6. Kapitel

Bring US Together: Richard Nixon und seine Feinde

Am 22. Oktober 1968 legte Richard Nixon(30) auf seiner Wahlkampftour durch die USA einen kurzen Stopp in der kleinen Ortschaft Deshler in Ohio ein. Während der republikanische Präsidentschaftskandidat seine Rede hielt, entdeckte einer seiner Begleiter in der Menge ein junges Mädchen, das ein Schild mit der Aufschrift »Bring US Together!« hielt. Auf Anraten seines Redenschreibers baute Nixon das Versprechen, das amerikanische Volk wieder zusammenzuführen, in seine Wahlkampfauftritte ein und wiederholte es auch in der Ansprache in der Wahlnacht, als sein knapper Sieg feststand. Seine Administration werde auch für ihre Kritiker offen sein, versicherte der designierte Präsident, sie werde die Gräben zwischen den Generationen und den Rassen überbrücken und das amerikanische Volk einen. Bei der Parade zu Nixons Amtseinführung am 20. Januar 1969 trug Vicki Cole, das Mädchen aus Deshler, eine Replik des Plakats.[1]

Dass ausgerechnet Richard Nixon(31) den tiefen Riss, der die amerikanische Gesellschaft entzweite, würde kitten können, erschien bereits seinen zeitgenössischen Kritikern völlig absurd. Von Linken und Liberalen schlugen dem Republikaner, der sich zu Beginn seiner politischen Karriere einen Namen als Kommunistenjäger gemacht hatte und dabei auch vor der Verleumdung politischer Rivalen nicht zurückgeschreckt war, Misstrauen und Feindseligkeit entgegen. Die Enthüllungen im Zusammenhang mit der Watergate-Affäre(6), die Amerika während seiner zweiten Amtszeit in eine Verfassungskrise stürzte und das Vertrauen der Amerikanerinnen und Amerikaner in die Integrität der politischen Elite nachhaltig erschütterte, bestätigten die schlimmsten Befürchtungen über »Tricky Dick«, den gerissenen Richard, dem jede Schurkerei zuzutrauen war.[2]

Watergate(7) hat Nixons(32) Bild in der Geschichtsschreibung geprägt. Zwei Jahre nach seinem Tod im April 1994 kürte ihn die US-Historikerzunft bei einer Umfrage zum schlechtesten Präsidenten der amerikanischen Geschichte. Die Kritiker können sich auf umfangreiche Tonbandaufzeichnungen aus dem Weißen Haus stützen, die seit 1971 von allen Unterredungen des Präsidenten angefertigt und seit dem Sommer 1974 nach und nach der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Die Gespräche, die der Präsident mit seinen engsten Beratern führte, lassen ihn als skrupellosen, kriminellen Machtpolitiker und vulgären Zyniker erscheinen, der, getrieben von Größen- und Verfolgungswahn, ständig neue Pläne ausheckte, um Gegner zu diskreditieren, Zwietracht zu säen und das amerikanische Volk zu belügen. Andererseits bescheinigen ihm auch kritische Historikerinnen und Historiker, er habe im Wesentlichen die Politik des liberalen Konsenses fortgesetzt. Erst durch seinen Rücktritt im August 1974 sei in der Grand Old Party der Weg für die Laissez-faire-Ideologen und religiösen Fundamentalisten frei geworden. Ohne Nixons(33) Schmach, so Sean Wilentz in seinem Werk über das Zeitalter Ronald Reagans(7), wäre dieser wohl nie Präsident geworden.[3]

Im Unterschied zum telegenen Ex-Schauspieler Reagan(8), der sich Mitte der 1960er-Jahre als Hoffnungsträger der Konservativen profilierte, fehlten Nixon(34) Charme und Charisma. Nicht einmal seine Parteifreunde fanden den verschlossenen, reizbaren und ehrgeizigen Mann sympathisch; konservative wie liberale Republikaner misstrauten ihm gleichermaßen. Aber im turbulenten Wahljahr 1968 war seine Zeit endlich gekommen. Weder der kalifornische Gouverneur Reagan noch dessen New Yorker Amtskollege Nelson Rockefeller(2) konnten dem früheren Vizepräsidenten die Nominierung der Republikanischen Partei streitig machen, die sich nach dem Goldwater-Debakel(12) einen Wahlkämpfer wünschte, der Erfahrung und Mäßigung ausstrahlte. Nixons(35) Bemühen, sich als Mann der Mitte zu präsentieren, blieb nicht ohne Resonanz. Der einflussreiche Journalist Walter Lippmann(1) wollte einen »neuen Nixon« erkennen, der »reifer und milder« geworden sei und das rücksichtslose Machtstreben früherer Jahre hinter sich gelassen habe. Der Kandidat selbst war sich freilich darüber im Klaren, dass sich die Wähler weniger für seine vermeintlich gewandelte Persönlichkeit als für seine Botschaft erwärmten. Gegenüber einem Mitarbeiter bemerkte er: »Es geht nur um Gesetz und Ordnung und um die verdammten Neger […] da draußen.« Nixon mochte ein »Washington Insider« ohne feste ideologische Überzeugungen sein, doch als Stimme der »einfachen Leute« besaß der aus bescheidenen Verhältnissen stammende Aufsteiger – seine Eltern hatten im ländlichen Südkalifornien ein kleines Lebensmittelgeschäft betrieben – durchaus Glaubwürdigkeit. Wie große Teile seiner Basis fühlte sich Nixon(36) von der liberalen Elite, die in Politik, Medien und Kultur den Ton angab, verachtet. Wenn ihn linke Intellektuelle dämonisierten, konnte ihm dies politisch eigentlich nur recht sein, es befeuerte aber seine selbstzerstörerische Obsession, sich mit allen Mitteln an seinen »Feinden« rächen zu müssen.[4]

Der »letzte Liberale«

Richard Nixon(37) polarisierte. Die Frage, ob man für oder gegen ihn war, so der Historiker Rick Perlstein, habe die politische Lagergrenze definiert, die das Land bis ins 21. Jahrhundert spalte; Amerika sei immer »Nixonland« geblieben.[5] Die Spaltung der Gesellschaft, die Nixon bei seinem Amtsantritt vorfand und die er zu überwinden versprach, war allerdings nicht ihm anzulasten. Für die Eskalation des Vietnamkrieges(60) trugen die Kennedy(34)- und Johnson(62)-Administrationen die Verantwortung. Die innen- und außenpolitischen Folgen des Krieges stellten die schwerste Bürde der neuen Regierung dar, aber auch sonst trat Nixon kein leichtes Erbe an. Amerikas Innenstädte glichen Schlachtfeldern, die Rassenbeziehungen befanden sich auf einem Tiefpunkt, die USA waren nicht mehr die unangefochtene Weltmacht, und der wirtschaftliche Boom der Nachkriegszeit neigte sich erkennbar dem Ende zu. In der Wahlnacht 1968 bemerkte der Wahlsieger, an die Adresse seines knapp unterlegenen Gegenkandidaten Hubert Humphrey(5) gerichtet, er wisse seit seiner ersten Kandidatur um das Präsidentenamt acht Jahre zuvor, wie sich eine hauchdünne Niederlage anfühle, und fügte schmunzelnd hinzu: »Winning is a lot more fun!« Darüber, dass das Regieren in den späten 60er-Jahren deutlich weniger Spaß machen würde als zu Beginn des Jahrzehnts, dürfte sich Nixon(38) indessen kaum Illusionen gemacht haben.[6] Immerhin wurde der Beginn seiner Präsidentschaft vom Glanz der ersten Mondlandung bestrahlt, mit der die US-Astronauten Neil Armstrong(1) und Edwin Aldrin(1) am 21. Juli 1969 Geschichte schrieben. Einmal mehr bewies Amerika der Welt und sich selbst, dass sein Pioniergeist ungebrochen und seine wissenschaftlich-technologische Spitzenstellung unerreicht waren. Das Apollo-Raumfahrtprogramm, das die Mondlandung ermöglicht hatte, ging auf die Initiative John F. Kennedys(35) zurück und war von Lyndon Johnson(63) trotz der gigantischen Kosten, die sich auf 25 bis 35 Milliarden Dollar beliefen, vorangetrieben worden. Die Mond-Mission war ein nationales Prestigeprojekt in der Systemkonkurrenz des Kalten Krieges, das auf breite überparteiliche Unterstützung zählen konnte. Dass es zugleich die ökonomische Rolle des Staates weiter stärkte, übersahen die konservativen Kritiker des big government deshalb großzügig.[7]

Nixon(39) hatte vor seinem Amtsantritt versprochen, den Einfluss der Bundesregierung einzuschränken, doch wer deshalb auf eine Politik im Geiste des staatsskeptischen Konservatismus gehofft hatte, sah sich bald enttäuscht. Zwar wurden unter dem Banner des »Neuen Föderalismus« Kompetenzen und Finanzmittel an die Einzelstaaten zurückgegeben, doch von einer Einschränkung der Bundesexekutive konnte keine Rede sein. So schuf die Nixon-Administration zwei neue Bundesbehörden für Arbeits- bzw. Umweltschutz, stärkte die Rechte der Konsumenten und ließ den Wohlfahrtsstaat unangetastet. Sie legte sogar einen Plan zur Reform der Sozialhilfe mit garantiertem Mindesteinkommen für Familien vor, der allerdings im Kongress versandete. Dennoch lagen die Sozialausgaben des Bundes am Ende von Nixons(40) Amtszeit um sechzig Prozent höher als vor seinem Amtsantritt. Einige Historiker haben nicht nur die Kontinuität zum New-Deal-Liberalismus(18) und zur Great Society betont, sondern sprechen sogar von einer verpassten Chance, den Wohlfahrtsstaat so zu ordnen, dass er sowohl für die »schweigende Mehrheit« akzeptabel blieb als auch benachteiligten Minderheiten effektive Hilfe zur Selbsthilfe leistete.[8]

Auch Nixons(41) Bürgerrechtspolitik entsprach nicht dem Klischee vom rassistischen Backlash. Gewiss wusste der Präsident, was viele seiner weißen Wähler von ihm erwarteten. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit nominierte er zwei erzkonservative Südstaatler für den Obersten Gerichtshof(9), scheiterte damit jedoch am Widerstand des Senats. Der Präsident machte auch keinen Hehl aus seiner Ablehnung des busing(2), also der Praxis, Schulkinder zum Zwecke der Rassenintegration in entfernte Schulbezirke zu transportieren. Gleichwohl sank während seiner Amtszeit der Anteil schwarzer Schulkinder im Süden, die eine segregierte Schule besuchten, von 68 auf acht Prozent. Das Budget der Bürgerrechtsabteilung im Justizministerium wuchs um 800 Prozent, und die Zahl von Afroamerikanern in Leitungspositionen der Bundesbehörden stieg um 37 Prozent. Darüber hinaus führte die Nixon-Administration erstmals eine verbindliche Regelung zur Förderung von Minderheiten und Frauen im öffentlichen Sektor und bei der Vergabe von Staatsaufträgen ein. Dass er mit diesen Vorschriften Konflikte zwischen Gewerkschaften(9) und Bürgerrechtsorganisationen schürte, wird Nixon(42) kaum gestört haben. Der Präsident war in der Rassenfrage gewiss nicht »ultraliberal«, wie er selbst behauptete, aber auch kein »Feind der Schwarzen«, wie es ihm die Führung der NAACP(10) vorwarf. Er war ein Pragmatiker, der die Desegregation ohne viel Aufsehen und vor allem ohne Demütigung des Südens voranbringen wollte. »Wir machen, was das Gesetz und die Gerichte verlangen«, so charakterisierte sein Redenschreiber William Safire(1) Nixons Bürgerrechtspolitik, »aber es darf nicht wie Appomatox aussehen«, also nicht wie eine Kapitulation des Südens, vergleichbar mit der am Ende des Bürgerkrieges im April 1865. Mit dieser Haltung stand der Präsident(43) durchaus in der Kontinuität zum liberalen Konsens, auch wenn Kritiker die Kontinuitäten zur vorangegangenen Reformperiode zu einem Gutteil dem demokratisch beherrschten Kongress zurechnen.[9]

Nixons(44) Ruf, er sei der »letzte Liberale« unter den republikanischen Präsidenten gewesen, verdankt sich vor allem der rückschauenden Betrachtung. Im Vergleich zu Reagan(9), konzedierte ein Bürgerrechtler Ende der 1980er-Jahre, sehe Nixons Bilanz gar nicht so schlecht aus. Zwanzig Jahre früher hätte ihn freilich niemand für einen Liberalen gehalten. Der Präsident selbst bekannte sich als Konservativer. Aber er unternahm, sehr zum Verdruss der konservativen Bewegung um Barry Goldwater(13) und William Buckley(6), auch keinerlei Anstrengungen, die Great Society und die gesellschaftliche Liberalisierung der Sixties rückgängig zu machen.[10] Zudem musste er auf die demokratische Kongressmehrheit Rücksicht nehmen. Anfang der 1970er-Jahre funktionierte das divided government, also die unterschiedliche parteipolitische Kontrolle über Exekutive und Legislative, noch passabel, weil Republikaner und Demokraten ideologisch und kulturell noch nicht in dem Maße in feindliche Lager gespalten waren, wie dies heute der Fall ist. Vor allem aber spiegelte Nixons(45) »Liberalismus« sein eher begrenztes Interesse an der Innen- und Gesellschaftspolitik wider. Der Präsident verstand sich in erster Linie als Außenpolitiker, und in der Tat stellte ihn die internationale Lage bei seinem Amtsantritt vor riesige Herausforderungen.

Détente

Die größte war zweifellos der Vietnamkrieg(61). Von der Vietnampolitik der Nixon(46)-Administration war bereits die Rede. Gleich, wie man sie politisch und moralisch bewertet, das Versprechen, durch eine Kombination aus militärischem Druck und Diplomatie einen »ehrenvollen Frieden« zu erreichen, war in der amerikanischen Öffentlichkeit und unter der Wählerschaft ebenso populär wie die »Vietnamisierung« der Kriegsführung und der Abzug der US-Truppen. Mit seiner triumphalen Wiederwahl am 7. November hatte Nixon sein wichtigstes politisches Etappenziel erreicht. Er war nicht, wie sein Vorgänger, am Vietnamkrieg gescheitert. Überwältigende achtzig Prozent der Amerikaner begrüßten das Waffenstillstandsabkommen vom Januar 1973 und knapp sechzig Prozent hielten es sogar für einen »ehrenvollen Frieden«. Zwar glaubte eine ähnlich große Mehrheit nicht daran, dass sich Saigon lange gegen den kommunistischen Norden werde halten können, aber das Schicksal Südvietnams interessierte nur noch am Rande. Was zählte, war, dass die Truppen und die Kriegsgefangenen heimkehrten. Linke und liberale Kriegsgegner, die seit langem den sofortigen Abzug aus Vietnam gefordert hatten, mochten den Präsidenten für die Verlängerung des Krieges(62) verantwortlich machen, aber sie konnten Nixon(47) schwerlich Verrat an den Verbündeten vorwerfen.[11]

Auch die Öffnung gegenüber der kommunistischen Welt, die mit den Staatsbesuchen in der Volksrepublik China(6) und der Sowjetunion(10) im ersten Halbjahr 1972 ihre spektakulären Höhepunkte erreichte, war für Nixon zunächst eine politische Erfolgsstrategie. Bei seinem Treffen mit Mao Zedong(3) im Februar 1972 hielt sich der US-Präsident(48) nicht ganz zu Unrecht zugute, nur ein »Rechter« wie er sei in der Lage, Dinge zu tun, über die Linke nur reden könnten. Als Nixon Anfang Juni mit den Abkommen über die Begrenzung von strategischen Atomwaffen (SALT I(1)) und Raketenabwehrsystemen (ABM) im Gepäck aus Moskau heimkehrte, stiegen seine Zustimmungswerte auf über sechzig Prozent. Der Präsident stand im Zenit seines nationalen wie internationalen Ansehens. Dass der US-Senat, in dem die Demokraten über die Mehrheit verfügten, die Rüstungskontrollabkommen nahezu einstimmig ratifizierte, spiegelte den überparteilichen Konsens, auf den Nixon seine Entspannungspolitik, die Détente, zunächst stützen konnte.[12]

Die von Nixon(49) und seinem Sicherheitsberater Henry Kissinger(4) zwar nicht erfundene, aber doch maßgeblich geprägte Politik der Détente war die wichtigste strategische Neuorientierung der US-Außenpolitik seit Beginn des Kalten Krieges. Sie basierte auf der »realpolitischen« Einsicht in die Grenzen der amerikanischen Macht und in die Notwendigkeit eines Ausgleichs mit der Sowjetunion(11). Ihre Architekten profitierten dabei vom politisch-ideologischen Zerwürfnis zwischen Moskau und Peking, das Washington neuen Handlungsspielraum eröffnete. Die Reisen in die Volksrepublik China(7) und in die Sowjetunion signalisierten der Welt und dem amerikanischen Volk, dass die USA die weltpolitische Initiative zurückgewonnen hatten und ihr Präsident die Fäden der Diplomatie in der Hand hielt. Die Formel von der neuen »Struktur des Friedens«, die Nixon(50) bei seinem Amtsantritt geprägt hatte, konnte allerdings nicht verdecken, dass es bei der Détente nicht um die Überwindung des Kalten Krieges, sondern um die Stabilisierung des Mächtegleichgewichts in einer Welt voller Krisen und Konflikte ging.[13]

Dass Nixon(51) bereit war, die Sowjetunion(12) als politisch und militärisch gleichrangige Macht zu behandeln, empörte traditionelle Antikommunisten(16), denen dies als Verrat an Amerikas moralischen Prinzipien und an den unterdrückten Völkern des Ostblocks erschien. Doch der Vorwurf, die Entspannungspolitik habe die Freiheit zugunsten der Stabilität geopfert, hat nicht nur das konservative Geschichtsbild geprägt. So hat der Historiker Jeremi Suri die These vertreten, die Détente habe nicht allein auf die Konsolidierung der internationalen Ordnung abgezielt, sondern müsse darüber hinaus als Versuch der politischen Führer auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs verstanden werden, ihre von Unruhen und Protest erschütterten Gesellschaften zu befrieden. Den Wunsch nach innerer Stabilität habe Richard Nixon(52) mit Willy Brandt(1), Leonid Breschnew(1) und sogar mit Mao Zedong(4) geteilt, nachdem diesem die Geister der Kulturrevolution, die er selbst gerufen hatte, unheimlich geworden seien. Im Kern sei die Détente eine konservative Reaktion auf den sozialen Protest der 1960er-Jahre gewesen, die den Kalten Krieg im Namen von Frieden und Stabilität verlängert, sozialen Fortschritt blockiert und zur politischen Entfremdung weiter Teile der Bevölkerung in Ost und West geführt habe.[14]

Doch war die Détente wirklich eine Politik der »Stabilität ohne Konsens«, wie Suri behauptet? Blickt man auf die Wahlergebnisse ihrer führenden Protagonisten in den frühen 1970er-Jahren, drängt sich eher der Eindruck auf, dass Stabilität und der Abbau von Spannungen im Ost-West-Konflikt bei den Bürgerinnen und Bürgern der westlichen Nationen ziemlich populär waren. So verdankte die sozialliberale Regierung Brandt/Scheel(2) ihren Erfolg bei den Wahlen zum deutschen Bundestag im November 1972 vor allem der großen Zustimmung zu ihrer Ostpolitik. Auch Richard Nixons(53) Triumph im selben Monat – mit 61 Prozent der abgegebenen Stimmen errang er den bis dahin höchsten Wahlsieg eines republikanischen Präsidentschaftskandidaten – muss als Anerkennung seiner sorgfältig inszenierten außenpolitischen Erfolge gewertet werden. Umfragen zufolge hielt die große Mehrheit der Amerikaner den amtierenden Präsidenten für den richtigen Mann, um mit Sowjets(13) und Chinesen(8) zu verhandeln. Während des Wahlkampfs befand die New York Times(1), in der Außenpolitik sei Nixon(54) »unschlagbar«.[15]

Der Konsens über die Détente erwies sich indessen als kurzlebig. Denn rasch wurde klar, dass der Kalte Krieg weiterging und regionale Konflikte jederzeit zur Konfrontation der Supermächte eskalieren konnten, wie dies während des Jom-Kippur-Krieges(1) zwischen Israel und den arabischen Staaten im Oktober 1973 drohte. Die US-Regierung wurde von der ägyptischen und syrischen Offensive völlig überrascht und war zudem durch die Zuspitzung der Watergate-Krise(8) abgelenkt. Die Rückschläge für die Israelis zwangen Washington zu massiven Waffenlieferungen und diplomatischen Initiativen. Die Sowjets(14), die eine Niederlage der Araber nicht hinnehmen wollten, drohten mit direktem Eingreifen. Die US-Nuklearstreitkräfte wurden in Alarmbereitschaft versetzt, während sich Kissinger(5), inzwischen US-Außenminister, um einen Waffenstillstand bemühte, der schließlich am 24. Oktober 1973 in Kraft trat. Seit der Kuba-Krise hatte es keine derart gefährliche Situation mehr gegeben.[16]

Zudem gewannen Kräfte an Einfluss, die in der Entspannungspolitik ein Risiko für die nationale Sicherheit sahen und den Kalten Krieg ideologisch und politisch wieder offensiv führen wollten. Wortführer dieser Falken im Senat war der Demokrat Henry M. Jackson(1) aus dem Staat Washington, einem Zentrum der US-Rüstungsindustrie. Da der SALT-I-Vertrag(2) den Sowjets numerische Überlegenheit zubilligte, hatte Jackson bei der Ratifizierung einen Zusatz durchgesetzt, der dies für die Zukunft ausschließen sollte. Darüber hinaus fand der Senator im Kongress breite Unterstützung für seine Forderung, Erleichterungen im Handel mit der Sowjetunion(15) an deren Bereitschaft zu binden, sowjetischen Juden die Ausreise nach Israel zu erlauben. Abgesehen von wahltaktischen Motiven – Jackson(2) strebte die Kandidatur um das Präsidentenamt an – artikulierten dessen Attacken auf die Détente auch das grundsätzliche Unbehagen an einer »Realpolitik«, die anscheinend bereit war, den Kommunismus dauerhaft als legitime Kraft der internationalen Politik zu akzeptieren.[17]

Dass Nixon(55) aus seinen internationalen Erfolgen nur vorübergehend Kapital schlagen konnte, lag auch daran, wie er und Kissinger(6) Außenpolitik betrieben. Kühle Realpolitik und Geheimdiplomatie, die möglichst gegen lästige Kontrollen durch die Öffentlichkeit und den Kongress abgeschottet werden sollte, passten weder zu den Traditionen der USA noch zum innenpolitischen Klima der Vietnam-Ära. So pochte der Kongress mit dem 1973 gegen Nixons Veto verabschiedeten War Powers Act(2) wieder stärker auf sein verfassungsmäßiges Recht zur Kriegserklärung und beschränkte die Kompetenz des Präsidenten(56) zum eigenmächtigen Einsatz militärischer Gewalt.[18] Vor allem aber hatte sich die US-Innenpolitik noch nie nach dem »Primat der Außenpolitik« gerichtet. Das Klischee, dem zufolge sich die meisten Amerikanerinnen und Amerikaner kaum für Außenpolitik interessieren und wenig über die Welt außerhalb der USA wissen, mag übertrieben sein, falsch ist es nicht. Anfang der 1970er-Jahre jedenfalls plagten die Amerikaner wirtschaftliche Sorgen, die auch die eindrucksvollen Bilder, die Nixon auf der Chinesischen Mauer und im Kreml zeigten, nicht vergessen machen konnten.

Ölpreisschock und Stagflation(1)

Richard Nixon(57) übernahm die Präsidentschaft zu einem Zeitpunkt, als sich das goldene Zeitalter ökonomischer Stabilität dem Ende zuneigte. In der Rückschau ist offenkundig, dass die ökonomischen Probleme und Verwerfungen der 1970er-Jahre den »Schock der Globalisierung« widerspiegelten, der die USA besonders hart traf.[19] Die nach dem Zweiten Weltkrieg dominante Weltwirtschaftsmacht hatte insbesondere gegenüber Japan und Westdeutschland kontinuierlich an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt, doch wegen des überbewerteten Dollars blieben die Importe lange Zeit noch billig. Allerdings machte sich die Geldentwertung immer stärker bemerkbar. Zwischen 1965 und 1970 stieg die jährliche Inflationsrate von 1,6 Prozent auf 5,8 Prozent. Die hohen Ausgaben für den Vietnamkrieg(63), das kostspielige Raumfahrtprogramm und die Great Society hatten zwar das Wachstum angekurbelt, doch zugleich die Geldmenge und die Preise in die Höhe getrieben. Dank der Hochkonjunktur und kräftigen Lohnsteigerungen hielten die Einkommen noch Schritt, doch wuchs die Sorge, dass die Inflation außer Kontrolle geraten könnte. Hinzu kam der internationale Vertrauensverlust in den Dollar als Leitwährung. Das System fester, an die Goldreserven der US-Bundesbank gebundener Wechselkurse, das seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges dem Welthandel ein stabiles Fundament gegeben hatte, geriet unter Druck. Wirtschaftstheoretisch gesehen, ließ sich die Inflation durch Kürzung der Staatsausgaben sowie durch höhere Steuern und Zinsen bekämpfen, doch damit war das Risiko einer Rezession mit steigender Arbeitslosigkeit verbunden. Nicht zuletzt mit Blick auf den fragilen gesellschaftlichen Frieden genoss das Ziel der Vollbeschäftigung Priorität. Zudem waren Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen im Kongress kaum durchsetzbar und Gift für die Wiederwahlchancen des Präsidenten.[20]

Im Wahlkampf hatte Richard Nixon(58) versprochen, den Interventionsstaat zurückzudrängen. Als Präsident bekannte er sich dagegen nicht nur als Keynesianer(5), sondern nahm die drastischsten Eingriffe in die Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg vor. Nixons wirtschafts- und finanzpolitischer Zickzackkurs musste selbst wohlwollende Beobachter befremden. Zunächst bemühte sich die Nixon-Administration, wie versprochen, um Verminderung der Staatsausgaben. Nachdem die Republikaner bei den Kongresswahlen im November 1970 herbe Verluste erlitten hatten, schwenkte der Präsident jedoch auf massives deficit spending um und drängte die Bundesbank zu einer Politik des billigen Geldes. Im August 1971 verhängte Nixon einen zunächst auf neunzig Tage befristeten Lohn- und Preisstopp sowie eine zehnprozentige Importabgabe. Gleichzeitig kündigte er ohne jede Absprache mit Amerikas wichtigsten Handelspartnern die Zusage auf, Dollars in Gold einzulösen, und gab damit den Wechselkurs der US-Währung frei. Höhere Zölle und die Abwertung des Dollars sollten die Importe drosseln und amerikanische Exporte erleichtern, um die erstmals im 20. Jahrhundert defizitäre Handelsbilanz auszugleichen. Durch Lohn- und Preiskontrollen hoffte Nixon(59), die Inflation einzudämmen, ohne die Konjunktur abzuwürgen. Kurzfristig schien das Kalkül aufzugehen. Obwohl die Wirtschaft im Wahljahr 1972 brummte, sank die Inflation auf einen Wert von knapp über drei Prozent – beste Voraussetzungen für eine erfolgreiche Wiederwahl, doch Experten warnten, die gewaltigen wirtschaftlichen Probleme seien nur aufgeschoben.[21]

Der Vorwurf, Nixon(60) habe seine wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen vor allem an wahltaktischer Opportunität ausgerichtet, ist ebenso zutreffend wie wohlfeil. Auch Nixons Kritiker räumen ein, dass der Kongress mit seiner demokratischen Mehrheit die Politik des Präsidenten mittrug. Schon 1970 hatte die Volksvertretung Lohn- und Preisstopps autorisiert, und die Demokraten drängten darauf, dass diese endlich zur Anwendung kamen. Der handelspolitische Protektionismus, der sich in den Zollerhöhungen und der Freigabe des Dollarkurses manifestierte, war bei den Demokraten und den Gewerkschaften(10) ebenso populär wie eine lockere Geldpolitik. Vermutlich, so der Historiker Allen Matusow, spielte es für den Zustand der amerikanischen Wirtschaft Mitte der 1970er-Jahre gar keine Rolle, wer im Weißen Haus das Sagen hatte. Sowohl Politikern wie Ökonomen fehlten die Antworten auf die neuen weltwirtschaftlichen Herausforderungen. Die konventionellen Steuerungsinstrumente der Fiskal- und Geldpolitik zeigten nur noch geringe Wirkung, und die theoretischen Annahmen der Volkswirtschaftslehre erlaubten keine belastbaren Prognosen mehr. Wer vorausgesagt hätte, »was tatsächlich in den 1970ern passierte«, bemerkte ein für die Nixon(61)-Administration tätiger Ökonom rückblickend, wäre vermutlich im »Irrenhaus« gelandet.[22]

Vor allem rechneten weder Ökonomen noch führende Politiker damit, dass die arabischen Staaten Öl als Waffe einsetzen würden, um den Westen zur Änderung seiner proisraelischen Politik zu zwingen. Während des Jom-Kippur-Krieges(2) beschlossen die arabischen Mitglieder der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) zunächst kräftige Preissteigerungen und Produktionskürzungen und schließlich ein totales Embargo gegen die USA und mehrere ihrer Alliierten, darunter die Niederlande, über die ein Großteil des Öls für Westeuropa eingeführt wurde. Während des Lieferstopps zwischen Oktober 1973 und März 1974 vervierfachte sich der Preis für Rohöl. Der »Ölpreisschock« machte den Amerikanern auf schmerzhafte Weise klar, wie sehr sich ihr hoher Lebensstandard auf den Zugang zu billiger Energie gründete und wie abhängig sie von Importen geworden waren. Bis 1970 waren die USA noch Nettoselbstversorger gewesen. Während der folgenden drei Jahre verdoppelten sich dann die Ölimporte und machten 1973 bereits 36 Prozent des Gesamtverbrauchs aus. Mitte 1973 zeichneten sich sogar erste Versorgungsengpässe ab. Doch weil die Öffentlichkeit lange kaum Notiz von den Veränderungen genommen und die Nixon(62)-Administration eine konzertierte Aktion der arabischen Staaten für unwahrscheinlich gehalten hatte, traf das Ölembargo die USA gänzlich unvorbereitet. Es erschien geradezu als »energiepolitisches Pearl Harbor«, auf das die »Panik an der Zapfsäule« folgte. Vor Tankstellen bildeten sich lange Schlangen, Autofahrer hamsterten Benzin. Wütende Lastwagenfahrer blockierten die Autobahnen, um gegen hohe Preise und das vom Kongress beschlossene Tempolimit von 55 Meilen pro Stunde (knapp 90 km/h) zu protestieren. Das Weiße Haus und der Kongress riefen zum Energiesparen auf, setzten aber vor allem auf umfassende Regulierung der Preise und Distributionswege. So gründete die Administration eine neue Bundesbehörde für Energiesicherheit und legte Lieferquoten fest, um die landesweite Versorgung zu sichern. Die großen Ölkonzerne, denen die Öffentlichkeit unterstellte, die eigentlichen Nutznießer der Krise zu sein, mussten Öl zu festen Preisen an kleinere Raffinerien abgeben. Washington verordnete zahlreiche Sparmaßnahmen – öffentliche Gebäude durften nur noch bis maximal zwanzig Grad Celsius geheizt werden –, schreckte aber vor einer allgemeinen Rationierung von Kraftstoffen und Heizöl zurück. Der Präsident(63) verkündete ein »Project Independence«, das Amerika bis 1980 in seiner Energieversorgung autark machen sollte. Als das Embargo Mitte März 1974 auf Druck Saudi-Arabiens, das kein Interesse an einem Bruch mit den USA hatte, beendet wurde, entspannte sich die Versorgungslage, doch die hohen Preise blieben.[23]

Die ökonomischen Folgen der Energiekrise waren heftig. Die Inflation, die bereits seit Anfang 1973 wieder stark angezogen hatte, kletterte 1974 auf über zwölf Prozent. Dadurch, dass er den westlichen Volkswirtschaften massiv Kaufkraft entzog, löste der hohe Ölpreis zugleich eine schwere weltweite Rezession aus. In den USA stieg die Arbeitslosigkeit, die Anfang 1973 noch bei 4,8 Prozent gelegen hatte, bis 1975 auf über acht Prozent. Gegen das gleichzeitige Auftreten von Inflation und stagnierendem Wachstum, von Ökonomen »Stagflation(2)« getauft, vermochte die durch die Watergate-Krise(9) ohnehin gelähmte Nixon(64)-Administration nichts mehr auszurichten. Doch auch ihre Nachfolger fanden keinen Ausweg aus dem atemlosen Wettlauf gegen Inflation und Rezession. Die Stagflation wurde zum Albtraum der Dekade, der für die unteren Schichten der US-Bevölkerung soziale Härten und für die Mittelklasse spürbare Wohlstandseinbußen brachte. Zwischen 1972 und 1979 sanken die Reallöhne um sechs Prozent, und beim Bruttosozialprodukt pro Kopf fielen die USA im internationalen Vergleich vom ersten auf den elften Platz zurück.[24]

Auch wenn die materielle Lage der Amerikaner meilenweit vom Massenelend der Großen Depression entfernt war, kratzten Energiekrise und Stagflation(3) am amerikanischen Selbstbild. So wurde das Ölembargo auch als nationale Demütigung empfunden, denn die durch den Vietnamkrieg(64) ohnehin angeschlagene Supermacht USA hatte der »Erpressung« durch die »Ölscheichs« kurzfristig wenig entgegenzusetzen. Der Schah des Iran(1), Reza Pahlavi(1), der sich als enger Verbündeter der USA zwar nicht am Embargo beteiligte, aber kräftig von der Ölpreisexplosion profitierte, belehrte die US-Öffentlichkeit in einem Interview mit der New York Times(2) darüber, dass die Zeiten des billigen Öls vorbei seien und sie künftig den Gürtel enger schnallen und härter arbeiten müssten.[25] Aus dem Munde eines Potentaten, der seine Herrschaft amerikanischem Wohlwollen verdankte – die CIA hatte 1953 den nationalistischen iranischen Ministerpräsidenten Mohammed Mossadegh(1) gestürzt und Pahlavi(2) auf dem Pfauenthron gehalten –, klangen solche Worte ziemlich anmaßend. Doch ließ sich nicht verdrängen, dass magere Jahre heraufzogen. Das auf scheinbar unerschöpflichen Ressourcen und Wachstum basierende Gesellschaftsmodell der USA stieß abrupt an seine Grenzen. Historiker verweisen zudem darauf, dass vierzig Jahre New-Deal-Liberalismus(19) und keynesianische(6) Wachstumspolitik bei den US-Bürgern hohe Erwartungen an die Fähigkeit der Regierung zum wirtschaftspolitischen Krisenmanagement genährt hatten. Die offenkundige Ratlosigkeit der Nixon(65)-Administration und das Versagen dirigistischer Instrumente untergruben das Vertrauen in die Problemlösungskompetenz des Staates und bereiteten so der Botschaft den Boden, die Regierung sei das Problem und nicht die Lösung. Konservative behaupteten sogleich, zu strenge Umweltauflagen verschärften die Energiekrise.[26]

Für Richard Nixon(66), der im Laufe des Jahres 1973 wegen der Watergate-Enthüllungen(10) immer stärker unter Druck geraten war, schien die Ölkrise jedoch auch eine unverhoffte Chance zum Befreiungsschlag zu bieten. Der Präsident stellte die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen stets als politische Intrige dar, die ihn daran hinderte, sich seinen Amtspflichten zu widmen. Tatsächlich nannten bei Umfragen im September 1973 fast neunzig Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner die hohen Lebenshaltungskosten als das drängendste Problem des Landes. Nur 14 Prozent gaben der Watergate-Affäre Priorität, und mehr als die Hälfte lehnte Forderungen nach Amtsenthebung oder Rücktritt ab. Als Präsident, der in einer nationalen Notlage Führungsstärke bewies, so Nixons Kalkül, würde er wieder an Popularität gewinnen und Watergate niemanden mehr interessieren. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die Administration in der Embargokrise auf drastische staatliche Lenkungsmaßnahmen setzte, von denen hinterher selbst Nixons(67) Berater meinten, sie hätten mehr Schaden als Nutzen gestiftet. Ob Nixon mithilfe eines erfolgreichen Krisenmanagements hätte politisch überleben können, muss Spekulation bleiben. Der Präsident, der Ordnung versprochen hatte, bekam das wirtschaftliche Chaos nicht in den Griff.[27]

Ein »drittklassiger Einbruch«

Ohne die Watergate-Affäre(11) wäre Richard Nixon(68) vermutlich als ein Präsident in die US-Geschichte eingegangen, der während seiner ersten Amtszeit beachtliche innen- und außenpolitische Erfolge erzielen konnte, danach aber an den unbeherrschbaren Auswirkungen einer globalen Wirtschaftskrise scheiterte. Vielleicht würden ihm die Historiker, trotz »Südstaatenstrategie« und Bombenkrieg in Vietnam(65), sogar ein ehrliches Bemühen bescheinigen, das amerikanische Volk, wie versprochen, wieder zusammenzuführen. Am Ende seiner ersten Amtszeit jedenfalls war Nixon weithin populär. Bei seiner Wiederwahl im November 1972 erzielte er mit 60,7 Prozent der abgegebenen Stimmen und 520 Wahlmännern(7) aus 49 Bundesstaaten einen der glänzendsten Erfolge in der Geschichte der US-Präsidentschaftswahlen. Angesichts seiner außenpolitischen Erfolge, der guten Konjunktur und des scharfen Linksrucks der Demokraten ging der Amtsinhaber als klarer Favorit ins Rennen. Dass der Präsident(69) und seine engsten Mitarbeiter trotz bester Umfragewerte und eines sicheren Wahlsieges auf »schmutzige Tricks« zurückgriffen, mutet grotesk an, wie Nixon rückblickend selbst einräumte und dabei Talleyrands berühmten Aphorismus bemühte: »Watergate(12) war schlimmer als ein Verbrechen – es war eine Dummheit.« Aber warum beging ein so intelligenter und erfahrener Politiker eine derartige Dummheit, die seinen Ruin herbeiführte?[28]

Ein Teil der Antwort findet sich zweifellos in Nixons(70) Persönlichkeit, in der sich Misstrauen und Minderwertigkeitsgefühle zu der Obsession verbanden, immer und überall von »Feinden« umgeben zu sein. Die Politik, ja, das Leben sah er als Kampf gegen die liberalen Eliten und Medien, die sich vermeintlich gegen ihn verschworen hatten. Seine Mitarbeiter erstellten in seinem Auftrag »Feindlisten« mit den Namen von Hunderten Kritikern aus Politik, Medien, Wirtschaft und Kultur, gegen die bei passender Gelegenheit vorgegangen werden sollte. So ordnete er im September 1972 an, einem prominenten Rechtsanwalt, der unter anderem die Demokratische Partei und die Washington Post(1) vertrat, die Steuerfahndung ins Haus zu schicken. Nach der Wahl, so der Präsident, wolle er nicht in dessen Haut stecken: »Den machen wir fertig […] Wir erledigen den Hurensohn. Glaubt es mir. Wir müssen es tun, weil er ein übler Kerl ist […] Ich will umfassendes Material über alle, die versuchen, uns kaputt zu machen.« Nixon(71), der auf der internationalen Bühne unbefangen mit den kommunistischen Widersachern in Moskau und Peking verkehrte, war innenpolitisch von einem Freund-Feind-Denken besessen. Da er glaubte, dass seine Feinde vor keinem schmutzigen Trick zurückschreckten, schien jedes Mittel gerechtfertigt, um sich zu verteidigen: »Wir waren gottverdammte Idioten […] Sie sind die Gauner […] Das hört jetzt auf.«[29]

Diese Bunkermentalität, die sich bereits früh in seiner ersten Amtszeit im Weißen Haus verbreitete, spiegelte auch die politische und gesellschaftliche Polarisierung der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre wider. Dass er für viele seiner politischen Gegner ein mit Hingabe gepflegtes Feindbild abgab, entsprang nicht Nixons(72) Paranoia. Für die Radikalen wurde er zur Hassfigur, die ihn wegen seiner Vietnampolitik mit Hitler verglichen und als »moralisches Monster« titulierten. Wenn es gegen Nixon ging, gab es kein Pardon. So nahm der 1971 gedrehte Underground-Film Tricia’s Wedding die Hochzeit von Nixons Tochter Patricia zur Folie für eine mit sexuellen Anzüglichkeiten gespickte Parodie, die den Präsidenten so erzürnte, dass er auf Rache sann. Bei öffentlichen Auftritten und Reden Nixons kam es regelmäßig zu Protestkundgebungen und Ausschreitungen. Gelegentlich suchte Nixon sogar den Dialog mit seinen Kritikern. Nach der Invasion von Kambodscha und dem »Kent-State-Massaker(6)« im Mai 1970 ließ sich der Präsident spontan zum Lincoln(7) Memorial in Washington fahren, wo studentische Kriegsgegner eine Mahnwache für ihre in Ohio getöteten Kommilitoninnen und Kommilitonen abhielten. Die zweistündige Diskussion verlief erstaunlich entspannt, und einige der Studenten baten Nixon(73) sogar um ein gemeinsames Foto, aber für einen echten Dialog fehlte gleichwohl die gemeinsame Basis.[30]

Ob Nixon(74) an einem solchen Dialog ernsthaft interessiert war, muss bezweifelt werden, denn zur selben Zeit entwickelte das Weiße Haus einen großangelegten Plan zur Infiltration und Überwachung der Antikriegsbewegung durch das FBI und die CIA, der allerdings am Widerstand von FBI-Chef J. Edgar Hoover(3) scheiterte, weniger aus rechtlichen Bedenken denn aus Sorge um die Unabhängigkeit der Bundespolizei. Unter dem Deckmantel der nationalen Sicherheit liefen ohnehin bereits umfangreiche Abhöraktionen gegen Kriegsgegner. Auch ohne Hoovers Kooperation ließ Nixon eine geheime Spezialeinheit aufbauen, »Klempner« genannt, weil sie u. a. die Aufgabe hatte, die »Lecks« gegenüber der Presse abzudichten. Sehr schnell entfalteten die Klempner, unter der operativen Leitung von zwei ehemaligen Agenten der CIA bzw. des FBI, E. Howard Hunt(1) und G. Gordon Liddy(1), eine Vielzahl illegaler verdeckter Aktivitäten. Dass »schmutzige Tricks« immer Teil der amerikanischen Politik gewesen waren, wie Nixon(75) später zu seiner Rechtfertigung behauptete, traf zu, aber ihr Ausmaß und die persönliche Verstrickung des Präsidenten erreichten nun eine neue Qualität. Was später als »Watergate-Komplex(13)« bezeichnet wurde, umfasste Einbrüche und Abhöraktionen, Schmutzkampagnen zur Diskreditierung politischer Gegner, Geldwäsche, illegale Wahlkampfspenden, Einschüchterungs- und Bestechungsversuche sowie Behinderung der Justiz, Meineide und den Missbrauch staatlicher Organe. Was der Präsident(76) jeweils konkret anordnete und wusste, konnte nie abschließend geklärt werden, doch durften seine Leute immer annehmen, in seinem Auftrag und mit seiner Billigung zu handeln.[31]

Erstmals zum Einsatz kamen die Klempner nach der Veröffentlichung der sogenannten Pentagon Papers im Juni 1971 durch die New York Times(3). Dabei handelte es sich um eine geheime Studie des Verteidigungsministeriums über die Ursprünge der amerikanischen Verstrickung in den Vietnamkrieg(66), die Verteidigungsminister Robert McNamara(5) 1967 in Auftrag gegeben hatte und die auf vielen Tausend Seiten belegte, dass die Kennedy(36)- und Johnson(64)-Administrationen fortgesetzt die Öffentlichkeit über das Ausmaß, den Charakter und die Ziele des Krieges belogen hatten. Daniel Ellsberg(1), ein Verteidigungsexperte, der selbst an der Studie mitgearbeitet hatte, später aber zum Kriegsgegner geworden war, hatte die Papiere der New York Times(4) zugänglich gemacht. Der Versuch der US-Regierung, die Veröffentlichung zu unterdrücken, scheiterte vor dem Obersten Gerichtshof(10). Obwohl die Pentagon Papers die Vorgängerregierungen belasteten, war Nixon(77) außer sich und verdächtigte Ellsberg, Mitglied einer Verschwörung gegen die nationale Sicherheit und den Präsidenten zu sein. Seine Glaubwürdigkeit sollte mit allen Mitteln erschüttert werden. Die Klempner brachen in die Praxis seines Psychiaters ein, fanden jedoch kein verwertbares Material. Damit war, so erinnerten sich Nixons Paladine später, die rote Linie überschritten.[32]

Die eigentliche Watergate-Affäre(14) nahm ihren Ausgang im Komitee zur Wiederwahl des Präsidenten (CREEP), aus dem eine verdeckte Kampagne gesteuert wurde, die Verwirrung und Streit bei den Demokraten stiften sollte. Das Ziel war, den Ruf aller als potenziell gefährlich eingeschätzten Präsidentschaftskandidaten, insbesondere den der Senatoren Edmund Muskie(1) und Henry Jackson(3), so zu beschädigen, dass sie ihre Kandidatur aufgaben oder in den Vorwahlen scheiterten. Vor diesem Hintergrund war man im Nixon-Lager mit der Nominierung George McGoverns(8) hochzufrieden. Um in Erfahrung zu bringen, ob die Demokraten eventuell belastendes Material über Nixons(78) illegale Wahlkampffinanzierung hatten, installierten die Klempner im Hauptquartier der Demokraten im Washingtoner Watergate-Hotel Abhörmikrofone, die allerdings nicht funktionierten. Beim Versuch, die »Wanzen« auszutauschen, wurden in der Nacht des 17. Juni 1972 fünf Einbrecher von einem Wachmann überrascht und anschließend verhaftet. Als Anführer identifizierte die Polizei den Ex-CIA-Mann James McCord(1), Sicherheitschef des CREEP, wenig später ermittelte das FBI Hunt(2) und Liddy(2) als Hintermänner.[33]

Dass der Präsident(79) die Aktion(15), die sein Pressesprecher als »drittklassigen Einbruch« abtat, angeordnet hatte oder vorab über sie informiert war, konnte nie belegt werden, er selbst hat dies immer bestritten. Allerdings beweisen später veröffentlichte Tonbänder, dass Nixon und sein Stabschef H. R. »Bob« Haldeman(1) wenige Tage nach dem Einbruch übereinkamen, die Verbindung der Einbrecher zum Weißen Haus zu vertuschen. Das Schweigen der Einbrecher sollte mit Geld und dem Versprechen auf rasche Begnadigung erkauft und das FBI von einer Untersuchung abgehalten werden, unter dem Vorwand, die nationale Sicherheit sei bedroht.[34] Die Bemühungen hatten zunächst Erfolg. Das öffentliche Interesse ebbte rasch wieder ab, und der Einbruch wurde kein Wahlkampfthema, obwohl die Washington Post(2) noch im Oktober mehrere Artikel veröffentlichte, die nahelegten, dass Justizminister John Mitchell(1) und Haldeman in die Affäre(16) verwickelt waren. Die beiden Post-Reporter Bob Woodward(1) und Carl Bernstein(1) deckten in der Folgezeit durch hartnäckige Recherchen und mithilfe eines anonymen Informanten – 2005 stellte sich heraus, dass es sich um FBI-Vizedirektor Mark Felt(1) handelte – immer mehr Details über den Einbruch, die Vertuschungsversuche und andere illegale Machenschaften der »Männer des Präsidenten(80)« auf.[35]

Auch der Kongress besann sich auf seine Kontrollfunktion. Im Februar 1973 begann ein Sonderausschuss des Senats mit Anhörungen zur Watergate-Affäre(17), die vom Fernsehen live übertragen wurden. Mit zunehmendem Druck bekam die Mauer des Schweigens Risse. Im Prozess gegen die Watergate-Einbrecher drohte Richter John Sirica(1) mit langen Haftstrafen, wenn diese nicht die ganze Wahrheit sagten. James McCord(2) gab daraufhin zu, unter Druck aus dem Weißen Haus einen Meineid geleistet zu haben. Auch John Dean(1), ein ehrgeiziger junger Mitarbeiter Nixons(81), der die Vertuschungsaktion koordinierte, fürchtete, zum Sündenbock gemacht zu werden, und kooperierte seit Anfang April mit der Staatsanwaltschaft. Der Präsident reagierte mit scharfem Machtinstinkt und entließ neben Dean auch seine beiden wichtigsten Berater Bob Haldeman(2) und John Ehrlichman(1), bekannt als die »deutschen Schäferhunde«, die Nixon stets als treue Vasallen gedient hatten, nun aber zur Belastung geworden waren. Außerdem veranlasste er die Einsetzung des Harvard-Juristen Archibald Cox(1) zum Sonderermittler, der die Watergate-Affäre(18) aufklären sollte. Der Versuch, sich als Saubermann darzustellen, scheiterte jedoch an Deans Aussagen vor dem Senatsausschuss, in denen dieser Nixon der Anstiftung und Mitwisserschaft bei der Vertuschungsaktion bezichtigte. Vorerst stand Deans(2) Wort gegen das des Präsidenten(82), doch dann enthüllte Nixons Bürochef Mitte Juli gegenüber den Ermittlern des Senats die Existenz der Abhöranlage im Oval Office. Es musste also Mitschnitte der Gespräche zwischen Nixon und seinen Mitarbeitern geben, die Antwort auf die entscheidende Frage geben konnten: »Was wusste der Präsident(83), und wann wusste er es?«[36]

Um die Herausgabe der Tonbänder entwickelte sich ein zäher Kampf zwischen Sonderermittler Cox(2) und dem Senat auf der einen Seite und dem Weißen Haus auf der anderen, das sich auf die Vertraulichkeit der Gespräche und ein angebliches »Privileg der Exekutive« gegenüber Justiz und Kongress berief. Am 20. Oktober 1973 kam es zum Eklat, als der Justizminister und sein Stellvertreter die von Nixon(84) geforderte Entlassung des Sonderermittlers(19) verweigerten und zurücktraten; erst der dritte Mann im Ministerium beugte sich Nixons Anweisung. Die als »Samstagabend-Massaker« apostrophierte Verzweiflungstat entfachte einen Sturm der Entrüstung. Nixon sah sich gezwungen, einen neuen Sonderermittler zu ernennen, der nicht weniger unbequem war als der geschasste Cox(3). Zudem begann der Justizausschuss des Repräsentantenhauses am 30. Oktober mit Beratungen über die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens. Bei dem in der US-Verfassung vorgesehenen Impeachment handelt es sich nicht um ein parlamentarisches Misstrauensvotum, sondern um eine formale Anklage wegen »Hochverrat, Bestechlichkeit oder anderer schwerer Verbrechen und Vergehen« (Art. II, Sect. 4). Das Repräsentantenhaus muss die Anklageerhebung mit Mehrheit beschließen, anschließend entscheidet der Senat mit Zweidrittelmehrheit darüber, ob der Präsident seines Amtes enthoben wird. Das bis dahin einzige Impeachment-Verfahren lag gut hundert Jahre zurück; 1868 hatte zur Verurteilung Präsident Andrew Johnsons(1) nur eine Stimme gefehlt.

Im Herbst 1973, als der Nahostkrieg und das Ölembargo die volle Aufmerksamkeit des Präsidenten(85) erfordert hätten, war die Nixon-Administration ein leckgeschlagenes Schiff. Im Oktober musste Vizepräsident Spiro Agnew(1), der als Nixons Mann fürs Grobe galt, wegen einer Bestechungsaffäre ohne Bezug zu Watergate(20) zurücktreten. Agnews Ablösung durch den integren Gerald Ford(2) aus Michigan, Fraktionschef der Republikaner im Repräsentantenhaus, schwächte die Skrupel vieler Abgeordneter, für eine Amtsenthebung Nixons(86) zu stimmen. Zudem wurden im Dezember Vorwürfe gegen Nixon wegen Steuerhinterziehung laut. Die Popularität des Präsidenten war im freien Fall. Zu Anfang seiner zweiten Amtszeit hatten noch 69 Prozent der Amerikaner erklärt, sie seien mit Nixons Amtsführung zufrieden, Ende 1973 waren es nur noch 29 Prozent. So eindringlich dieser den Amerikanern auch versicherte, ihr Präsident sei kein »Gauner«, die Forderung nach Herausgabe der Tonbänder wollte nicht verstummen. Im April 1974 trat das Weiße Haus die Flucht nach vorn an und veröffentlichte eine 1200 Seiten starke, aber gekürzte Abschrift. Die Ungereimtheiten und Widersprüche zu Nixons früheren Aussagen waren gleichwohl offenkundig, doch zeigte sich die Öffentlichkeit beinahe noch schockierter über den vulgären Umgangston ihres Staatsoberhauptes. Als der Oberste Gerichtshof(11) am 24. Juli 1974 schließlich die Herausgabe der Tonbänder anordnete, waren Nixons(87) Tage im Weißen Haus gezählt. Das Repräsentantenhaus beschloss die Anklage gegen den Präsidenten wegen Strafvereitelung im Amt, Falschaussagen, Bestechung von Zeugen und Missachtung des Kongresses.[37]

Der am 5. August veröffentlichte Mitschnitt einer Unterredung vom 23. Juni 1972 mit dem damaligen Stabschef Haldeman(3) belegte schließlich, dass der Präsident(88) persönlich die Vertuschungsaktion angeordnet hatte, obwohl Nixon darauf beharrte, das Dokument belaste ihn nur dem Anschein nach. Selbst für die letzten Getreuen war nun das Maß voll. Die republikanische Führung im Kongress ließ ihn wissen, die Zweidrittelmehrheit im Senat für eine Amtsenthebung sei so gut wie sicher. Am 8. August 1974 erklärte Richard Nixon in einer Fernsehansprache seinen Rücktritt, jedoch ohne Schuldeingeständnis und mit der Begründung, er habe seine politische Basis verloren. Einen Tag darauf verfolgten die Amerikaner gebannt vor ihren Fernsehschirmen, wie der scheidende Präsident die Arme hochreckte und die Finger zum Siegeszeichen spreizte, bevor er den Präsidenten-Hubschrauber bestieg. Die Geste des Triumphs, die in vielen Wahlkämpfen zu seinem Markenzeichen geworden war, wirkte in diesem Augenblick grotesk. Durch den einen Monat später ausgesprochenen Generalpardon für alle Straftaten, die er im Amt eventuell begangen hatte, wollte sein Nachfolger Gerald Ford(3) nicht nur Nixon, sondern auch der amerikanischen Nation die Qual eines langen Strafverfahrens ersparen. Die Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner hätte Nixon(89) allerdings gerne vor Gericht gesehen. Für den aufkeimenden Verdacht, die Begnadigung sei Teil eines Kuhhandels gewesen, mit dem Ford sich den Einzug ins Weiße Haus erkauft habe, gibt es jedoch keine Belege.[38]

Vor allem erboste die Öffentlichkeit, dass Nixon(90) ohne jedes Schuldanerkenntnis in den Genuss der Amnestie kam, während mehr als zwei Dutzend seiner Mitarbeiter wegen Watergate(21) zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Auch später räumte er lediglich politische Fehler ein, weil er seine Untergebenen habe gewähren lassen. Seine Feinde hätten einen gewöhnlichen schmutzigen Trick zur Staatsaffäre aufgebauscht, um ihn zu Fall zu bringen, er sei Opfer einer »politischen Vendetta« geworden. Auch wenn Nixon damit lediglich bei seinen treuesten Anhängern Glauben fand, überwog nach seinem Tod am 22. April 1994 der Respekt vor seinen außenpolitischen Leistungen die Schmach des erzwungenen Rücktritts. Der Verstorbene wurde mit einem Staatsbegräbnis geehrt; dass der amtierende Präsident Bill Clinton(3), der als junger Mann selbst gegen Nixon(91) demonstriert hatte, persönlich die Grabrede hielt, mochte gleichsam als zweite Begnadigung und Versöhnung der Generationen erscheinen.[39]

Doch der Schein trog. So unermüdlich der Ex-Präsident in den zwei Jahrzehnten nach seinem Rücktritt am Image des elder statesman arbeitete, das Bild des »dunklen Nixon(92)« blieb dominant. Anstatt die Nation zusammenzuführen, hatte er das Land in eine schwere Verfassungs- und Vertrauenskrise gestürzt. Seine kriminellen Machenschaften enthüllten vor aller Welt, wie korrupt, machthungrig, skrupellos und zynisch die Politik und die Regierenden offenkundig waren. Viele US-Bürgerinnen und Bürger reagierten ihrerseits mit Zynismus und Misstrauen gegenüber den politischen Eliten. Medien und Presse, die lange einen eher schonenden Umgang mit den führenden Repräsentanten des Staates und besonders mit dem Präsidenten(93) gepflegt hatten, setzten nun alles daran, möglichst viele Skandale und Affären aufzudecken. Carl Bernstein(2) und Bob Woodward(2) avancierten zu Helden des »investigativen Journalismus«, denen Scharen junger Reporter nacheiferten. Jedem tatsächlichen oder vermeintlichen Skandal wird seither das Suffix »gate« angehängt. Bis in die Gegenwart gilt Watergate(22) als Inbegriff für eine Kultur des Misstrauens und Generalverdachts gegen das »schmutzige Geschäft« der Politik.[40]

Dabei wäre auch eine andere Lesart denkbar gewesen. Hatte Watergate(23) nicht gezeigt, dass das System der Gewaltenteilung funktionierte? Eine freie Presse hatte den Skandal aufgedeckt, unabhängige Richter und der Kongress hatten sich den Anmaßungen des Präsidenten(94) entgegengestellt und sogar im Regierungsapparat hatten sich aufrechte Männer geweigert, Nixon willfährig zu dienen. »Unsere Verfassung funktioniert; in unserer großen Republik regieren das Gesetz und das Volk«, versicherte der neue Präsident Gerald Ford(4) bei seinem Amtsantritt. Dass das System wirklich funktioniert hatte, bezweifelten freilich schon viele Zeitgenossen. Zu offenkundig war, dass die Watergate-Affäre(24) nur durch eine Reihe von Zufällen ans Licht gekommen war und dass ohne die Tonbänder aus dem Weißen Haus Nixon kaum etwas zu beweisen gewesen wäre. Vor allem ließ sich nicht übersehen, dass die Tendenz zur »imperialen Präsidentschaft«, die der Historiker Arthur Schlesinger(5) in seinem gleichnamigen Buch von 1973 analysierte, lange vor Nixon(95) und Watergate eingesetzt hatte. Schlesinger sah die Triebfeder des präsidialen Machtzuwachses in der Weltmachtrolle Amerikas seit dem Zweiten Weltkrieg und vor allem in den Befugnissen des Präsidenten zum Einsatz militärischer Macht. Der Mythos vom mächtigsten Mann der Welt zeigte seine Kehrseite, und die Notwendigkeit zur Begrenzung und Kontrolle dieser Macht wurde überdeutlich. Schlesingers Befürchtung, die Institution der Präsidentschaft könne zu sehr geschwächt werden, erwies sich indessen als unbegründet. Watergate(25) unterbrach die imperiale Präsidentschaft allenfalls kurzfristig. Wie sich zeigen sollte, übte Nixons(96) vielzitiertes Diktum: »Wenn es der Präsident tut, ist es nicht illegal!« auch auf seine Nachfolger einen unwiderstehlichen Reiz aus.[41]