entweder in Gestalt urbaner Enklaven oder als konsolidierter Staat im Süden der USA. Andere definierten Nationalismus vor allem als Verwirklichung kultureller Unabhängigkeit. Obwohl der schwarze Radikalismus zahlreiche Anleihen bei marxistischer(4) Terminologie machte, stand eindeutig der Rassismus und nicht die Klassenherrschaft im Mittelpunkt. Marxisten klagten daher, die Fixierung auf den Rassenkonflikt habe es Konservativen leichtgemacht, Black Power(13) zur Forderung nach »schwarzem Kapitalismus« umzudeuten.[22]
Der Stolz auf die schwarze Hautfarbe und die Hinwendung zum afrikanischen kulturellen Erbe waren die am wenigsten kontroversen Aspekte der Black-Power-Bewegung. Das Motto »Black is Beautiful« sollte signalisieren, dass schwarze Amerikanerinnen und Amerikaner sich nicht mehr weißen Schönheitsidealen beugten. Afrofrisuren und afrikanische Kleidung wurden aber rasch, wie zuvor Blues, Jazz und Rock ’n’ Roll, von der amerikanischen Populärkultur vereinnahmt und kommerzialisiert.[23] Als politische Botschaft jedoch lief Black Power(14) im Kern auf den Bruch mit der weißen Gesellschaft und den Prinzipien der Rassenintegration und der Gewaltlosigkeit hinaus. SNCC und der Congress of Racial Equality (CORE)(3), in denen weiße Aktivisten lange eine wichtige Rolle gespielt hatten, schlossen ihre weißen Mitglieder aus, um die Dominanz gebildeter Weißer über arme Schwarze zu brechen. Weiße durften die Bewegung unterstützen, am besten durch antirassistische Agitation unter der weißen Bevölkerung, mussten sich aber schwarzer Führung unterordnen: »Wenn wir weiße Unterstützer brauchen, rufen wir euch!« Mit der Trennung vom weißen »Establishment« und der Abkehr vom Prinzip der Gewaltfreiheit brach allerdings auch das Spendenaufkommen von SNCC und CORE massiv ein, weil die großen philanthropischen Stiftungen nun lieber den gemäßigten Flügel der Bürgerrechtsbewegung unterstützten.[24]
Politische Zusammenarbeit mit weißen Liberalen kam auch für den pluralistischen Flügel der Black-Power-Bewegung nur dann in Frage, wenn sie aus einer Position der Autonomie und Stärke erfolgte. Deshalb mussten sich Afroamerikaner zunächst eine unabhängige Basis in rein schwarzen Organisationen schaffen. Wie dies gelingen konnte, wie »autonome« schwarze Institutionen in der Praxis funktionieren sollten, blieb meist offen. Der Rückzug ins Ghetto, das viele Black-Power-Aktivisten(15) als Ort schwarzer Selbstbestimmung sahen, werde, so warnte Roy Wilkins(5), das »schwarze Amerika für immer an die ärmsten und am wenigsten einflussreichen Sektoren unseres nationalen Lebens fesseln«.[25]
Die Mobilisierung der Ghettobevölkerung und der black working class bildete das strategische Herzstück der Black-Power-Bewegung(16). Ihr Feindbild war die angeblich vom Establishment korrumpierte schwarze Mittelklasse, repräsentiert vor allem von der NAACP(8), deren Führung man gerne als »Onkel Toms« schmähte und deren Methoden man als historisch »irrelevant« abtat. Martin Luther King(20) verspotteten die jungen Radikalen wegen seines Appells an die christliche Nächstenliebe. Das Attentat auf den Bürgerrechtler im April 1968 galt ihnen als endgültiger Beweis dafür, dass die Ideale von Integration und Gewaltlosigkeit gescheitert waren. »Dr. King war der letzte schwarze Führer, der noch versuchte, uns Liebe, Mitgefühl und Erbarmen mit den Weißen zu lehren«, erklärte Stokely Carmichael(3) in einer Pressekonferenz am Tag nach dem Mord. »Als das weiße Amerika gestern Nacht Dr. King ermordete, hat es uns den Krieg erklärt.« Jetzt müsse man sich Waffen besorgen, um Rache zu üben. Eldridge Cleaver(1), einer der Führer der paramilitärischen Black Panthers(3), prophezeite einen »Holocaust«: Kings(21) Blut werde Amerika rot färben.[26]
Dass Gewalt das Image der Black-Power-Bewegung(17) bestimmte, lag keineswegs allein an der Berichterstattung der Medien. Ihre Protagonisten spielten nur allzu bereitwillig die bösen Buben, die dem weißen Amerika mit martialischen Posen und der Drohung mit dem Guerillakrieg Furcht und Schrecken einflößten. Nur blieb es nicht bei militanter Rhetorik. Die Gewalt entfaltete ihre eigene, oft selbstzerstörerische Dynamik. Zum Inbegriff schwarzer Militanz avancierten die Black Panthers(4), die im Oktober 1966 in Oakland, Kalifornien, von Bobby Seale(1) und Huey Newton(1) gegründet wurden, zwei jungen schwarzen Studenten, die mit nonviolent direct action wenig anfangen konnten. Aus den Schriften des chinesischen Revolutionsführers Mao Zedong(1) und des karibischen Theoretikers des antikolonialen Widerstands, Frantz Fanon(1), hatten sie gelernt, dass Macht aus Gewehrläufen kommt und Gewalt das Lebenselixier der Revolution ist. Im Unterschied zum afrozentrischen Nationalismus anderer Black-Power-Gruppen(18) war das Selbstverständnis der Panther marxistisch(5) und internationalistisch. Sie sahen sich als Speerspitze im Kampf gegen Kolonialismus, Rassismus und Kapitalismus. Die »revolutionäre Gewalt des Volkes« war für sie die »einzige Antwort auf die Gewalt der herrschenden Klasse«. Den Namen Black Panther Party samt Emblem übernahmen Newton(2) und Seale(2) von einer Bürgerrechtsgruppe in Alabama. Das Zehn-Punkte-Programm, das sie der Partei gaben, proklamierte das Selbstbestimmungsrecht für die »schwarzen kolonialen Untertanen«, bestand aber überwiegend aus konkreten Forderungen wie menschenwürdige Wohnungen und faire Gerichtsverfahren für Amerikas schwarze Bürger und zitierte am Schluss sogar die Präambel der Unabhängigkeitserklärung von 1776.[27]
Vor Ort profilierten sich die Panther(5) zunächst als bewaffnete Selbstschutztruppe gegen die Gewalt und Willkür der Polizei in den Ghettos. Ihre aus schwarzen Baretten, Sonnenbrillen, Lederjacken und Rollkragenpullovern bestehende »Uniform« und die demonstrative Zurschaustellung von Pistolen und Gewehren machten sie besonders für junge schwarze Männer zu bewunderten Vorbildern. Bewaffnete Panther begannen, Polizeistreifen in den schwarzen Wohnvierteln zu »begleiten«, und zwangen die Beamten auf diese Weise tatsächlich zu größerer Zurückhaltung, was der Gruppe bei vielen Afroamerikanern Respekt eintrug. Ihr großer Auftritt, der sie im ganzen Land bekannt machte, kam im Mai 1967, als rund dreißig bewaffnete afroamerikanische Männer und Frauen in das kalifornische Parlamentsgebäude in Sacramento eindrangen, um gegen einen Gesetzentwurf zu protestieren, der das öffentliche Waffentragen verbieten sollte. Die Panther verlasen ein Protestmanifest, ließen sich aber von Sicherheitskräften ohne Widerstand abführen. Anschließend bildeten sich in zahlreichen Großstädten Ortsgruppen. Obwohl die Partei nie mehr als 5000 Mitglieder hatte, genoss sie in den späten 1960er-Jahren unter amerikanischen Linken enormes Prestige. Hollywood-Stars wie Jane Fonda(2) und Marlon Brando(2) spendeten Geld, um die Anwaltskosten inhaftierter Panther(6) zu bezahlen.[28]
Ihr Rückhalt unter der schwarzen Bevölkerung verdankte sich vor allem ihrer Sozialarbeit in den Ghettos, wo die Black Panthers(7) politische Bildung betrieben, medizinische Versorgung organisierten und kostenloses Frühstück an Kinder verteilten. Bei einem Teil der Mitgliedschaft beruhte die Hinwendung zu sozialen Aktivitäten auf der Einsicht, dass Revolution und bewaffneter Kampf selbstmörderisch und aussichtslos waren.[29] Denn die Konfrontation mit der Staatsmacht hatte die vorhersehbaren Folgen. Die Panther gerieten rasch ins Visier des FBI, dessen Direktor J. Edgar Hoover(2) unter dem Codenamen »Cointelpro« (counterintelligence program) einen geheimen illegalen Krieg gegen »subversive« Personen und Organisationen führte. Seit Mitte der 1960er-Jahre hatte die Unterwanderung und Diskreditierung »schwarzer Hassgruppen« für die Bundespolizei Priorität. Das FBI schürte innerhalb der Black-Power-Bewegung(19) ideologische Zwietracht, Misstrauen und Gewalt. Die zahlreichen tödlichen Auseinandersetzungen, die sich die Black Panthers mit rivalisierenden radikalen Gruppen lieferten, waren nicht selten das Werk von Agents Provocateurs. In einigen Städten eskalierten zwischen Polizei und den Panthern brutale Kleinkriege. Nachdem im November 1969 in Chicago bei Schießereien zwei Polizisten und ein Panther getötet worden waren, führte das FBI eine Razzia im Hauptquartier der Black Panther durch, bei der Fred Hampton(1), der einundzwanzigjährige Führer der Chicagoer Gruppe, nach glaubwürdigen Augenzeugenberichten regelrecht exekutiert wurde. Auch schwarze Bürgerrechtler, die den Radikalismus der Black Panthers(8) strikt ablehnten, verurteilten die Gewaltexzesse der Polizei. In den Wochen nach Hamptons Tod wurden in Chicago immer wieder Polizisten beschossen und Streifenwagen angezündet.[30]
Der Preis für ihre Konfrontationsbereitschaft war hoch. Anfang der 1970er-Jahre hatten Dutzende Panther(9) ihr Leben verloren, die Führungspersönlichkeiten saßen im Gefängnis, lebten im Untergrund oder waren ins Ausland geflohen. Hinzu kamen interner ideologischer Zwist und persönliche Rivalitäten, insbesondere zwischen Huey Newton(3) und dem »Chefideologen« Eldridge Cleaver(2), der am bewaffneten Kampf festhalten wollte. Machtkämpfe wurden nicht selten mit der Waffe ausgetragen, angebliche Spitzel und Verräter brutal liquidiert. Obwohl die Panther sich zur Gleichheit der Geschlechter bekannten, herrschte innerhalb der Organisation ein aggressiver Sexismus, der auch vor Gewalt gegen Frauen nicht zurückschreckte. Die Weiße Betty Van Patter, die für die Finanzen der Partei zuständig war, wurde ermordet aufgefunden, nachdem sie Huey Newton(4) Unregelmäßigkeiten vorgeworfen hatte.[31]
Viele Amerikaner sahen in den Black Panthers(10) nicht nur gefährliche Staatsfeinde, sondern auch ganz gewöhnliche Kriminelle, die Drogenhandel betrieben und Raubüberfälle begingen. Tatsächlich hatten die Panther keine Berührungsängste gegenüber den Ghettogangs, die sie als Teil des schwarzen »Lumpenproletariats« für die Revolution gewinnen wollten. Obwohl sich die Partei einen strengen Verhaltenscodex auferlegt hatte, der unter anderem Drogenkonsum verbot, ließen es viele Mitglieder an der geforderten Disziplin fehlen. Ende der 70er-Jahre war die Black Panther Party außerhalb von Oakland am Ende. Die offizielle Auflösung der Partei erfolgte 1982, als bekannt wurde, dass Huey Newton(5) Geld, das zur Finanzierung einer Schule gedacht war, veruntreut hatte. Doch trotz ihrer Gewaltverherrlichung, ihres ideologischen Dogmatismus und ihres ruhmlosen Endes lebte der Mythos der Black Panthers(11) fort. Für Veteranen und Bewunderer blieben sie »die bedeutendste revolutionäre Organisation in den Vereinigten Staaten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts«.[32]
Natürlich stellten weder die Black Panthers(12) noch die übrigen militanten Black-Power-Gruppen jemals eine ernsthafte Bedrohung für die nationale Sicherheit der USA dar, geschweige denn eine politische Kraft, die in der Lage gewesen wäre, einen revolutionären Umsturz herbeizuführen. Gleichwohl hatten sie erheblichen Einfluss auf die amerikanische Politik. Meinungsumfragen zufolge teilten Ende der 1960er-Jahre rund sechzig Prozent der afroamerikanischen Bevölkerung die Forderung nach Black Power(20). Die Hälfte glaubte, die Rassenunruhen seien nützlich gewesen, und ein Drittel hielt Gewalt auch künftig für nötig. 1963 waren nur knapp zwanzig Prozent der schwarzen Amerikanerinnen und Amerikaner der Meinung gewesen, die Weißen wollten sie grundsätzlich niederhalten, 1969 teilten fast fünfzig Prozent diese Ansicht.[33] Solche Einstellungen spiegelten allerdings weniger eine genuine Radikalisierung wider als die Desillusionierung über das Ausbleiben der erhofften schnellen Fortschritte in den Rassenbeziehungen. Unverändert sahen die schwarzen Wähler den liberalen Flügel der Demokratischen Partei als ihre politische Heimat und unterstützten bei den Präsidentschaftswahlen 1968 und 1972 erneut mit überwältigender Mehrheit die demokratischen Kandidaten.[34]
Demgegenüber kehrten weiße Wähler der Arbeiterklasse und der unteren Mittelschichten seit Mitte des Jahrzehnts der Demokratischen Partei in Scharen den Rücken. Bei den Kongresswahlen 1966 konnten die Demokraten ihre Mehrheit in beiden Kammern zwar verteidigen, verloren aber 47 Sitze im Repräsentantenhaus und drei im Senat, mehr als sie 1964 im Gefolge von Johnsons(56) Erdrutschsieg hinzugewonnen hatten. Im November 1968 büßte der demokratische Präsidentschaftskandidat, Vizepräsident Hubert Humphrey(3), fast zwölf Millionen Stimmen gegenüber LBJ ein und lag sogar drei Millionen Stimmen hinter John F. Kennedys(32) Ergebnis von 1960. Auch wenn Johnsons Triumph über den als Extremisten geltenden Barry Goldwater(3) günstigen Umständen geschuldet war, ließ sich kaum leugnen, dass der Wahlausgang vom November 1968 eine deutliche Absage an den Liberalismus bedeutete. Zwar gewann der Republikaner Richard Nixon(17) das Weiße Haus nur hauchdünn mit einer relativen Mehrheit von 43,5 Prozent, doch gleichzeitig erzielte der Rechtspopulist George Wallace(6) mit 13,5 Prozent das beste Ergebnis eines unabhängigen Präsidentschaftskandidaten seit 1924. Der Ex-Gouverneur von Alabama und geschworene Segregationist siegte erwartungsgemäß in fünf Staaten des tiefen Südens, aber noch wichtiger war, dass sein gutes Abschneiden bei »ethnischen« weißen Wählern des Nordens und Mittleren Westens einen Grundpfeiler aus der demokratischen Wahlkoalition brach und Nixon(18) zu relativen Mehrheiten in Staaten wie Illinois, Ohio und New Jersey verhalf. Immerhin hielten sich die demokratischen Verluste bei den Kongresswahlen in Grenzen, sodass die Partei weiterhin beide Kammern kontrollierte.[35]
Es wäre zu einfach, den Wahlausgang 1968 allein als Ausdruck des White Backlash(5) zu deuten. Die Enttäuschung über die verfahrene Lage in Vietnam fiel ebenso ins Gewicht wie das Entsetzen über die Morde an Martin Luther King(22) und Robert Kennedy(5), dem Hoffnungsträger der Linken, der am 5. Juni 1968 wegen seiner proisraelischen Haltung von einem palästinensischen Nationalisten erschossen wurde. Die chaotischen Szenen vom demokratischen Parteitag in Chicago Ende August demonstrierten vor der ganzen Nation die Zerrissenheit der Partei. Dass sich zahlreiche Wähler von einer Administration abwendeten, deren grandioses Versprechen einer Great Society offenkundig gescheitert war, konnte daher kaum überraschen. Dennoch ist unverkennbar, dass der Wahlausgang auch die Polarisierung in den Rassenbeziehungen widerspiegelte. Neun von zehn schwarzen Wählern, aber weniger als vierzig Prozent der weißen hatten für Humphrey(4) gestimmt. Von zehn Weißen, die vier Jahre zuvor LBJ gewählt hatten, wechselten 1968 drei zu Nixon(19) oder Wallace(7).[36]
Die Frage, welche Rolle der Rassenkonflikt für die Entfremdung eines bedeutenden Teils der demokratischen Stammwähler von ihrer Partei spielte, war und ist umstritten. Viele Zeitgenossen sahen darin eine unmittelbare Reaktion auf die Rassenunruhen und die Militanz der Black-Power-Bewegung(21). Die neuere Forschung argumentiert dagegen, dass es auch außerhalb des Südens niemals einen breiten liberalen Konsens in der Rassenfrage gegeben habe. Schon vor Beginn der Ghettorevolten regte sich in Großstädten wie Detroit und Chicago heftiger, teils gewalttätiger Widerstand gegen die Desegregation der Schulen und der Wohnviertel. Als Martin Luther King(23) im Sommer 1966 eine Protestkampagne in Chicago initiierte, um die de facto herrschende Segregation der Wohngebiete aufzubrechen, stieß er auf einen gewaltbereiten Hass, der dem in Selma, Alabama, nicht nachstand.[37] George Wallace(8), der bereits 1964 bei den demokratischen Vorwahlen in Indiana und Wisconsin über dreißig Prozent der Wähler hinter sich brachte, stellte zufrieden fest, dass auch im Norden viele Leute ähnlich über die Rassentrennung dachten wie er. Bei seinen Wahlkampfauftritten 1968 stieß seine Botschaft von den hart arbeitenden Amerikanerinnen und Amerikanern, die den Preis für eine verfehlte Bürgerrechts- und Sozialpolitik zugunsten lautstarker Minderheiten zahlen mussten, im Norden wie im Süden auf begeisterte Zustimmung.[38] Und Wallace war nicht der Einzige, der den White Backlash(6) anheizte. Konservative Republikaner wie der kalifornische Gouverneur Ronald Reagan(4) bliesen in dasselbe Horn wie der Populist aus Alabama. Richard Nixons(20) Appell an die »schweigende Mehrheit« der »vergessenen Amerikaner«, die »nicht schreien und demonstrieren«, gilt gemeinhin als geschickt getarnte Rhetorik, mit der er sich als seriöse Alternative für die vielen weißen Amerikaner präsentierte, die sich nach Gesetz und Ordnung sehnten, denen Wallace aber zu vulgär war. Auch wenn Nixon und Wallace(9) immer wieder beteuerten, weder sie selbst noch ihre Anhänger seien Rassisten, ließen sie keinen Zweifel daran, dass die Mehrheit, für die sie zu sprechen behaupteten, weiß war.[39]
Manche Historiker und Sozialwissenschaftler sehen im White Backlash(7) weniger eine Reaktion auf die Radikalisierung der schwarzen Protestbewegung als vielmehr eine Radikalisierung großer Teile der weißen Bevölkerung, die sich dagegen gesperrt hätten, dass nun statt unverbindlicher Bekenntnisse zu Toleranz reale Veränderungen in den Rassenbeziehungen auf der Tagesordnung standen. Die Soziologen Doug McAdam und Karina Kloos sprechen von einer »weißen Widerstandsbewegung gegen den afroamerikanischen Freiheitskampf sowohl in seiner traditionellen Bürgerrechts- als auch in seiner zunehmend als bedrohlich empfundenen Black-Power(22)-Variante«.[40] Dass es eine solche Bewegung gab, ist unstrittig. Dennoch wäre es zu einseitig, den Zerfall der New-Deal-Koalition(13) in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre auf verstockten Rassismus und geschickte Demagogie zu reduzieren. Bei näherem Hinsehen erscheinen die Wertvorstellungen, Motive und Interessen, die die Haltung der weißen Arbeiter- und Mittelschichten zur Rassenfrage bestimmten, komplexer, als es das polemische Schlagwort vom White Backlash(8) impliziert.[41]
Eine realistische Betrachtung kann nicht darüber hinwegsehen, dass die Gewalt in den Ghettos und die Militanz der Black-Power-Bewegung(23) zwangsläufig zu einer tiefen Verunsicherung der weißen Bevölkerung führen mussten. In der Wahrnehmung vieler Weißer waren die adretten jungen Frauen und Männer, die eben noch für amerikanische Ideale gestritten hatten, plötzlich zu Agitatoren mutiert, die wilde Drohungen gegen das eigene Land schleuderten. Dass sich das öffentliche Image des afroamerikanischen Bürgerrechtskampfes, das zu Anfang des Jahrzehnts vom Ethos der Gewaltlosigkeit geprägt gewesen war, vor dem Hintergrund brennender Innenstädte dramatisch wandelte, sollte ebenso wenig überraschen wie die »weiße Flucht« in die suburbs. Wer es sich leisten konnte, zog in die Vorstädte. Dies gilt ganz besonders für ethnische Gruppen, etwa polnische, jüdische oder italienische Einwanderer der ersten und zweiten Generation, deren Wohnviertel in Städten wie New York, Newark oder Chicago unmittelbar an die afroamerikanischen grenzten und die sich in den Jahren der Ghettounruhen vielerorts zu Bürgerwehren zusammenschlossen. In den 1970er-Jahren kam es auch in vielen Städten des Nordens zu massivem Widerstand gegen die busing(1) genannte Praxis, Schulkinder zum Zwecke der Rassenintegration an entfernte Schulen zu transportieren.[42]
Der Ruf nach »Law and Order«, den Wallace(10), Nixon(21) und viele andere Politiker beider großen Parteien ständig im Munde führten, war darüber hinaus eine Reaktion auf die rasant steigende Kriminalität, die vor allem Amerikas Großstädte immer mehr zu Orten machte, die man besser mied. Zunächst bemühten sich viele Liberale, die alarmierenden Zahlen herunterzuspielen, doch Ende der 1960er-Jahre konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, dass die Kriminalität geradezu explodiert war. Innerhalb von zehn Jahren verdoppelte sich die Inzidenz der Gewaltverbrechen von 161 auf 364 pro 100 000 Einwohner. Als Täter und als Opfer waren junge Schwarze in der Statistik stark überrepräsentiert. Eine von Präsident Johnson(58) eingesetzte Expertenkommission betonte zwar, dass die meisten Gewalttaten an Weißen auch von Weißen verübt wurden, doch gab es eine signifikante Ausnahme. Weiße wurden weit überproportional Opfer von Überfällen schwarzer Straßenräuber. In New York City zählte die Statistik 1962 noch 6600 Raubüberfälle, 1972 waren es 78 000! Die Furcht vor Straßenräubern mit schwarzer Hautfarbe, resümiert der Historiker Michael Flamm, sei neben den Ghettounruhen der wichtigste Grund dafür gewesen, dass viele Amerikaner sich von der liberalen Reformagenda abgewandt hätten. Als Richard Nixon(22) im Wahlkampf 1968 die Freiheit von Gewalt und Verbrechen zum »ersten Bürgerrecht« erklärte, durfte er auf breite Resonanz hoffen. In Meinungsumfragen stimmten achtzig Prozent der Befragten der Einschätzung zu, in den USA seien Recht und Ordnung praktisch zusammengebrochen.[43]
Die Liberalen nahmen das Sicherheitsbedürfnis der Bürgerinnen und Bürger durchaus ernst. Schon 1964 versicherte Präsident Johnson(59), der Krieg gegen die Armut sei auch »ein Krieg gegen das Verbrechen und gegen die Unordnung«. LBJ sah klar, dass die wachsende Furcht vor dem Verbrechen die politische Basis der Great Society untergrub, und versprach, das Problem durch eine Kombination aus gezielter Sozialpolitik und »schnellem, direktem Handeln gegen die Gesetzlosigkeit« zu lösen. Die von ihm berufenen Experten unterbreiteten im Februar 1967 nicht weniger als 200 konkrete Vorschläge, die vor allem auf Bildung und Jobs sowie eine Reform der Polizei und Justiz zielten, aber keine höheren Strafen vorsahen. Im Gegenteil, das Gremium sprach sich gegen Mindeststrafen für Drogenmissbrauch aus und empfahl eine Ausweitung der Bewährungsmöglichkeiten. Der Gesetzentwurf, den Johnson(60) auf der Grundlage des Expertenberichts ausarbeiten ließ, wurde jedoch vom Kongress so verwässert, dass die Bundesstaaten die zusätzlichen Bundesmittel vor allem für die Aufrüstung der Polizei einsetzen konnten. Die Forderung, Kriminelle endlich »hart anzufassen« – get tough on crime –, war zu einer der zugkräftigsten Parolen der Konservativen und zur Achillesferse der Liberalen geworden.[44]
Ökonomische Unsicherheit spielte dagegen für den White Backlash(9) in den 1960er-Jahren noch eine untergeordnete Rolle, auch wenn Maßnahmen zur Öffnung der Arbeitsmärkte bei gewerkschaftlich(5) organisierten Arbeitern Unmut erzeugten. Aber noch waren die Wachstumsraten hoch und die Arbeitslosigkeit niedrig. Inflation und Deindustrialisierung zeichneten sich zwar ab, schlugen aber erst im folgenden Jahrzehnt voll auf den Lebensstandard der weißen Arbeiter- und Mittelklasse durch.[45] In der gängigen Klage, dass (schwarze) Faulenzer und Randalierer vom Staat auf Kosten der hart arbeitenden und gesetzestreuen (weißen) Bürger gehätschelt würden, artikulierte sich weniger echte Ressourcenkonkurrenz als das meritokratische Selbstbild der Mehrheitsgesellschaft. Gerade Euroamerikaner mit Migrationshintergrund verwiesen mit Stolz auf ihre Eltern und Großeltern, die mit leeren Händen nach Amerika gekommen waren, sich aber durch harte Arbeit eine Existenz aufgebaut hatten. Wenn sich die Schwarzen nur anstrengen würden, so die verbreitete Meinung, könnten sie das auch schaffen. Dass europäische Immigranten in einer Einwanderungsgesellschaft bessere Startchancen hatten als die mit dem Erbe der Sklaverei und Rassentrennung belasteten Afroamerikaner, wollte man nicht gelten lassen. Der American Dream war farbenblind.[46]
Ende der 1960er-Jahre mochten sich weder »kleine Leute« noch Politiker offen zu Einstellungen bekennen, die inzwischen weithin als rassistisch diskreditiert waren. Selbst George Wallace(11) brüstete sich im Wahlkampf 1968 mit der Unterstützung, die er angeblich unter den schwarzen Wählern Alabamas genieße. Dass er seine Reden ansonsten mit rassistischen Anspielungen spickte, entging natürlich weder seinem Publikum noch seinen Kritikern. Das eigentliche Feindbild, das Wallace mit Lust kultivierte und das bei seinen Anhängern am besten ankam, waren jedoch die liberalen Eliten: »Eierköpfe im Elfenbeinturm« und »Pseudointellektuelle, die kein Fahrrad gerade abstellen können«; Washingtoner Bürokraten, deren Aktentaschen er in den Potomac River werfen wollte; Bundesrichter, die ständig der Polizei im Kampf gegen die Kriminalität in den Arm fielen; reiche Heuchler, die anderen Rassenintegration predigten, aber selbst in vornehmen Villenvierteln wohnten und ihre Kinder auf teure Privatschulen schickten. Wallace stand in der populistischen Tradition, die sich die Verteidigung der einfachen (weißen) Leute gegen korrupte und unpatriotische Eliten auf die Fahnen geschrieben hatte. Er war nicht nur ein Rassenhetzer, seine Popularität beruhte auch darauf, dass er »Klassenpolitik« gegen den liberalen Interventionsstaat und seine Eliten machte.[47]
Wenige Beobachter sahen diese Zusammenhänge klarer als der junge republikanische Stratege Kevin Phillips(1), der 1969 in einem vielbeachteten Buch eine »populistische Revolte der amerikanischen Massen […] gegen die Kaste der Mandarine des liberalen Establishments« diagnostizierte. Phillips erkannte, dass die Wahlen von 1968 den Zerfall der New-Deal-Koalition(14) ankündigten. Um sich dauerhaft eine Mehrheit zu sichern, empfahl er seiner Partei, konsequent auf die Wähler der suburbs und die »negrophoben Weißen des Südens« zu setzen. Schwarze Stimmen benötige die Partei Lincolns(6) künftig ebenso wenig wie die verbliebenen liberalen Republikaner des Nordostens. Wallace(12) werde für die von der wohlfahrtsstaatlichen Largesse und den sozialen Experimenten vergraulten weißen Demokraten nur eine Durchgangsstation auf dem Weg in eine breite konservative Wahlkoalition sein. In der Tat sollte die »Südstaatenstrategie« der Republikaner in den kommenden Jahren und Jahrzehnten reiche Früchte tragen.[48]
Die Polarisierung der Rassenbeziehungen in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre, die sich mit den Schlagworten Black Power(24) und White Backlash(10) verbindet, wurzelte vor allem in der Kollision ebenso unvereinbarer wie unrealistischer Erwartungen. Eine Mehrheit der weißen Amerikanerinnen und Amerikaner wünschte, wie die eingangs zitierte »Lady Bird« Johnson(2), nach der Abschaffung der institutionellen Rassentrennung ein Ende der Proteste und eine Verlangsamung des Reformtempos. Doch hatte die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung eine häufig als »Rights Revolution« bezeichnete Dynamik entfesselt, die nicht mehr zu stoppen war und seither die Gesellschaft und politische Kultur der USA fundamental geprägt hat.[49] Reale Fortschritte – und das von der Bürgerrechtsbewegung erkämpfte Ende des Jim-Crow-Systems(6) markiert unbestreitbar eine historische Zäsur! – tendieren in demokratischen Gesellschaften dazu, neue Forderungen nach noch schnelleren Fortschritten bei der Beseitigung der verbliebenen Ungerechtigkeiten hervorzurufen.
Dass die Revolutionsfantasien, in die sich Teile der Black-Power-Bewegung(25) hineinsteigerten, jeder realistischen Grundlage entbehrten, bedarf keiner näheren Begründung. Doch auch Hoffnungen auf einen raschen und durchgreifenden Bruch mit dem strukturellen wie dem alltäglichen Rassismus mussten zwangsläufig enttäuscht werden. Die Veränderung historisch gewachsener Mentalitäten und Praktiken ist keine Frage moralischer Läuterung, sondern ein Prozess des generationenübergreifenden Wertewandels. Offenbar sahen die meisten schwarzen Amerikanerinnen und Amerikaner die Rahmenbedingungen des Fortschritts durchaus realistisch und unterstützten den Übergang vom Protest zur Politik, der in den 1970er-Jahren insbesondere im Süden durchaus beachtliche Erfolge zeitigte.[50]
Genauso bedeutsam war freilich, dass sich viele Weiße, wie Kevin Phillips(2) es prognostiziert hatte, dauerhaft vom Liberalismus abkehrten und einem populistisch gewendeten Konservatismus eine lange Phase der Hegemonie in der US-Politik bescherten. Diese Entwicklung unter das Leitmotiv des White Backlash(11) zu stellen, wie es in der US-Geschichtsschreibung oft geschieht, ist gewiss nicht abwegig. Doch schwingen bei diesem Schlagwort immer auch moralische Vorhaltungen und Enttäuschung über die unerfüllten Hoffnungen der »Sixties-Generation« mit. Bei nüchterner Betrachtung jedoch erscheint der politische Gezeitenwechsel, den die Wahl von 1968 einleitete, als erwartbares, wenngleich turbulentes Ende eines politischen Zyklus, nachdem die New-Deal(15)-Demokraten mehr als dreißig Jahre lang fast ununterbrochen das Weiße Haus und den Kongress beherrscht hatten.[51] Und schließlich kann keine Rede davon sein, dass die Fortschritte und Errungenschaften der Bürgerrechtsära einer erfolgreichen Konterrevolution zum Opfer gefallen wären, wie dies nach dem Bürgerkrieg geschehen war, als es dem weißen Süden gelang, die Gleichberechtigung der ehemaligen Sklavenbevölkerung weitgehend rückgängig zu machen. Im Gegenteil, die »Kulturrevolution« der 1960er-Jahre legte den Grundstein dafür, dass die Rechte von Frauen und Minderheiten einen nie dagewesenen politischen und gesellschaftlichen Stellenwert erlangten.